Urteil des BAG vom 01.10.2020

Kündigungsschutzklage "aus dem Verborgenen"

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 1. Oktober 2020
Zweiter Senat
- 2 AZR 247/20 -
ECLI:DE:BAG:2020:011020.U.2AZR247.20.0
I. Arbeitsgericht Frankfurt am Main
Urteil vom 13. Juni 2013
- 21 Ca 663/12 -
II. Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 4. März 2020
- 18 Sa 1443/15 -
Entscheidungsstichwort:
Kündigungsschutzklage „aus dem Verborgenen“
Leitsatz:
Eine Kündigungsschutzklage kann die Frist des § 4 Satz 1 KSchG wahren,
obwohl der Arbeitnehmer in der Klageschrift entgegen § 253 Abs. 4 iVm.
§ 130 Nr. 1 ZPO seinen Wohnort nicht angibt.
ECLI:DE:BAG:2020:011020.U.2AZR247.20.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZR 247/20
18 Sa 1443/15
Hessisches
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
1. Oktober 2020
URTEIL
Radtke, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsklägerin,
pp.
Kläger, Berufungskläger und Revisionsbeklagter,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
1. Oktober 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Dr. Koch, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Rachor, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Dr. Niemann sowie die ehrenamtlichen Richter Krüger und
Falke für Recht erkannt:
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2 AZR 247/20
ECLI:DE:BAG:2020:011020.U.2AZR247.20.0
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Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 4. März 2020
- 18 Sa 1443/15 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfs-
weise ordentlichen Kündigung.
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war seit Dezem-
ber 2000 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Er wurde
im November 2011 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Am 13. Dezember 2011
erging Haftbefehl gegen ihn.
In einem vorangegangenen Verfahren um zwei außerordentliche fristlose
Kündigungen vom 16. Juni 2011 und 11. Juli 2011 sowie eine ordentliche Kündi-
gung vom 28. Juli 2011 zum 29. Februar 2012 begehrte der anwaltlich vertretene
Kläger im Termin am 15. Dezember 2011 auch die Feststellung, dass das Ar-
beitsverhältnis der Parteien nicht durch andere Beendigungstatbestände ende,
sondern zu unveränderten Bedingungen fortbestehe. Zudem gab er eine An-
schrift in W an, unter der er aber nicht wohnhaft war; vielmehr konnten dort Post-
fächer angemietet werden.
Das Integrationsamt erteilte am 5. Januar 2012 die Zustimmung zu einer
außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses
der Parteien. Diese Entscheidung wurde der Beklagten am 9. Januar 2012 zuge-
stellt.
Am 10. Januar 2012 versuchte die Beklagte erfolglos, dem Kläger an der
Adresse in W eine außerordentliche fristlose sowie eine hilfsweise ordentliche
Kündigung zum 30. Juni 2012 zugehen zu lassen. Ein Mitarbeiter des Postfach-
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betreibers teilte mit, der Kläger habe den Vertrag gekündigt und untersagt, seine
Post noch anzunehmen.
Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten wandten sich mit Schreiben
vom 11. Januar 2012 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers aus dem Vor-
verfahren und baten diesen unter Fristsetzung bis zum 12. Januar 2012 erfolglos
um eine Bestätigung, dass er
empfangsbevollmächtigt sei.
Der Kläger hat am 27. Januar 2012 die vorliegende Klage gegen eine auf
den Zustimmungsbescheid des Integrationsamts vom 5. Januar 2012 gestützte
außerordentliche und ordentliche Kündigung anhängig gemacht. Angeblich sei
versucht worden, ihm am 10. Januar 2012 Kündigungen zugehen zu lassen. Als
Anschrift hat er erneut die gekündigte Postfachadresse in W angegeben. Die
Kündigungsschutzklage ist der Beklagten am 6. Februar 2012 zugestellt worden.
Am 20. Februar 2012 gelang es ihr, dem Kläger die auf den 10. Januar
2012 datierte außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung an einer von
ihm zwischenzeitlich angegebenen Postfachadresse in F zugehen zu lassen.
Im Kammertermin am 2. Mai 2013 hat das Arbeitsgericht dem Kläger den
Hinweis erteilt, dass die Zulässigkeit der Klage die Angabe einer ladungsfähigen
Anschrift voraussetze und er nicht nur von Postfachadressen aus prozessieren
dürfe. Der Kläger hat innerhalb der bis zum 5. Juni 2013 verlängerten Frist keine
Wohnadresse angegeben. Im Termin am 13. Juni 2013 hat er über seinen Pro-
zessbevollmächtigten mitteilen lassen, er sei in der R-S-Straße in M wohnhaft.
