Urteil des BAG vom 30.07.2020

Verhaltensbedingte Kündigung - Nachträgliche Klagezulassung

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 30. Juli 2020
Zweiter Senat
- 2 AZR 43/20 -
ECLI:DE:BAG:2020:300720.U.2AZR43.20.0
I. Arbeitsgericht
Berlin
Urteil vom 5. Dezember 2018
- 56 Ca 4481/18 -
II. Landesarbeitsgericht
Berlin-Brandenburg
Urteil vom 7. November 2019
- 5 Sa 134/19 -
Entscheidungsstichworte:
Verhaltensbedingte Kündigung - Nachträgliche Klagezulassung
Leitsatz:
§ 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG findet keine Anwendung, wenn das Versäumen
der Frist der Sphäre des Gerichts und nicht derjenigen des Antragstellers
zuzurechnen ist und der Prozessgegner kein schutzwürdiges Vertrauen auf
den Eintritt der Rechtssicherheit haben konnte.
ECLI:DE:BAG:2020:300720.U.2AZR43.20.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZR 43/20
5 Sa 134/19
Landesarbeitsgericht
Berlin-Brandenburg
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
30. Juli 2020
URTEIL
Radtke, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Klägerin, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
30. Juli 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Dr. Koch, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Rachor, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Dr. Schlünder sowie den ehrenamtlichen Richter Söller und
die ehrenamtliche Richterin Alex für Recht erkannt:
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2 AZR 43/20
ECLI:DE:BAG:2020:300720.U.2AZR43.20.0
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Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. November 2019
- 5 Sa 134/19 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung
und die nachträgliche Zulassung der Klage.
Die Klägerin war bei der Beklagten als Callcenteragentin beschäftigt. Im
Zeitraum vom 3. August 2017 bis 23. November 2017 richtete sie 30 E-Mails an
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beklagten. Wegen des Inhalts einiger von
ihnen mahnte die Beklagte sie mit Schreiben vom 23. November 2017 ab. Die
E-Mails hätten falsche Unterstellungen oder Hinweise mit Anweisungscharakter
enthalten bzw. die Privatangelegenheit einer Kollegin betroffen. In der Zeit vom
2. Januar 2018 bis 6. Februar 2018 richtete die Klägerin an ihre Gruppenleiterin,
eine Referentin und eine weitere Mitarbeiterin insgesamt 33 E-Mails.
Nach Anhörung des Personalrats kündigte die Beklagte das Arbeitsver-
hältnis der Parteien mit Schreiben vom 15. März 2018, das der Klägerin am sel-
ben Tag zuging,
„zum 30.06.2018, hilfsweise zum nächstmöglichen Termin“.
Dagegen hat sich die Klägerin mit einer am 21. März 2018 über das
Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des Arbeitsgerichts
eingereichten Klage gewandt. Die angefügte qualifizierte elektronische Signatur
(qeS) ihres damaligen Prozessbevollmächtigten bezog sich auf einen elektroni-
schen Nachrichtencontainer (sog. Container-Signatur) und nicht auf das PDF-
Dokument der Klageschrift. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Kündi-
gung sei ua. deshalb rechtsunwirksam, weil sie sozial ungerechtfertigt sei.
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Die Klägerin hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse -
beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht
durch die Kündigung vom 15. März 2018 beendet wurde.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht
hat die Parteien am 1. August 2019 darauf hingewiesen, dass die Signatur nur
an dem Nachrichtencontainer angebracht war. Auf Antrag der Klägerin vom
15. August 2019 hat es die Berufung der Beklagten unter nachträglicher Zulas-
sung der Klage zurückgewiesen. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte weiter-
hin, die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht
hat ihre Berufung gegen das der Klage stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts
zu Recht zurückgewiesen.
I.
Die Klage ist nicht mangels ordnungsgemäßer Klageerhebung unzuläs-
sig.
1.
