Urteil des BAG vom 07.05.2020
Außerordentliche Kündigung - Unterrichtung des Betriebsrats
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 7. Mai 2020
Zweiter Senat
- 2 AZR 678/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:070520.U.2AZR678.19.0
I. Arbeitsgericht Dortmund
Urteil vom 22. Januar 2019
- 5 Ca 955/18 -
II. Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil vom 24. Juli 2019
- 4 Sa 143/19 -
Entscheidungsstichworte:
Außerordentliche Kündigung - Unterrichtung des Betriebsrats
Leitsatz:
Die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gehört
nicht zu den „Gründen für die Kündigung“ iSv. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG,
über die der Arbeitgeber den Betriebsrat unterrichten muss.
ECLI:DE:BAG:2020:070520.U.2AZR678.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZR 678/19
4 Sa 143/19
Landesarbeitsgericht
Hamm
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
7. Mai 2020
URTEIL
Radtke, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
7. Mai 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Dr. Koch, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Rachor, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Dr. Niemann sowie den ehrenamtlichen Richter Krüger
und die ehrenamtliche Richterin Schipp für Recht erkannt:
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2 AZR 678/19
ECLI:DE:BAG:2020:070520.U.2AZR678.19.0
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1. Auf die Revision der Beklagten wird - unter Verwerfung
der Revision als unzulässig im Übrigen - das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Hamm vom 24. Juli 2019 - 4 Sa
143/19 - aufgehoben, soweit darin die nicht das qualifi-
zierte Zwischenzeugnis betreffende Berufung der Be-
klagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund
vom 22. Januar 2019 - 5 Ca 955/18 - zurückgewiesen
worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen
Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten
des Revisionsverfahrens - an das Landesarbeitsgericht
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten vorrangig über die Wirksamkeit einer außeror-
dentlichen fristlosen Kündigung.
Der Kläger war bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängerinnen seit
1982 als Konstruktionsingenieur beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag nimmt Bezug
auf die jeweils für den Betrieb geltenden Tarifverträge für die Angestellten der
Metallindustrie.
Der Personalleiter der Beklagten hörte den Betriebsrat mit Schreiben
vom 2. März 2018 zur beabsichtigten außerordentlichen fristlosen, hilfsweise
ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger an. Das Gre-
mium stimmte beiden Kündigungen am 5. März 2018 zu.
Mit Schreiben vom 7. März 2018, dem Kläger zugegangen am 8. März
2018, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich
fristlos, hilfsweise ordentlich zum 31. Oktober 2018.
Die Beklagte hörte mit Schreiben vom 19. März 2018 den Betriebsrat
ergänzend an.
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Der Kläger hat rechtzeitig die vorliegende Klage erhoben. Es bestehe
kein Kündigungsgrund. Die Beklagte habe die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht
gewahrt und den Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört. Eine ordentliche
Kündigung sei ausgeschlossen gewesen.
Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren noch von Interesse -
sinngemäß beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien
nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung
der Beklagten vom 7. März 2018 aufgelöst worden
ist;
2.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien
auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Be-
klagten vom 7. März 2018 aufgelöst worden ist;
3.
im Fall des Obsiegens mit den Anträgen zu 1. und 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräfti-
gen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu
unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als
Konstruktionsingenieur im Fachgebiet E in dem Ge-
schäftsbereich „B“ weiterzubeschäftigen;
4.
die Beklagte zu verurteilen, ihm ein Zwischenzeugnis
zu erteilen, das sich auf Führung und Leistung er-
streckt;
5.
hilfsweise für den Fall, dass den Anträgen zu 1. bis
4. nicht stattgegeben wird, die Beklagte zu verurtei-
len, ihm ein endgültiges Zeugnis zu erteilen, das sich
auf Führung und Leistung erstreckt;
6.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn für März 2018
5.335,47 Euro brutto, für April 2018 7.066,64 Euro
brutto, für Mai 2018 1.228,99 Euro brutto, als tarifli-
che Sonderzahlung 2018 3.886,65 Euro brutto und
als zusätzliche tarifliche Urlaubsvergütung 2018
4.135,11 Euro brutto jeweils nebst Zinsen in Höhe
von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
nach im Einzelnen bezeichneter Staffelung zu zah-
len.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der Revision ver-
folgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
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Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist teilweise unzulässig. Im Umfang ihrer
Zulässigkeit ist sie begründet.
