Urteil des BAG vom 08.12.2020

Betriebliche Altersversorgung - Nichtzulassungsbeschwerde - Verwirkung - Rügefrist

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 8. Dezember 2020
Dritter Senat
- 3 AZN 849/20 -
ECLI:DE:BAG:2020:081220.B.3AZN849.20.0
I. Arbeitsgericht München
Endurteil vom 28. November 2019
- 12 Ca 6893/19 -
II. Landesarbeitsgericht München
Urteil vom 6. August 2020
- 2 Sa 69/20 -
Entscheidungsstichworte:
Betriebliche Altersversorgung - Nichtzulassungsbeschwerde - Verwirkung
- Rügefrist
ECLI:DE:BAG:2020:081220.B.3AZN849.20.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
3 AZN 849/20
2 Sa 69/20
Landesarbeitsgericht
München
BESCHLUSS
In Sachen
Beklagte, Berufungsklägerin und Nichtzulassungsbeschwerdeführerin,
pp.
Kläger, Berufungsbeklagter und Nichtzulassungsbeschwerdegegner,
hat der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts am 8. Dezember 2020 beschlos-
sen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Mün-
chen vom 6. August 2020 - 2 Sa 69/20 - wird zurückgewie-
sen.
Die Beklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu
tragen.
Der Streitwert wird auf 190,44 Euro festgesetzt.
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Gründe
I.
Die ausschließlich auf die grundsätzliche Bedeutung einer entschei-
dungserheblichen Rechtsfrage gestützte Nichtzulassungsbeschwerde hat keinen
Erfolg. Sie betrifft schon keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung.
1.
Nach § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG kann eine
Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt werden, dass eine entscheidungs-
erhebliche Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat. Dies ist der Fall, wenn die
Entscheidung des Rechtsstreits von einer klärungsfähigen und klärungsbedürfti-
gen Rechtsfrage abhängt und die Klärung entweder von allgemeiner Bedeutung
für die Rechtsordnung ist oder wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Inte-
ressen zumindest eines größeren Teils der Allgemeinheit berührt
. Eine Rechtsfrage
ist eine Frage, die die Wirksamkeit, den Geltungsbereich, die Anwendbarkeit
oder den Inhalt einer Norm zum Gegenstand hat
.
2.
Die von der Beklagten konkret formulierte Frage:
„Kann eine Entscheidung hinsichtlich einer vertraglich zu-
gesagten Anpassung, die eine Ermessensentscheidung
des Versorgungsschuldners enthält, zeitlich im gesamten
Rahmen der nach § 18a S. 1 BetrAVG geltenden 30jähri-
gen Verjährungsfrist des Rentenstammrechts und damit
zeitlich länger als eine Entscheidung zur gesetzlichen An-
passung nach § 16 BetrAVG angegriffen werden?
“,
enthält auch bei rechtsschutzfreundlicher Auslegung keine Rechtsfrage. Sie hat
keinen die Wirksamkeit, den Geltungsbereich, die Anwendbarkeit oder den Inhalt
einer Norm betreffenden Gegenstand. Soweit sich die Beschwerde auf die Re-
gelungen in §§ 16, 18a BetrAVG bezieht, betrifft sie weder die Wirksamkeit noch
den Geltungsbereich, die Anwendbarkeit oder den Inhalt dieser Normen. Die Be-
klagte möchte in ihrer Frage ausdrücklich nur deren Wertungen oder ihr Gegen-
teil für eine allgemeine Verwirkung des Anpassungsrechts heranziehen. Die An-
wendung des § 18a Satz 1 BetrAVG wie des § 16 BetrAVG scheidet damit nach
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ihrer eigenen Begründung aus. Selbst eine sinngemäße Anwendung von § 16
BetrAVG entspräche nicht dem Vorgehen der Beklagten, die die vom Kläger be-
gehrte Anpassung seiner betrieblichen Versorgungsleistungen zum 1. Juli 2015
auch mit Wirkung für die Zukunft dauerhaft ausschließen möchte.
3.
Die Beklagte möchte eigentlich geklärt wissen, ob eine Verwirkung des
Rechts, eine Anpassung der betrieblichen Versorgungsleistungen geltend zu ma-
chen, aus § 242 BGB abgeleitet werden kann.
Macht die Beklagte daher eine Verwirkung eines Rechts zur Anpassung
der betrieblichen Versorgungsleistungen geltend, geht es ihr um die Anwen-
dung - also nicht um die Auslegung - des § 242 BGB in seiner Ausprägung der
Verwirkung eines Rechts. Die Verwirkung hängt allerdings von den Umständen
des Einzelfalls ab und erfordert sowohl ein Zeit- als auch ein Umstandsmoment.
Zu dem erforderlichen Zeitablauf müssen besondere, auf dem Verhalten des Be-
rechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichte-
ten rechtfertigen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr geltend machen.