Die Klageschrift bedarf als bestimmender Schriftsatz der Schriftform,
§ 253 ZPO. Auf sie sind gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG iVm. §§ 495, 253 ZPO
die allgemeinen Vorschriften über vorbereitende Schriftsätze
an-
zuwenden. Mängel der Klageerhebung sind auch im Revisionsverfahren von
Amts wegen zu berücksichtigen
.
a)
Gemäß § 46c Abs. 1 ArbGG in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden
Fassung können vorbereitende Schriftsätze und schriftlich einzureichende An-
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träge nach Maßgabe von § 46c Abs. 2 bis Abs. 6 ArbGG als elektronisches Do-
kument beim Arbeitsgericht eingereicht werden. Sie müssen gemäß § 46c Abs. 3
ArbGG entweder mit einer qeS der verantwortenden Person versehen sein oder
von der verantwortenden Person - einfach - signiert und auf einem sicheren
Übermittlungsweg eingereicht werden. Die sicheren Übermittlungswege be-
stimmt § 46c Abs. 4 ArbGG. Demgemäß gestattet § 4 Abs. 1 der aufgrund von
§ 46c Abs. 2 Satz 2 ArbGG erlassenen und zum 1. Januar 2018 in Kraft getrete-
nen Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen
Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach vom
24. November 2017
die Übermittlung eines elektro-
nischen Dokuments, das mit einer qeS der verantwortenden Person versehen ist,
sowohl auf einem sicheren Übermittlungsweg
als auch
an ein für den Empfang elektronischer Dokumente eingerichtetes EGVP
.
b)
Nach § 4 Abs. 2 ERVV dürfen mehrere elektronische Dokumente nicht
mit einer gemeinsamen qeS übermittelt werden. Die qeS darf aus diesem Grund
nicht nur am Nachrichtencontainer angebracht sein. Durch die Einschränkung
soll verhindert werden, dass nach der Trennung eines elektronischen Dokuments
vom Nachrichtencontainer die Container-Signatur nicht mehr überprüft werden
kann
.
Dies gilt auch dann, wenn dem Gericht lediglich ein einziges Dokument übermit-
telt wird
.
2.
Die am 21. März 2018 beim Arbeitsgericht eingereichte Kündigungs-
schutzklage hat diesen Vorgaben nicht genügt. Die Klage ist als elektronisches
Dokument nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg iSd. § 4 Abs. 1 Nr. 1
ERVV iVm. § 46c Abs. 4 ArbGG übermittelt worden. Die Klageschrift war auch
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nicht mit einer ordnungsgemäß angebrachten qeS versehen. Es lag lediglich eine
Container-Signatur vor.
3.
Der Formmangel der fehlerhaften Signatur ist nicht rückwirkend geheilt
worden.
a)
Die Eingangsfiktion des § 46c Abs. 6 Satz 2 ArbGG findet keine Anwen-
dung. Die Bestimmung betrifft nicht die Art und Weise der Übermittlung eines
elektronischen Dokuments, sondern Fälle von Formatfehlern, aufgrund derer ein
elektronisches Dokument nicht zur Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist
. Solche Fehler sollen nach der Vorstellung des
Gesetzgebers nicht zum Rechtsverlust einer Partei führen, um ihr den „Zugang
zu den Gerichten durch Anforderungen des formellen Rechts, wie etwa Format-
vorgaben, nicht in unverhältnismäßiger Weise“ zu erschweren
. Wird ein elektronisches Dokument unter Verstoß gegen § 46c Abs. 3
Alt. 1 ArbGG an das Gericht übermittelt, liegt hingegen kein bloßer Formatfehler
vor. Das elektronische Dokument geht in diesem Fall schon nicht formwirksam
bei Gericht ein
.
b)
Der Fehler in der Übermittlungsform ist nicht gemäß § 295 Abs. 1 ZPO
geheilt worden. Es kann dahinstehen, ob bei rügeloser Einlassung eine Heilung
hätte eintreten können
. Die Beklagte
hat erstmals in der mündlichen Verhandlung am 1. August 2019 Kenntnis davon
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erhalten, dass die Klageschrift unter Verwendung einer Container-Signatur ein-
gereicht worden war. Sie hat den darin liegenden Verfahrensfehler daraufhin un-
mittelbar gerügt.
4.
Der Mangel ist jedoch spätestens mit dem Antrag auf nachträgliche Kla-
gezulassung vom 15. August 2019 - ex nunc - behoben worden.
a)
Bei fehlerhafter elektronischer Übermittlung besteht ebenso wie bei feh-
lender oder fehlerhafter Unterzeichnung einer Klageschrift grundsätzlich die
Möglichkeit, den Mangel durch Nachholung - für die Zukunft - zu beheben
. Die qeS substitu-
iert die technisch nicht mögliche Unterzeichnung des elektronisch eingereichten
Dokuments
. Sie soll wie
die eigenhändige Unterschrift die Identifizierung des Urhebers der Prozesshand-
lung ermöglichen und dessen unbedingten Willen zum Ausdruck bringen, die
volle Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen und diesen
bei Gericht einzureichen
. Wie bei der fehlenden Unterschrift wird der
Mangel - mit Wirkung für die Zukunft - behoben, wenn sich auf andere, jeden
vernünftigen Zweifel ausschließende Weise feststellen lässt, dass der fehlerhaft
signierte Schriftsatz nicht etwa ein Entwurf war, sondern vom Prozessbevoll-
mächtigten der einreichenden Partei mit seinem Wissen und Wollen als Klage-
schrift bei Gericht eingereicht worden ist
.
b)
Dies war hier jedenfalls mit Stellung des Antrags auf nachträgliche Kla-
gezulassung am 15. August 2019 der Fall. Dem Antrag war die nunmehr ord-
nungsgemäß signierte Klageschrift beigefügt.