Der Kläger hat gemeint, er habe von Postfachadressen aus prozessieren
dürfen, weil er seinerzeit mit Haftbefehl gesucht worden sei. Dessen ungeachtet
habe er am 13. Juni 2013 seine Wohnanschrift zutreffend angegeben und sei seit
März 2015 unstreitig in der G-Straße in M wohnhaft. Für die außerordentliche
Kündigung fehle ein wichtiger Grund. Die ordentliche Kündigung sei ihm nicht
innerhalb der Frist des § 88 Abs. 3 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017
geltenden Fassung
zuge-
gangen.
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Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - bean-
tragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch
die außerordentliche fristlose, hilfsweise ordentliche Kündi-
gung der Beklagten vom 10. Januar 2012 nicht aufgelöst
worden ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat gemeint, bereits die außerordentliche Kündigung gelte nach § 7
Halbs. 1 KSchG als wirksam, weil der Kläger mangels Angabe seines Wohnorts
keine ordnungsgemäße Klage erhoben habe. Jedenfalls müsse er sich nach Treu
und Glauben so behandeln lassen, als sei die ordentliche Kündigung in der Frist
des § 88 Abs. 3 SGB IX aF zugegangen.
Das Arbeitsgericht
hat die Klage als unzulässig abgewiesen, das Lan-
desarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte
die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht
hat das erstinstanzliche Urteil auf die Berufung des Klägers ohne Rechtsfehler
abgeändert und den Kündigungsschutzanträgen stattgegeben.
A.
Das Gegenteil folgt nicht daraus, dass die Berufung des Klägers unzu-
lässig gewesen wäre. Es kann dahinstehen, ob er bei ihrer Einlegung in der
R-S-Straße in M wohnhaft war. Die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift des
Rechtsmittelführers in der Rechtsmittelschrift ist keine Voraussetzung für die Zu-
lässigkeit des Rechtsmittels
. Im Besonderen muss das
Rechtsmittel einer Partei, die sich dagegen wendet, die Vorinstanz habe zu Un-
recht Zweifel am angegebenen Wohnort gehegt, ohne Rücksicht darauf zulässig
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sein, ob diese Annahme gerechtfertigt ist
.
B.
Beide Kündigungsschutzanträge sind zulässig und begründet.
I.
Der Kläger hat zwei Kündigungsschutzanträge iSv. § 4 Satz 1 KSchG
gestellt. Mit einem Hauptantrag wendet er sich gegen die außerordentliche, mit
einem unechten Hilfsantrag gegen die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung.
II.
Die Klage ist mit beiden Kündigungsschutzanträgen zulässig und be-
gründet.
1.
Die Klage ist zulässig.
a)
Ihr steht weder der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit aus § 261
Abs. 3 Nr. 1 ZPO noch der der materiellen Rechtskraft nach § 322 Abs. 1 ZPO
entgegen.
aa)
Mit der vorliegenden Klage verfolgt der Kläger nicht ein weiteres Mal ei-
nen der Streitgegenstände der rechtskräftig erfolgreichen Kündigungsschutzan-
träge aus dem früheren Verfahren. Der Streitgegenstand eines Antrags gemäß
§ 4 Satz 1 KSchG wird durch die jeweils angegriffene Kündigung bestimmt. Das
sind nicht die im ersten Verfahren angegriffenen außerordentlichen Kündigungen
vom 16. Juni 2011 und 11. Juli 2011 sowie die ordentliche Kündigung vom
28. Juli 2011, sondern die außerordentliche und die hilfsweise ordentliche Kün-
digung vom 10. Januar 2012. Der Umstand, dass den Kündigungsschutzanträ-
gen im vorangegangen Verfahren rechtskräftig stattgegeben wurde, könnte al-
lenfalls präjudizielle Wirkung dahin entfalten, dass die hier zur Entscheidung ste-
henden Anträge ohne Weiteres
sind, wenn feststünde, dass das Ar-
beitsverhältnis der Parteien bis zu einem bestimmten Termin nicht aufgelöst
wurde.
