Urteil des BAG vom 03.06.2020

Anhörungsrüge - Rechtliches Gehör - Betriebliche Altersversorgung - Betriebsrentenanpassung - Überschussanteile

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 3. Juni 2020
Dritter Senat
- 3 AZR 255/20 (F) -
ECLI:DE:BAG:2020:030620.B.3AZR255.20F.0
I. Arbeitsgericht Bonn
Urteil vom 10. April 2018
- 6 Ca 2643/17 -
II. Landesarbeitsgericht Köln
Urteil vom 20. Februar 2019
- 5 Sa 399/18 -
III. Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 18. Februar 2020
- 3 AZR 137/19 -
Entscheidungsstichworte:
Anhörungsrüge - Rechtliches Gehör - Betriebliche Altersversorgung -
Betriebsrentenanpassung - Überschussanteile
ECLI:DE:BAG:2020:030620.B.3AZR255.20F.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
3 AZR 255/20 (F)
3 AZR 137/19
Bundesarbeitsgericht
BESCHLUSS
In Sachen
Beklagte, Berufungsbeklagte, Revisionsbeklagte und Rügeführerin,
pp.
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
hat der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
3. Juni 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Dr. Zwanziger, die Richter am Bundesarbeitsgericht Prof. Dr. Spinner und
Dr. Roloff sowie die ehrenamtlichen Richter Lohre und Mayer beschlossen:
Die Anhörungsrüge der Beklagten vom 12. Mai 2020 ge-
gen das Urteil des Senats vom 18. Februar 2020 - 3 AZR
137/19 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rügeverfahrens zu tra-
gen.
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3 AZR 255/20 (F)
ECLI:DE:BAG:2020:030620.B.3AZR255.20F.0
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Gründe
I.
Im Ausgangsverfahren
haben die Parteien darüber
gestritten, ob die Beklagte die Betriebsrente des Klägers nach § 16 BetrAVG
anzupassen hat. Die Beklagte hat vorgebracht, dem stehe § 16 Abs. 3 Nr. 2
BetrAVG entgegen. Ihre Versorgungszusage werde über den Beamtenversiche-
rungsverein des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes a.G. (nunmehr BVV
Versicherungsverein des Bankgewerbes a.G.; im Folgenden BVV), eine Pensi-
onskasse, durchgeführt und ab Rentenbeginn würden sämtliche auf den Ren-
tenbestand entfallenden Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leis-
tungen verwendet. Soweit für das Rügeverfahren erheblich hat der Senat in
Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen der Klage stattgegeben.
Der Senat hat darauf abgestellt, dass die Betriebsrente des Klägers
teilweise auf dem Tarif B des BVV beruhe. In § 34 Abs. 2 der Tarifbedingungen
zu diesem Tarif sei vorgesehen, dass die Überschüsse zur Erhöhung von Ster-
begeld verwendet würden. Da letzteres keine betriebliche Altersversorgung im
Sinne des Betriebsrentengesetzes darstelle, würden nicht die laufenden Be-
triebsrentenleistungen erhöht. Damit lägen zu diesem Punkt die Voraussetzun-
gen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG nicht vor.
Die Beklagte rügt insoweit eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtli-
ches Gehör. Das Problem des Sterbegelds sei in den Vorinstanzen nicht erör-
tert worden. Der Senat habe seine Prozessleitungspflicht verletzt, indem er auf
diese Rechtsfrage nicht hingewiesen habe. Sie hätte sonst vorgetragen, dass
der BVV von § 34 Abs. 2 der Tarifbedingungen nie Gebrauch gemacht habe.
Die Bestimmung werde auf der nächsten Mitgliederversammlung des BVV er-
satzlos gestrichen werden. Ebenso wie hinsichtlich der auf anderen Tarifen des
BVV beruhenden Rente habe die Sache deshalb zur weiteren Sachaufklärung
an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen werden müssen.
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II.
Damit kann die Beklagte nicht durchdringen. Eine entscheidungserheb-
liche Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör
liegt nicht vor.
1.