A.
Die Revision ist hinsichtlich des Antrags auf Erteilung eines Zwischen-
zeugnisses unzulässig. Diesbezüglich fehlt es an der erforderlichen eigenstän-
digen Revisionsbegründung
. Entgegen der
Annahme der Beklagten hängt der Erfolg dieses Antrags nach der insofern
maßgeblichen Argumentationslinie des Landesarbeitsgerichts nicht von der
Unwirksamkeit der Kündigungen ab. Das Berufungsgericht hat vielmehr - im
Anschluss an das Arbeitsgericht - angenommen, nach Ausspruch einer arbeit-
geberseitigen Kündigung könne der Arbeitnehmer
von deren Wirk-
samkeit ein Zwischenzeugnis beanspruchen.
B.
Die weitergehende Revision der Beklagten hat Erfolg. Mit der gegebe-
nen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht ihre Berufung gegen das der
Klage betreffend die außerordentliche fristlose Kündigung vom 7. März 2018
stattgebende erstinstanzliche Urteil nicht zurückweisen. Ob diese Kündigung
wirksam ist, kann der Senat nicht selbst abschließend entscheiden. Dies führt
zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und Zurückver-
weisung der Sache an das Berufungsgericht
auch in
Bezug auf den Antrag gegen die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung, den
Weiterbeschäftigungsantrag, den Antrag auf Erteilung eines Endzeugnisses
und die Zahlungsanträge, soweit das Landesarbeitsgericht diesen entsprochen
hat.
I.
Die vom Berufungsgericht für die Unwirksamkeit der außerordentlichen
fristlosen Kündigung gegebene Begründung hält einer revisionsrechtlichen
Überprüfung nicht stand. Die Kündigung ist nach den vom Berufungsgericht
getroffenen Feststellungen nicht gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirk-
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sam. Die Beklagte musste den Betriebsrat weder über einen Sonderkündi-
gungsschutz unterrichten noch weitere Ausführungen zur Wahrung der Kündi-
gungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB machen.
1.
Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündi-
gung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzutei-
len
. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausge-
sprochene Kündigung ist gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam.
2.
Die Mitteilungspflicht des Arbeitgebers im Rahmen von § 102 Abs. 1
Satz 2 BetrVG reicht nicht so weit wie seine Darlegungslast im Prozess
. Der notwendige Inhalt
der Unterrichtung gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG richtet sich vielmehr nach
Sinn und Zweck des Beteiligungsrechts. Dieser besteht darin, den Betriebsrat
durch die Unterrichtung in die Lage zu versetzen, sachgerecht, dh. ggf. zuguns-
ten des Arbeitnehmers auf den Arbeitgeber einzuwirken. Der Betriebsrat soll die
Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe beurteilen und sich
über sie eine eigene Meinung bilden können. Die Anhörung soll dem Betriebsrat
nicht die selbständige - objektive - Überprüfung der rechtlichen Wirksamkeit der
beabsichtigten Kündigung ermöglichen
.
3.
Danach musste die Beklagte den Betriebsrat im Hinblick auf die vorran-
gig beabsichtigte außerordentliche fristlose Kündigung nicht darüber unterrich-
ten, dass der Kläger - möglicherweise - einen besonderen Kündigungsschutz
genoss. Ungeachtet der Frage, ob ein solcher überhaupt
zu den „Gründen für
die Kündigung“ iSv. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gehören kann, muss ein Ar-
beitgeber, der außerordentlich
kündigen möchte, dem Betriebsrat jeden-
falls nicht mitteilen, dass dem Arbeitnehmer ein Sonderkündigungsschutz zu-
kommt, der - wie § 20 Nr. 4 und Nr. 5 des Einheitlichen Manteltarifvertrags für
die Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-Westfalen vom 18. Dezember
2003 (EMTV) - zwar eine ordentliche Kündigung weitgehend ausschließt, die
Möglichkeit einer „fristlosen“ Kündigung aber ausdrücklich „unberührt“ lässt.