II.
Die Klage ist nicht deshalb unbegründet, weil die Kündigung vom
15. März 2018 gemäß § 7 Halbs. 1 KSchG als von Anfang an rechtwirksam gölte.
Zwar hat die Klägerin ihre Rechtsunwirksamkeit bis zum Ablauf der Klagefrist des
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§ 4 Satz 1 KSchG am 5. April 2018 nicht ordnungsgemäß gerichtlich geltend ge-
macht. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage aber zu Recht gemäß § 5 Abs. 1
Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 KSchG nachträglich zugelassen.
1.
Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht angenommen, der Antrag
der Klägerin auf nachträgliche Klagezulassung vom 15. August 2019 sei zulässig
gewesen.
a)
Der gemeinsam mit der erneuten und formgerechten Übermittlung der
Klage vom 21. März 2018 beim Landesarbeitsgericht eingereichte Antrag auf
nachträgliche Zulassung der Klage genügte den Anforderungen von § 5 Abs. 2
Satz 1 KSchG iVm. § 46c Abs. 3 Satz 1 ArbGG. Die erstmalige Einreichung beim
Berufungsgericht war gemäß § 5 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 KSchG zulässig.
b)
Der Antrag wahrte die Antragsfrist des § 5 Abs. 3 Satz 1 KSchG. Danach
ist der Antrag nur innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses
zulässig.
aa)
Das Hindernis ist iSv. § 5 Abs. 3 Satz 1 KSchG behoben, wenn die Partei
oder ihr Bevollmächtigter Kenntnis von der Fristversäumung hatte oder bei ord-
nungsgemäßer Verfolgung der Rechtssache hätte haben können. Maßgeblich ist
die Kenntnis der Säumnis, nicht die Kenntnis von deren Ursache
.
Das Weiterbestehen des Hindernisses darf nicht mehr als unverschuldet ange-
sehen werden können
. Dies ist der Fall,
wenn tatsächliche Umstände nach Eintritt der Fristversäumung eine entspre-
chende positive Kenntnis vermittelt oder zumindest Anlass zu Zweifeln gegeben
haben, ob die Frist eingehalten war
.
bb)
Danach lief die Frist des § 5 Abs. 3 Satz 1 KSchG hier ab dem 2. August
2019
und war demgemäß am 15. August 2019 noch nicht
verstrichen. Vor dem Hinweis des Landesarbeitsgerichts in der mündlichen Ver-
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handlung vom 1. August 2019, die Klageschrift sei unzureichend elektronisch sig-
niert gewesen, lagen keine Umstände vor, die der Klägerin nach Ablauf der Kla-
gefrist des § 4 Satz 1 KSchG positive Kenntnis von ihrer Versäumung vermittelt
oder zu entsprechenden Zweifeln Anlass gegeben hätten. Auch die Revision
macht solche nicht geltend.
c)
Allerdings hat die Klägerin den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung
erst nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG gestellt. Die
Frist begann mit dem Ende der Klagefrist am 5. April 2018 zu laufen und endete
am 5. Oktober 2018
. Der Fristablauf ist jedoch ausnahmsweise unschädlich. Das
Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass § 5 Abs. 3 Satz 2
KSchG vorliegend keine Anwendung findet.
aa)
Nach dem Gesetzeswortlaut handelt es sich bei der Sechsmonatsfrist
des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG zwar um eine absolute Höchstfrist für den Antrag
auf nachträgliche Klagezulassung. Dadurch soll die Ungewissheit des Arbeitge-
bers, ob er die Wirksamkeit einer Kündigung noch wird verteidigen müssen, spä-
testens sechs Monate nach Ablauf der eigentlichen Klagefrist des § 4 Satz 1
KSchG enden
.