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bb)
Der allgemeine Feststellungsantrag nach § 256 Abs. 1 ZPO aus dem vor-
herigen Verfahren wurde mit Urteil des Arbeitsgerichts vom 22. März 2012
rechtskräftig als unzulässig abgewiesen, wodurch seine Rechtshängigkeit entfal-
len ist. Durch dieses
urteil wurde nicht mit materieller Rechtskraft über
den (Nicht-)Bestand des Arbeitsverhältnisses entschieden. Deshalb kann an die-
ser Stelle dahinstehen, ob zwischen dem allgemeinen Feststellungsantrag und
den vorliegenden Kündigungsschutzanträgen Teilidentität bestand
.
b)
Die Klage ist nicht deshalb unzulässig, weil der Kläger entgegen § 253
Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 iVm. § 130 Nr. 1 ZPO seinen Wohnort nicht angegeben
hat.
aa)
Es kann zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass die Klage zu-
nächst unzulässig war, weil der Kläger „aus dem Verborgenen“ prozessiert hat,
ohne dass dafür - etwa, weil er sich der konkreten Gefahr einer Verhaftung aus-
gesetzt hätte
- ein schützenwertes Interesse bestand.
bb)
Auch bedarf keiner Entscheidung, ob das Arbeitsgericht die von § 253
Abs. 4 iVm. § 130 Nr. 1 ZPO grundsätzlich geforderte Angabe eines Wohnorts
- erst - im Kammertermin am 13. Juni 2013 als verspätet zurückweisen durfte.
Allerdings ist zweifelhaft, ob die §§ 282, 296 ZPO iVm. § 46 Abs. 2 ArbGG inso-
weit Anwendung finden.
cc)
Jedenfalls ist der Wohnort des Klägers im Zeitpunkt der letzten mündli-
chen Verhandlung im zweiten Rechtszug unstreitig gewesen. Unstreitiges Vor-
bringen ist vom Berufungsgericht selbst dann zuzulassen, wenn es erstinstanz-
lich wirksam zurückgewiesen worden sein sollte
.
c)
Für die Zulässigkeit der beiden Klageanträge ist es ohne Bedeutung,
dass der Kläger in der Frist des § 4 Satz 1 KSchG keinen Wohnort angegeben
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hat und bis zur rechtskräftigen Abweisung des im Vorverfahren erhobenen allge-
meinen Feststellungsantrags anderweitige Rechtshängigkeit vorgelegen haben
könnte. Sollte die außerordentliche Kündigung deshalb nach § 13 Abs. 1 Satz 2
iVm. § 7 Halbs. 1 KSchG als wirksam gelten, hätte das Arbeitsgericht die Klage
mit dem Hauptantrag als un
abweisen müssen
und über den unechten Hilfs-
antrag gegen die ordentliche Kündigung nicht befinden dürfen.
2.
Der Hauptantrag betreffend die außerordentliche Kündigung ist indes be-
gründet.
a)
Die außerordentliche Kündigung gilt nicht nach § 13 Abs. 1 Satz 2 iVm.
§ 7 Halbs. 1 KSchG als rechtswirksam. Der Kläger hat sie fristgerecht mit einer
wirksamen, den Zwecken von § 4 Satz 1 KSchG genügenden Klage angegriffen.
aa)
Weder der Zivilprozessordnung noch dem Wortlaut von § 4 Satz 1
KSchG ist zu entnehmen, dass lediglich eine von vornherein in allen Punkten
dem Prozessrecht genügende Klageerhebung die Klagefrist wahrt
. Viel-
mehr können auch unzulässige Klagen zur Fristwahrung ausreichen
. Wann dies der Fall ist, bestimmt sich nach § 253 ZPO und § 4 Satz 1
KSchG
. Eine wirksame Klageerhebung liegt vor, wenn die Klage die sich
aus § 253 ZPO ergebenden Mindestvoraussetzungen erfüllt
. Den Anforderungen von § 4 Satz 1 KSchG ist
genügt, wenn die (wirksame) Klage dem Arbeitgeber fristgerecht Klarheit ver-
schafft, ob der Arbeitnehmer eine bestimmte Kündigung hinnimmt oder ihre Un-
wirksamkeit gerichtlich geltend machen will. Erfüllt das prozessuale Vorgehen
des Arbeitnehmers diesen Zweck, soll er nicht aus formalen Gründen den Kün-
digungsschutz verlieren
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. Danach ist die Dreiwochenfrist, ohne dass es auf eine rück-
wirkende Heilung gemäß § 295 ZPO
oder eine nachträgliche Klagezulassung nach § 5 KSchG ankäme,
von vornherein gewahrt, wenn die rechtzeitig eingereichte Klageschrift von einer
postulationsfähigen Person unterzeichnet ist, die sie - als solche und nicht als
bloßen Entwurf - verantwortet
, und aus ihr
die Parteien
, die angefochtene Kündigung
sowie der Wille des Arbeitnehmers, die Unwirksamkeit dieser
Kündigung gerichtlich feststellen zu lassen, ersichtlich sind
. Demgegenüber rechnen
die in § 253 Abs. 4 iVm. § 130 Nr. 1 bis Nr. 5 ZPO bestimmten Angaben weder
zu den Mindestanforderungen an eine wirksame Klageerhebung
noch werden sie von § 4 Satz 1 KSchG
verlangt
.