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Dem Betriebsrat werden insoweit keine Einwände abgeschnitten. Er kann der
Absicht einer außerordentlichen fristlosen Kündigung in beiden Fällen (ordentli-
che Kündbarkeit und ordentliche Unkündbarkeit) gleichermaßen entgegenset-
zen, dem Arbeitgeber sei es zuzumuten, die ordentliche Kündigungsfrist einzu-
halten
. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Kündigungsfrist
„real“ (ordentliche
Kündbarkeit) oder „fiktiv“ (ordentliche Unkündbarkeit) ist. Neben der Sache liegt
der Einwand des Klägers, der Betriebsrat müsse von einem tariflichen Sonder-
kündigungsschutz wissen, um beurteilen zu können, ob ein förmlicher Wider-
spruch nach § 102 Abs. 3 BetrVG in Betracht komme. Diese Möglichkeit ist ihm
in Bezug auf eine beabsichtigte außerordentliche
Kündigung - nicht
eine solche mit notwendiger Auslauffrist - in jedem Fall verschlossen.
4.
Die Anhörung des Betriebsrats war auch nicht im Hinblick auf die Kün-
digungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB fehlerhaft. Die Wahrung der Aus-
schlussfrist gehört nicht zu den „Gründen für die Kündigung“ iSv. § 102 Abs. 1
Satz 2 BetrVG. Deshalb muss der Arbeitgeber hierzu keine gesonderten Aus-
führungen machen. Ein solches Erfordernis überdehnte die Zwecke des Anhö-
rungsverfahrens. Es liefe darauf hinaus, dem Gremium die - objektive - Über-
prüfung der Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung zu ermöglichen
. Das bedeutet allerdings zum einen nicht, dass der Arbeitgeber nicht
angeben müsste, wann der Kündigungssachverhalt sich zugetragen hat. Nur so
wird es dem Betriebsrat ermöglicht, die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der
Kündigungsgründe zu beurteilen und sich über sie eine eigene Meinung zu bil-
den. Zum anderen dürfen dem Betriebsrat mögliche - durch das Gesetz nicht
inhaltlich begrenzte - Einwände gegen die beabsichtigte Kündigung nicht
- gezielt - abgeschnitten werden. Das gilt auch für den möglichen Einwand, eine
außerordentliche Kündigung sei aus Sicht des Gremiums verfristet. Soweit der
Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat (freiwillig) Angaben macht, die für die
Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB von Bedeutung sind, müssen diese
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wahrheitsgemäß erfolgen
.
Diesen Anforderungen werden die Anhörungsschreiben vorliegend gerecht. Sie
enthalten die erforderlichen Angaben darüber, zu welchem Zeitpunkt sich der
Kündigungssachverhalt ereignet haben soll.
II.
Die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der außerordentlichen frist-
losen Kündigung stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar
.
1.
Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht gemeint, die Berufung der Be-
klagten sei, soweit sie Gegenstand einer zulässigen Revision ist
, aus-
reichend begründet worden. Der Kläger erhebt insofern auch keine Einwände
mehr.
2.
Die weiteren Angriffe des Klägers gegen die Betriebsratsanhörung ge-
hen fehl.
a)
Die Anhörung des Gremiums durch ihren Personalleiter war der Beklag-
ten zuzurechnen
.
b)
Das Berufungsgericht hat das Anhörungsschreiben ohne revisiblen
Rechtsfehler dahin ausgelegt, der Betriebsrat sei von der Absicht der Beklagten
unterrichtet worden, die Kündigungen (auch) als Verdachtskündigungen zu er-
klären. Im Übrigen wäre andernfalls die außerordentliche Kündigung nicht nach
§ 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Vielmehr könnte die Beklagte sie dann
im vorliegenden Rechtsstreit nicht (auch) auf den dringenden Verdacht einer
Pflichtverletzung stützen
.