Die Frist ist das Ergebnis einer Abwägung zwischen den Interessen an einerseits
materieller Gerechtigkeit und andererseits Rechtssicherheit
.
bb)
Daraus folgt aber zugleich, dass der Anwendungsbereich der Norm te-
leologisch zu reduzieren ist, wenn ihr Sinn und Zweck die Anwendung nicht ge-
bietet und anderenfalls den Anforderungen an ein faires Verfahren nicht genügt
werden kann. Das ist der Fall, wenn das Versäumen der Frist der Sphäre des
Gerichts und nicht derjenigen des Antragstellers zuzurechnen ist und darüber
hinaus ein Schutz der Interessen des Prozessgegners nicht geboten ist, weil die-
ser kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Eintritt der Rechtssicherheit haben
konnte
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. Art. 2 Abs. 1 GG iVm.
dem Rechtsstaatsprinzip
garantiert den Parteien im Zivilpro-
zess effektiven Rechtsschutz
. Der Zugang zu den Ge-
richten darf nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtferti-
gender Weise erschwert werden
. Der Gesetzgeber darf zwar Regelungen treffen,
die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstel-
len und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Solche
Einschränkungen müssen aber mit den Belangen einer rechtsstaatlichen Verfah-
rensordnung vereinbar sein und dürfen den Rechtsuchenden nicht unverhältnis-
mäßig belasten. Die Gerichte haben das Verfahrensrecht so auszulegen und an-
zuwenden, dass es zu diesen Grundsätzen nicht in Widerspruch gerät
. Das gilt nicht nur für Entschei-
dungen über die Wiedereinsetzung nach Versäumung einer Frist
,
sondern auch im Verfahren über die nachträgliche Zulassung der Kündigungs-
schutzklage nach § 5 KSchG
.
(1)
Dementsprechend ist die Jahresfrist auf einen Antrag auf Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand gemäß § 234 Abs. 3 ZPO zB bei der Wiedereinset-
zung in die Berufungsbegründungsfrist nicht anwendbar, wenn das Gericht inner-
halb der Frist nicht über einen rechtzeitig gestellten Prozesskostenhilfeantrag
entschieden hat
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. Die Vorschrift findet auch dann keine Anwendung, wenn
das Revisionsgericht im arbeitsgerichtlichen Verfahren erst nach mehr als einem
Jahr bemerkt, dass die Revisionsbegründung nicht unterschrieben war
, wenn ein Ge-
richt durch seine Verfahrensweise über einen längeren Zeitraum Vertrauen in die
Zulässigkeit des eingelegten Rechtsbehelfs geweckt hat
oder wenn es nach Stellung eines verspäteten Wiedereinset-
zungsantrags über mehr als zwei Jahre hinweg durch Fortsetzung der Verhand-
lung den Eindruck erweckt hat, Wiedereinsetzung gewährt zu haben
.
(2)
§ 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG verlangt wegen der Anforderungen an ein faires
Verfahren eine entsprechende teleologische Reduktion seines Anwendungsbe-
reichs. Ein dem entgegenstehender Wille des Gesetzgebers lässt sich den Ge-
setzesmaterialien nicht entnehmen. Zwar handelt es sich um eine nur sechs- und
nicht zwölfmonatige Frist, deren Versäumung gemäß § 4 Satz 1, § 7 Halbs. 1
KSchG zudem unmittelbare materielle Wirkung hat. Die Dauer der Frist trägt aber
nur den Besonderheiten des Kündigungsschutzrechts Rechnung, indem sie ei-
nen Ausgleich zwischen dem Interesse des Arbeitgebers an Planungssicherheit
und dem Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes schafft.
Daneben ist die Norm Ausdruck des auch in § 61a ArbGG geregelten besonde-
ren Beschleunigungsgrundsatzes im Kündigungsschutzverfahren
. Ihr Normzweck
steht daher einer durch Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip
gebotenen teleologischen Reduktion ihres Anwendungsbereichs
nicht entgegen, sofern sich auf Seiten des beklagten Arbeitgebers kein schutz-
würdiges Vertrauen auf den Eintritt der Rechtssicherheit gebildet haben konnte.
Dies ist der Fall, wenn dem Arbeitgeber eine Klage zugestellt worden ist, die zwar
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(zunächst unerkannt) die formalen Anforderungen an eine Kündigungsschutz-
klage iSv. § 4 Satz 1 KSchG nicht erfüllte, aber vom Gericht als solche behandelt
worden ist. Auf den Eintritt der Fiktionswirkung des § 7 Halbs. 1 KSchG konnte
der Arbeitgeber dann bis zu einem entsprechenden Hinweis des Gerichts nicht
vertrauen. Wenn aber das Recht eines Antragstellers auf ein faires Verfahren
Ausnahmen sogar von der einjährigen Frist des § 234 Abs. 3 ZPO rechtfertigt, ist
kein Grund ersichtlich, dass dies nicht gleichermaßen für die kürzere Frist des
§ 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG gilt. Auch die materielle Wirkung von § 4 Satz 1 KSchG
und § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG bezweckt nicht den Schutz eines Arbeitgebers, der
keinen Anlass hatte, auf den Eintritt der Fiktionswirkung des § 7 Halbs. 1 KSchG
zu vertrauen.