bb)
Danach hat der Kläger die Frist des § 4 Satz 1 KSchG gewahrt.
(1)
Zum einen ist es unschädlich, dass er die Klage zu einem Zeitpunkt er-
hoben hat, als ihm die sicher zu erwartenden Kündigungen tatsächlich noch nicht
zugegangen waren. Der Kläger hat sie gleichwohl schon in der Klageschrift aus-
reichend iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO individualisiert, indem er auf die Entschei-
dung des Integrationsamts mit Aktenzeichen und den erfolglosen Zustellversuch
der Beklagten am 10. Januar 2012 Bezug genommen hat. Daneben spielt es
keine Rolle, dass die Kündigungen nach seiner Mutmaßung auf den 9. Januar
2012 datiert waren. Vielmehr hätte die Klage noch nach Ablauf der Dreiwochen-
frist der tatsächlichen Datierung des Schreibens auf den 10. Januar 2012 ange-
passt werden können
. Allerdings fiel die am 28. Februar 2012 vorgenom-
mene Korrektur ohnehin in die noch laufende Klagefrist, weil der tatsächlich erst
am 20. Februar 2012 erfolgte Zugang der streitbefangenen Kündigungen nicht
auf den 10. Januar 2012 zurück zu fingieren ist
.
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(2)
Zum anderen schadet es nicht, dass der Kläger in der Klagefrist seinen
Wohnort nicht angegeben hat. Seine Identität stand gleichwohl zweifelsfrei fest;
der Vorschrift des § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO war insoweit Genüge getan
. Damit lag
eine wirksame Klageerhebung vor. Trotz des Schwebezustands betreffend die
Zulässigkeit der Klage im Übrigen war für das Gericht und die Beklagte auch mit
der erforderlichen Eindeutigkeit erkennbar, dass der Kläger eine gerichtliche Ent-
scheidung über die Wirksamkeit der angegriffenen Kündigungen begehrt
.
(3)
Schließlich kann dahinstehen, ob eine Klage auch dann die Vorgaben
von § 4 Satz 1 KSchG wahrt, wenn ihr für die gesamte Dauer der Klagefrist das
Prozesshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit nach § 261 Abs. 3 Nr. 1
ZPO entgegensteht, und ob ggf. schon die Erstklage zur endgültigen Wahrung
der Klagefrist ausreicht. Hier lag von Anfang an kein solcher Fall vor. Die streit-
befangenen Kündigungen waren zwar vom Streitgegenstand des allgemeinen
Feststellungsantrags aus dem vorangegangenen Verfahren erfasst. Des Weite-
ren liegt in der bloßen Erhebung einer Kündigungsschutzklage richtigerweise nur
dann eine gemäß § 264 Nr. 2 ZPO stets zulässige Beschränkung eines
„Schlepp-
netzantrags“, wenn beide Anträge - wie in dem Fall des Senats vom 7. Dezember
1995
- im selben Rechts-
streit angebracht werden
. Der Ein-
wand der anderweitigen Rechtshängigkeit als spezielle Ausprägung des Fehlens
eines Rechtsschutzbedürfnisses greift aber nicht durch, wenn das Rechtschutz-
ziel der späteren Klage über das der ersten hinausgeht
. So liegt es im Verhältnis eines Kündigungsschutzantrags
zu einer früheren allgemeinen Feststellungsklage. § 4 Satz 1 KSchG verlangt
eine auf die konkrete Kündigung bezogene punktuelle Klage. Daneben kann der
Arbeitnehmer nur auf der Grundlage einer solchen mit einem auf die betreffende
Kündigung bezogenen Auflösungsantrag gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG durch-
dringen.