c)
Sonstige inhaltliche Mängel in der Betriebsratsanhörung sind weder
aufgezeigt noch ersichtlich. Der Kläger beanstandet durchweg nur Passagen, in
denen die Beklagte aus einer objektiv zutreffenden, als solche nicht unzulässig
„angereicherten“ Sachverhaltsschilderung für das Gremium erkennbar tatsäch-
liche bzw. rechtliche Schlussfolgerungen gezogen hat. Das durfte sie. Ob sich
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diese Annahmen in tatsächlicher
oder rechtlicher
Hinsicht als zutreffend erweisen, ist
keine Frage der Ordnungsgemäßheit des Anhörungsverfahrens, sondern eine
solche der richterlichen Bewertung im Kündigungsschutzprozess.
d)
Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war das Anhö-
rungsverfahren vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung abgeschlos-
sen.
3.
Das Vorbringen der Beklagten lässt es als mindestens möglich erschei-
nen, dass die außerordentliche fristlose Kündigung aufgrund einer schweren
Pflichtverletzung des Klägers als Tat- oder doch aufgrund des dringenden Ver-
dachts einer solchen als Verdachtskündigung durch einen wichtigen Grund iSv.
§ 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt war und innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2
BGB zugegangen ist.
III.
Danach ist das Berufungsurteil aufzuheben. Der Senat kann aufgrund
der fehlenden Feststellungen über den teilweise streitig gebliebenen Sachver-
halt nicht selbst über die Wirksamkeit der außerordentlichen fristlosen Kündi-
gung vom 7. März 2018 entscheiden
.
IV.
Die Zurückverweisung umfasst neben dem Antrag gegen die außeror-
dentliche fristlose Kündigung denjenigen gegen die ordentliche Kündigung, den
Weiterbeschäftigungsantrag, den Antrag auf Erteilung eines qualifizierten End-
zeugnisses und die Zahlungsanträge, soweit das Landesarbeitsgericht ihnen
stattgegeben hat.
V.
Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sieht sich der Senat zu fol-
genden weiteren Hinweisen veranlasst:
1.
Die Beklagte stützt die außerordentliche fristlose Kündigung auf zwei
Vorwürfe, die jeder für sich einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB abge-
ben könnten. Zum einen lastet sie dem Kläger an, zu ihrem Nachteil oder doch
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gegen ihren Willen die Firma P. beauftragt zu haben. Zum anderen geht sie
davon aus, der Kläger habe pflichtwidrig seinen Dienstlaptop nebst Benutzer-
name und Passwort einem Dritten - mutmaßlich Herrn K. - zum Zwecke von
Zugriffen auf ihren Firmenserver überlassen.
2.
Es spricht vieles dafür, dass die Beklagte bezogen auf den ersten, ihr
bei Zugang der außerordentlichen fristlosen Kündigung bekannten Grund (Be-
auftragung der Firma P.) die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt hat.
Insofern wird das Landesarbeitsgericht ua. zu beachten haben, dass das Anlau-
fen der Kündigungserklärungsfrist stets voraussetzt, dass dem Kündigungsbe-
rechtigten die Tatsachen bereits im Wesentlichen bekannt und nur noch zusätz-
liche Ermittlungen erforderlich sind oder doch erscheinen dürfen, wie etwa die
Anhörung des Betroffenen bei einer Verdachtskündigung oder die Ermittlung
von gegen eine Kündigung sprechenden Tatsachen. Hingegen besteht keine
Obliegenheit des Arbeitgebers, ohne eine solche Tatsachenkenntnis den Ar-
beitnehmer belastende Tatsachen zu ermitteln, die einen wichtigen Grund zur
außerordentlichen Kündigung begründen, den Sachverhalt also erst in diesen
Bereich heben
.
Jedenfalls dürfte die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB in Bezug auf den
nachgeschobenen Kündigungsgrund (Weitergabe des Laptops) gewahrt sein.