(3)
Die Senatsentscheidung vom 28. Januar 2010
steht einer solchen teleologischen Reduktion des Anwendungs-
bereichs von § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht entgegen. Sie befasst sich nur mit
der Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in die Frist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG
in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung von § 233 ZPO und verweist
im Übrigen selbst auf die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Fristen aus § 5
Abs. 3 Satz 2 KSchG und § 234 Abs. 3 ZPO
.
cc)
Danach hat das Landesarbeitsgericht § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG im Streit-
fall zutreffend für nicht anwendbar gehalten.
(1)
Die Versäumung der Frist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG hatte ihre Ursa-
che in der Sphäre des Gerichts. Das Arbeitsgericht hatte bis zu ihrem Ablauf kei-
nen Hinweis erteilt, dass wegen der nicht ordnungsgemäß signierten Klageschrift
die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG möglicherweise nicht gewahrt war. Hierzu
wäre es nach § 139 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO unabhängig davon verpflichtet
gewesen, ob es selbst die Bedenken im Ergebnis teilte, um der Klägerin die Mög-
lichkeit zu geben, zumindest vorsorglich einen Antrag auf nachträgliche Klagezu-
lassung zu stellen.
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(2)
Ein schutzwürdiges Vertrauen der Beklagten in den Eintritt der Wirksam-
keitsfiktion gemäß § 7 Halbs. 1 KSchG konnte vorliegend nicht entstehen. Die
Klägerin hatte fristgemäß, wenn auch zunächst unerkannt formfehlerhaft Kündi-
gungsschutzklage erhoben. Ein gerichtlicher Hinweis auf die mangelnde Signatur
der Klageschrift erfolgte bis zum 1. August 2019 nicht.
d)
Der Antrag auf nachträgliche Klagezulassung genügte den formellen Er-
fordernissen des § 5 Abs. 2 Satz 2 KSchG jedenfalls insoweit, wie er darauf ge-
stützt war, dass das Arbeitsgericht vor dem Ablauf der Klagefrist des § 4 Satz 1
KSchG nicht auf die Unzulässigkeit der Container-Signatur hingewiesen hatte.
Eine Glaubhaftmachung ist entbehrlich, soweit die Tatsachen, auf die sich der
Arbeitnehmer beruft, durch die Gerichtsakten zu belegen sind
.
Dies ist vorliegend der Fall.
2.
Das Landesarbeitsgericht hat den Antrag auf nachträgliche Klagezulas-
sung zu Recht als begründet erachtet.
a)
§ 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG verlangt, dass der Arbeitnehmer trotz Anwen-
dung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt gehindert war,
die Klage rechtzeitig zu erheben. Dabei ist ihm das Verschulden eines
(Prozess-)Bevollmächtigten an der Versäumung der gesetzlichen Klagefrist nach
§ 4 Satz 1 KSchG gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG iVm. § 85 Abs. 2 ZPO zu-
zurechnen
. Ein etwaiges Ver-
schulden der Partei bzw. ihres Prozessbevollmächtigten tritt jedoch hinter ge-
richtliches Verschulden zurück, wenn ohne dieses die Frist gewahrt worden wäre.
Maßgeblich ist dann der in der Sphäre des Gerichts liegende Grund für die Frist-
versäumung.
b)
So liegt der Fall hier. Die Partei trifft zwar regelmäßig ein Verschulden,
wenn ihr Prozessbevollmächtigter ein elektronisches Dokument unter Verstoß
gegen § 46c Abs. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 4 Abs. 2 ERVV mit einer Container-Sig-
natur an das Gericht übermittelt. Es ist die Pflicht des Rechtsanwalts, für einen
ordnungsgemäßen Zustand der aus seiner Kanzlei ausgehenden elektronischen
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Dokumente einschließlich einer ggf. erforderlichen ordnungsgemäßen qeS iSd.