Ob eine Verwirkung vorliegt, richtet sich letztlich nach den vom Tatrichter festzu-
stellenden und zu würdigenden Umständen des Einzelfalles, ohne dass insofern
auf Vermutungen zurückgegriffen werden kann. Die Bewertung des Tatrichters
kann in der Revisionsinstanz nur - und nur nach erfolgter Zulassung der Revi-
sion - daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer tragfähigen Tatsachengrund-
lage beruht, alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht gegen
Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder von einem falschen Wertungs-
maßstab ausgeht
. Hieraus lässt
sich keine Rechtsfrage ableiten.
Zu erwägen wäre allenfalls, die Ausgestaltung der Leitlinien des Zeit- und
Umstandsmoments der Verwirkung eines vertraglichen Anpassungsrechts als
„Rechtsfrage“ iRd. § 242 BGB anzuerkennen
. In diese Richtung sieht auch das Bundesverwaltungsgericht
zum Begriff der Verwirkung eine Nichtzulassungsbeschwerde als zulässig an,
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wenn ein über die allgemeinen Rechtssätze hinausgehender, weiterer grundsätz-
licher Klärungsbedarf zum Institut der Verwirkung besteht
.
Allerdings würde diese Annahme im vorliegenden Verfahren auch nicht
zu einer klärungsbedürftigen Rechtsfrage führen. Es besteht kein über die allge-
meinen Rechtssätze hinausgehender grundsätzlicher Klärungsbedarf zum Insti-
tut der Verwirkung. Der Beklagten geht es um die konkrete Verwirkung des
Rechts, eine unzutreffende Anpassungsentscheidung im Einzelfall zu rügen. Zu-
dem stellt sich in unterschiedlichen Versorgungswerken - selbst bei mit den dem
Beschwerdeverfahren ähnlichen vertraglichen Anpassungsregeln - die Frage der
Verwirkung stets neu und - anders etwa als bei der Verwirkung gesetzlich vorge-
sehener Rechte (etwa des Widerrufsrechts) - nicht in gleichförmiger Weise. Folg-
lich ließen sich allenfalls für ein Versorgungswerk Leitlinien aufstellen, die sich in
anderen Versorgungswerken erneut - aber anders - stellen könnten. Hierbei han-
delt es sich allerdings nicht um eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung
.
4.
Im Übrigen bedarf es keiner höchstrichterlichen Entscheidung zu einer
vom Revisionsgericht noch nicht entschiedenen Rechtsfrage, wenn die Rechts-
lage eindeutig ist
bzw.
sich die streitige Rechtsfrage ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten lässt
. Nach dem
Zweck des Revisionsverfahrens, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu
fördern, liegt dieser Ausnahmefall vor, wenn divergierende Entscheidungen der
Instanzgerichte zu der nämlichen Rechtsfrage nicht zu erwarten sind
.
Unterstellt, es handele sich bei der gestellten Frage um eine Rechtsfrage
iSd. § 72a ArbGG, so ist deren Beantwortung eindeutig. Auf eine vertraglich zu-
gesagte Anpassung in einem Versorgungswerk ist die Systematik des § 16
BetrAVG und das hierzu vom Senat entwickelte Fristenregime
nur dann anwendbar, wenn sich
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das maßgebliche Versorgungswerk und seine Ausführungsbestimmungen nach
Wortlaut und Inhalt an § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG anlehnt und zur Anpas-
sung entsprechende ausdrückliche Regelungen enthält, sodass die für die ge-
setzliche Anpassungspflicht geltenden Grundsätze insgesamt auf die Anpassun-
gen der Ruhegelder anwendbar sind
. Divergierende Entscheidungen der Instanzgerichte zu der nämlichen
Rechtsfrage sind demnach nicht zu erwarten. Das vom Senat aus § 16 BetrAVG
abgeleitete Fristenregime berücksichtigt - anders als das von der Beklagten an-
gedachte System -, dass der infolge einer unterlassenen Rüge nicht mehr im
Wege der nachträglichen Anpassung auszugleichende Kaufkraftverlust lediglich
vorübergehend entfällt. Im Rahmen von § 16 BetrAVG ist zu jedem neuen An-
passungsstichtag der Kaufkraftverlust jeweils vom Rentenbeginn bis zum Anpas-
sungsstichtag auszugleichen
, sofern die Anpassung nicht nach § 16 Abs. 4 BetrAVG zu Recht unterblie-
ben war. Dies hat zur Folge, dass es durch das § 16 BetrAVG entnommene Fris-
tenregime nur zu vorübergehenden Nachteilen für die Betriebsrentner kommt,
nicht jedoch zu einer dauerhaften Entwertung der laufenden Leistungen.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Streitwertfest-
setzung beruht auf § 63 Abs. 2 GKG. Dabei wurde der 36-fache Wert der im
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren noch streitigen künftigen Leistungen iHv.
5,29 Euro nach § 42 Abs. 1 GKG angesetzt.
Zwanziger
Spinner
Roloff
Metzner
Schüßler
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