3.
Der Kläger hat - soweit ersichtlich - nicht bestritten, seinen Laptop an
Herrn K. weitergegeben zu haben, sondern lediglich vorgetragen, ein anderer
Sachverhalt sei denkbar. Damit hätte er es entgegen § 138 Abs. 1 und Abs. 2
ZPO unterlassen, den tatsächlichen, aus seiner Sicht wahrhaftigen Gesche-
hensablauf darzustellen
,
was zur Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO führte. Nur
für den Fall einer nicht auszuschließenden Ergänzung des klägerischen Vor-
bringens weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass für eine auf diesen Vor-
wurf gestützte Tatkündigung ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an
Gewissheit erforderlich, aber auch ausreichend wäre, der Zweifeln Schweigen
gebietet, ohne sie völlig ausschließen zu müssen. Das Nichterreichen eines
hinreichenden Grads an Gewissheit, dass der Kläger den Laptop einem Dritten
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zum Zwecke von Zugriffen auf den Server der Beklagten überlassen habe,
könnte daher nicht allein darauf gestützt werden, es seien andere Erklärungen
„theoretisch denkbar“
.
4.
Der auf die Interessenabwägung bezogene Einwand des Klägers, seine
Ingenieurskollegen seien nicht einmal abgemahnt worden, verfängt nicht. Eine
Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes scheidet bei
einer Tat- oder Verdachtskündigung weitgehend aus
. Vorliegend sind die Sachverhalte nicht einmal annä-
hernd v
ergleichbar. Unstreitig war der Kläger die „treibende Kraft“ hinter der
„Werkvertragslösung“. Herr P. war dessen Schwiegersohn in spe. Zudem wird
nur dem Kläger vorgeworfen, seinen Dienstlaptop einem Dritten überlassen zu
haben.
5.
Mit der vom Kläger sel
bst vorgetragenen Äußerung „Davon will ich
nichts wissen“ dürfte der Abteilungsleiter unmissverständlich zum Ausdruck ge-
bracht haben, dass nach seiner Einschätzung eine „Werkvertragslösung“ betref-
fend Herrn K. nicht dem Willen
entsprach. Sollte der Ab-
teilungsleiter zugleich - wenigstens aus Sicht des Klägers - zum Ausdruck ge-
bracht haben,
billige diese Lösung, wolle sich aber nicht aktiv an ihr beteili-
gen, könnte dies den Kläger nicht entlasten. Im Gegenteil: Eine solche kollusive
„Absprache“ hätte das Gewicht der Pflichtverletzung noch verstärkt, weil der
gegenüber der Beklagten begangene Vertrauensmissbrauch angesichts eines
„wegschauenden“ Vorgesetzten vergleichsweise sicher vor Entdeckung hätte
umgesetzt werden können
.
6.
Angesichts der Schwere der Vorwürfe spricht nichts dafür, dass das
Landesarbeitsgericht annehmen könnte, es komme zwar keine außerordentli-
che fristlose, wohl aber eine ordentliche oder eine außerordentliche Kündigung
mit notwendiger Auslauffrist in Betracht. Deshalb kann zum einen dahinstehen,
ob - wofür indes vieles spricht - die Annahme des Berufungsgerichts zutrifft, der
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Kläger habe aufgrund vertraglicher Inbezugnahme Sonderkündigungsschutz
nach § 20 Nr. 4 EMTV genossen. Zum anderen bedarf keiner Entscheidung, ob
ggf. die außerordentliche fristlose Kündigung nach § 140 BGB in eine solche
mit notwendiger Auslauffrist umgedeutet werden könnte, weil der Betriebsrat
sowohl der außerordentlichen fristlosen als auch der ordentlichen Kündigung
vorbehaltlos zugestimmt hat, und wie es sich in diesem Zusammenhang aus-
wirkt, dass das Gremium die nachgeschobenen Ausführungen
lediglich „zur
Kenntnis genommen“ hat.
Koch
Rachor
Niemann
Krüger
B. Schipp