§ 46c Abs. 3 Alt. 1 ArbGG zu sorgen
. Ein Verschulden des Prozessbevoll-
mächtigten ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Inkrafttreten von § 4
Abs. 2 ERVV zum 1. Januar 2018 in der Praxis weitgehend unbeachtet geblieben
ist. Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze und Rechtsverordnungen kennen, die in
einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen
. Die ERVV
datiert vom 24. November 2017 und ist einschließlich ihres § 4 Abs. 2 am
29. November 2017 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Zudem hat die
Bundesrechtsanwaltskammer bereits in einem Newsletter zum besonderen elekt-
ronischen Anwaltspostfach vom 16. November 2017 auf die Unzulässigkeit der
Container-Signatur hingewiesen
. Ebenso wurde in einschlägigen Fachzeitschriften frühzeitig über den ge-
planten Ausschluss der Container-Signatur nach § 4 Abs. 2 ERVV berichtet
. Die Fristver-
säumung hätte hier aber trotz des Verschuldens des früheren Prozessbevoll-
mächtigten der Klägerin vermieden werden können, wenn das Arbeitsgericht
noch vor Ablauf der Klagefrist gemäß § 4 Satz 1 KSchG auf die nicht ausrei-
chende Signatur hingewiesen hätte.
aa)
Die entsprechende Pflicht des Arbeitsgerichts ergab sich aus dem An-
spruch der Klägerin auf ein faires gerichtliches Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1
iVm. Art. 20 Abs. 3 GG. Dieser begründet eine prozessuale Fürsorgepflicht, auf-
grund derer die Gerichte auf ggf. offenkundige Formmängel bestimmender
Schriftsätze hinweisen müssen
. Ein offenkundiger Formmangel liegt auch dann vor,
wenn eine Kündigungsschutzklage mit einer unzulässigen Container-Signatur
versehen eingeht. Die Gerichte trifft zwar keine generelle Verpflichtung zur sofor-
tigen Prüfung der Formalien eines als elektronisches Dokument eingereichten
Schriftsatzes. Dies enthöbe die Verfahrensbeteiligten und deren Bevollmächtigte
ihrer eigenen Verantwortung und überspannte die Anforderungen an die Grund-
sätze des fairen Verfahrens
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. Die klagende Partei kann aber erwarten, dass dies in angemessener
Zeit bemerkt wird und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die
notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis
zu vermeiden. Unterbleibt der gebotene Hinweis, ist die Kündigungsschutzklage
nachträglich zuzulassen, wenn der Hinweis bei ordnungsgemäßem Geschäfts-
gang so rechtzeitig hätte erfolgen können, dass der Partei die Fristwahrung noch
möglich gewesen wäre
. Zu einem ordentlichen Geschäfts-
gang zählen - bei einer nicht elektronischen Aktenführung - die regelmäßig erfor-
derlichen verwaltungstechnischen Vorarbeiten wie das Ausdrucken eines elekt-
ronischen Dokuments und des dazugehörigen Transfervermerks, das Anlegen
oder die Zuordnung des Dokuments zu einer Akte, die Zuständigkeitsbestim-
mung und der Zutrag
. Ein erforderlicher Hinweis ist außerhalb der mündlichen Ver-
handlung vom bzw. von der Vorsitzenden zu erteilen
. Der bzw. die Vorsitzende trägt auch die Verantwortung dafür,
dass eine Überprüfung der elektronischen Signaturen bestimmender Schriftsätze
erfolgt, selbst wenn hierfür unterstützend andere Gerichtsbedienstete herange-
zogen werden. Ob im ordnungsgemäßen Geschäftsgang noch ein rechtzeitiger
Hinweis möglich war, hängt daher davon ab, wieviel Zeit bei pflichtgemäßer Be-
handlung vom Eingang eines Schriftsatzes bis zur Kenntnisnahme und Bearbei-
tung durch den Vorsitzenden bzw. die Vorsitzende zu veranschlagen ist.
bb)
Richterliche Hinweispflichten bestehen unabhängig von einer anwaltli-
chen Vertretung der hinweisempfangenden Partei zumindest dann, wenn der An-
walt - wie hier - die Rechtslage falsch beurteilt oder ersichtlich darauf vertraut,
sein schriftsätzliches Vorbringen sei ausreichend
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. Dies gilt, anders als die Be-
klagte meint, auch unabhängig davon, ob der Gegner anwaltlich vertreten ist.
cc)
Im Streitfall hätte das Arbeitsgericht den erforderlichen Hinweis im ord-
nungsgemäßen Geschäftsgang so rechtzeitig erteilen können, dass die Klägerin
die ordnungsgemäße Klageerhebung noch innerhalb der Klagefrist des § 4
Satz 1 KSchG hätte nachholen können. Die nicht ordnungsgemäß signierte Kla-
geschrift war am 21. März 2018 und damit bereits mehr als zwei Wochen vor
Ablauf der Klagefrist am 5. April 2018 beim Arbeitsgericht eingegangen. Das in
der Verwendung der Container-Signatur liegende Verschulden hätte mithin bei
ordnungsgemäßer Bearbeitung der Klage durch das Arbeitsgericht nicht zu einer
Versäumung der Klagefrist geführt.