Der Senat war nicht gehalten, den von der Beklagten verlangten Hin-
weis zu erteilen.
a)
Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör
gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der
Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage
zu äußern. Dabei kann es in besonderen Fällen auch geboten sein, die Verfah-
rensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der
Entscheidung zugrunde legen will, damit sie bei Anwendung der von ihnen zu
verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welche Gesichtspunkte es
für die Entscheidung ankommen kann. Es kann im Ergebnis der Verhinderung
eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorheri-
gen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein ge-
wissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der
Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht. Das führt
auch die Beklagte zu Recht aus. Jedoch müssen Verfahrensbeteiligte, auch
wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, grundsätzlich alle ver-
tretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren
Vortrag darauf einstellen
b)
Bei Anwendung dieser Grundsätze bestand vorliegend keine Hinweis-
pflicht.
Das Ausgangsverfahren lag hinsichtlich des maßgeblichen Tarifs B
gleich wie der vom Senat bereits am 10. Dezember 2019 entschiedene Rechts-
streit - 3 AZR 122/18 -. Zu diesem Urteil ist bereits an diesem Tag - und damit
zehn Wochen vor der mündlichen Verhandlung im Ausgangsverfahren - eine
ausführliche Pressemitteilung veröffentlicht worden
. In dieser war das Problem des Sterbegelds aus-
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drücklich angesprochen
. Wie gewissenhafte und
kundige Prozessbevollmächtigte wissen, gibt das Bundesarbeitsgericht bei Ent-
scheidungen zu grundlegenden Rechtsfragen Pressemitteilungen heraus. Ein
gewissenhafter Prozessbevollmächtigter prüft, wenn er - wie hier die Prozess-
bevollmächtigten der Beklagten - ein Revisionsverfahren zur sog. Escapeklau-
sel führt, in dem es auf eine grundlegende Rechtsfrage ankommt, ob bereits
Entscheidungen des maßgeblichen Spruchkörpers vorliegen und dazu eine
Pressemitteilung veröffentlicht ist. Das gilt umso mehr, wenn Prozessbevoll-
mächtigte, wie diejenigen der Beklagten, ihre Sachkunde bereits öffentlich ge-
macht haben
,
insbesondere wenn
ihnen die betreffenden Aktenzeichen der beim Bundesarbeitsgericht anhängi-
gen Revisionsverfahren zu dieser Frage bekannt sind
.
2.
Im Übrigen wäre der Vortrag, den die Beklagte auf einen Hinweis nach
ihrem Vorbringen gehalten hätte, auch nicht entscheidungserheblich.
Der Senat hat bei seiner Entscheidung im Ausgangsverfahren
darauf abgestellt, dass die in § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG genannten
Voraussetzungen aufgrund vertraglicher oder gesetzlicher Regelung bei Eintritt
des Versorgungsfalls rechtlich feststehen, was im Übrigen auch bereits im vo-
rangegangenen, insoweit gleichgelagerten Rechtsstreit
entschieden wurde und auch der Pressemitteilung zu-
grunde lag. Maßgeblich war danach allein die Regelung in § 34 Abs. 2 des Ta-
rifs B, nicht die tatsächliche Praxis des BVV. Damit stand aufgrund der Bestim-
mung jedenfalls nicht rechtlich fest, dass Überschussanteile nicht teilweise für
Sterbegeld verwendet würden. Im Übrigen ist die Aufstockung des Sterbegelds
aus den Überschussanteilen, soweit die Voraussetzungen der Regelung vorlie-
gen, danach zwingend ausgestaltet. Unerheblich wäre auch ein Vortrag zur
Prognose der Beklagten gewesen, dass auf der nächsten Mitgliederversamm-
lung des BVV die Vorschrift aufgehoben würde. Diese Versammlung liegt in der
Zukunft und kann die Rechtslage bei Eintritt des Versorgungsfalls des Klägers
nicht mehr beeinflussen.
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3.
Es kommt deshalb nicht darauf an, dass der Senat keinen Hinweis auf
die Sterbegeldproblematik aktenkundig gemacht hat
.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Zwanziger
Spinner
Roloff
Lohre
Mayer
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