III.
Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, die Kün-
digung vom 15. März 2018 sei nicht aus Gründen im Verhalten der Klägerin iSv.
§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt und damit gemäß § 1 Abs. 1
KSchG rechtsunwirksam.
1.
Der Erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes fand nach den Fest-
stellungen des Landesarbeitsgerichts gemäß § 1 Abs. 1, § 23 Abs. 1 KSchG An-
wendung. Dagegen erhebt die Revision keine Einwände.
2.
Eine Kündigung ist iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Ver-
halten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn
dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel
schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft
nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des
Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen bei-
der Vertragsteile nicht zumutbar ist. Auch eine erhebliche Verletzung der den Ar-
beitnehmer gemäß § 241 Abs. 2 BGB treffenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf
die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Arbeitgebers kann - je nach den
Umständen des Einzelfalls - eine Kündigung rechtfertigen
.
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3.
Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin habe mit den im
Zeitraum vom 2. Januar 2018 bis 6. Februar 2018 versandten E-Mails nicht ihre
Pflicht zur Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 BGB verletzt, hält einer revisi-
onsrechtlichen Überprüfung stand. Auf die Frage, ob anderenfalls die Pflichtver-
letzung(en) die Kündigung des Arbeitsverhältnisses bedingt hätten oder eine
(weitere) Abmahnung ein zumutbares mildes Mittel gewesen wäre, kommt es
deshalb nicht an.
a)
Nach § 241 Abs. 2 BGB hat sich jeder Teil im Rahmen des Schuldver-
hältnisses so zu verhalten, dass der andere Teil vor (Begleit-)Schäden an ande-
ren Rechten, Rechtsgütern und - rechtlich geschützten - Interessen, einschließ-
lich des Vermögens als solchem, nach Möglichkeit bewahrt wird
. Bei der Frage, was die Schutz- und Rück-
sichtnahmepflicht im Einzelfall gebietet, ist insbesondere auf die von den Grund-
rechten zum Ausdruck gebrachte Werteordnung Rücksicht zu nehmen
. Im Privatrecht sind beide Par-
teien Grundrechtsträger. Die Gerichte haben daher den jeweils konkurrierenden
Rechtspositionen ausgewogen Rechnung zu tragen
.
b)
Der Erhalt des Betriebsfriedens stellt nach der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers iSv. § 241
Abs. 2 BGB dar, da eine Störung seine wirtschaftliche Betätigungsfreiheit gemäß
Art. 2 Abs. 1 GG berührt
. Eine Störung des Betriebsfriedens kann
indes auch Folge einer berechtigten Interessenwahrnehmung durch den Arbeit-
nehmer sein. Auf den Erhalt des Betriebsfriedens gerichtete Verhaltenspflichten
iSv. § 241 Abs. 2 BGB bedürfen daher einer Konkretisierung unter Berücksichti-
gung der wechselseitigen Interessen und grundrechtlichen Gewährleistungen.
Allein der Umstand, dass eine Störung eingetreten ist, genügt nicht für die An-
nahme, ein Arbeitnehmer, der dazu beigetragen hat, habe auch seine Pflicht zur
Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers verletzt. Für
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sich genommen stellt selbst eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Be-
triebsfriedens noch keine Pflichtverletzung dar, sondern nur deren mögliche
Folge
.
c)
Der Arbeitgeber hat überdies die Möglichkeit, auf das betriebliche Mitei-
nander bezogene Verhaltenspflichten durch (mitbestimmte) betriebliche Rege-
lungen oder Einzelweisungen in Ausübung seines Direktionsrechts gemäß § 106
Satz 2 GewO selbst konkret festzulegen.
d)
Das Landesarbeitsgericht hat in den nach der Abmahnung vom
23. November 2017 versandten E-Mails der Klägerin zu Recht keine Verletzung
des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Adressaten oder sonstiger Beschäf-
tigter der Beklagten erkannt. Sein Verständnis ihres Inhalts als Beschwerden
über betriebliche Vorgänge, Erklärungen oder Stellungnahmen zu betrieblichen
Vorgängen bzw. Fragen mit betrieblichem Zusammenhang hält sich im Rahmen
tatgerichtlicher Würdigung. Auch die Beklagte beruft sich im Revisionsverfahren
nicht mehr darauf, die E-Mails seien verleumderisch oder beleidigend gewesen.
e)
Einer revisionsrechtlichen Überprüfung hält ebenso die Annahme stand,
die Klägerin habe nicht die Pflicht zur Rücksichtnahme auf das Interesse der Be-
klagten an einer ungestörten betrieblichen Verbundenheit aller Mitarbeiter ver-
letzt. Da die Bestimmung von Verhaltenspflichten iSv. § 241 Abs. 2 BGB zur
Rücksichtnahme auf den Erhalt des Betriebsfriedens eine Abwägung der wech-
selseitig betroffenen berechtigten Interessen verlangt
, gilt insoweit ein
eingeschränkter Überprüfungsmaßstab. Die Würdigung des Landesarbeitsge-
richts wird in der Revisionsinstanz lediglich daraufhin geprüft, ob es bei der Un-
terordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnormen Denkgesetze oder allge-
meine Erfahrungssätze verletzt und ob es alle vernünftigerweise in Betracht zu
ziehenden Umstände widerspruchsfrei berücksichtigt hat
. Da-
nach ist die Würdigung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe in keinem Fall
„die Grenzen sozialadäquater Kommunikation“ überschritten, als Ergebnis der
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zur Bestimmung des Inhalts ihrer Pflicht zur Rücksichtnahme erforderlichen Inte-
ressenabwägung ebenfalls revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
aa)
Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend berücksichtigt, dass die Klägerin
sowohl Beschwerden über betriebliche Vorgänge anbringen als auch Ansichten
oder Hinweise zu mit dem Arbeitsgeschehen im Zusammenhang stehenden Vor-
gängen kundtun und hierzu Fragen stellen durfte. Sie habe ihre Beschwerden
auch weder an unzuständige Adressaten gerichtet noch haltlose schwere An-
schuldigungen erhoben oder ihr Beschwerderecht querulatorisch missbraucht.
bb)
Ohne Rechtsfehler hat das Landesarbeitsgericht ferner angenommen,
dass die Klägerin nicht gegen konkretisierende Weisungen zum Kommunikati-
onsverhalten im Betrieb verstoßen habe, dass ihre Meinungsäußerungen von
Art. 5 Abs. 1 GG geschützt gewesen seien und sich eine Verletzung ihrer Pflicht
zur Rücksichtnahme nicht schon daraus ergeben habe, dass die E-Mails Hin-
weise auf Rechtsprechung und Inanspruchnahme anwaltlichen Rates - und damit
nicht etwa eine widerrechtliche Drohung - enthielten oder dass die Empfänger
ihren Inhalt als unzutreffend oder störend empfanden bzw. ihre Menge als belas-
tend wahrnahmen. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellun-
gen des Berufungsgerichts war der Klägerin die Kommunikation mit Kollegen und
Vorgesetzten über E-Mail grundsätzlich erlaubt und selbst nach der intensiven
Nutzung im Zeitraum vom 3. August 2017 bis zum 23. November 2017 von der
Beklagten nicht untersagt worden. Die Abmahnung vom 23. November 2017 ver-
hielt sich nur zu falschen Unterstellungen, Hinweisen mit Anweisungscharakter
und Stellungnahmen zu Privatangelegenheiten anderer Mitarbeiter. Solche Äu-
ßerungen waren nicht mehr Gegenstand der von der Klägerin nach Erhalt der
Abmahnung versandten E-Mails.
cc)
Ein Rechtsfehler ist auch weder objektiv ersichtlich noch von der Revi-
sion aufgezeigt, soweit das Berufungsgericht den E-Mails keinen höhnischen,
frechen, unangemessen anfeindenden oder provozierenden Charakter beige-
messen und allein die Anbringung von vier ggf. anlasslosen oder überflüssigen
Fragen innerhalb eines Zeitraums von einem Monat ebenfalls noch nicht als Ver-
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letzung der Pflicht zur Rücksichtnahme erachtet hat. Die Beklagte möchte inso-
weit lediglich ihr Verständnis der E-Mails und des zutreffenden Ergebnisses der
für die Konkretisierung der Pflichten der Klägerin gemäß § 241 Abs. 2 BGB er-
forderlichen Interessenabwägung an die Stelle desjenigen des Landesarbeitsge-
richts setzen.
IV.
Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglos ge-
bliebenen Revision zu tragen.
Koch
Schlünder
Rachor
Söller
Alex
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