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b)
Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die (bevorstehende) Straf-
haft des Klägers habe keinen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB für eine
außerordentliche
Kündigung gebildet. Gegen diese Annahme wendet die
Revision sich nicht. Sie lässt auch keinen Rechtsfehler erkennen
.
3.
Der Hilfsantrag gegen die ordentliche Kündigung ist ebenfalls begründet.
a)
Die ordentliche Kündigung gilt nicht nach § 7 Halbs. 1 KSchG als rechts-
wirksam. Der Kläger hat auch sie fristgerecht mit einer ausreichenden Klage iSv.
§ 4 Satz 1 KSchG angegriffen
. Der unechte Hilfsantrag war auf
bedingt
.
b)
Die ordentliche Kündigung ist unwirksam, weil sie dem Kläger nicht in-
nerhalb der Frist des § 88 Abs. 3 SGB IX aF zugegangen ist.
aa)
Erteilt das Integrationsamt die Zustimmung zu einer beabsichtigten or-
dentlichen Kündigung, kann der Arbeitgeber sie gemäß § 88 Abs. 3 SGB IX aF
nur innerhalb eines Monats nach Zustellung des die Zustimmung enthaltenden
Bescheids erklären. Die in dieser Vorschrift bestimmte Kündigungserklärungsfrist
ist eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist. Ihr sachlicher Regelungsgehalt be-
steht in einer zeitlich beschränkten Aufhebung der gesetzlichen Kündigungs-
sperre. Der Arbeitgeber erhält eine befristete Erlaubnis, die beabsichtigte ordent-
liche Kündigung auszusprechen
.
bb)
Maßgeblich für die Wahrung der Vollzugsfrist ist trotz des missverständ-
lichen Wortlauts von § 88 Abs. 3 SGB IX aF der Zugang der Kündigung beim Ar-
beitnehmer gemäß § 130 BGB. Dieser soll innerhalb der Monatsfrist Kenntnis
davon erlangen, ob die Kündigung erfolgt ist oder der Arbeitgeber von ihr Abstand
genommen hat
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. Wird
die Frist nicht gewahrt, kommt eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand
selbst bei schuldloser Fristversäumnis nicht in Betracht
.
cc)
Der Arbeitnehmer kann sich aber nach Treu und Glauben
nicht auf den verspäteten Zugang der Kündigung berufen, wenn er die Über-
schreitung der Monatsfrist selbst zu vertreten hat. Er muss sich dann so behan-
deln lassen, als habe der Arbeitgeber diese gewahrt. Ob das der Fall ist, richtet
sich nach den für die Zugangsvereitelung von Willenserklärungen geltenden
Grundsätzen. Danach muss derjenige, der aufgrund bestehender vertraglicher
Beziehungen mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen zu rechnen hat, ge-
eignete Vorkehrungen treffen, dass ihn derartige Erklärungen auch erreichen. Tut
er dies nicht, wird darin vielfach ein Verstoß gegen die durch die Aufnahme von
Vertragsverhandlungen oder den Abschluss eines Vertrags begründeten Sorg-
faltspflichten gegenüber dem anderen Vertragsteil liegen. Selbst bei schweren
Sorgfaltsverstößen kann der Adressat nach Treu und Glauben regelmäßig aber
nur so behandelt werden, als habe ihn die Willenserklärung erreicht, wenn der
Erklärende alles ihm Zumutbare getan hat, damit seine Erklärung zum Adressa-
ten gelangen konnte
. Dazu gehört in der Regel, dass er nach Kenntnis von einem fehlge-
schlagenen Zugang unverzüglich einen erneuten Versuch unternimmt, seine Er-
klärung derart in den Machtbereich des Empfängers zu bringen, dass diesem
ohne Weiteres eine Kenntnisnahme ihres Inhalts möglich ist. Dies folgt daraus,
dass eine empfangsbedürftige Willenserklärung Rechtsfolgen grundsätzlich erst
auslöst, wenn sie zugegangen ist. Welcher Art dieser erneute Versuch des Er-
klärenden sein muss, hängt von den konkreten Umständen wie den örtlichen Ver-
hältnissen, dem bisherigen Verhalten des Adressaten, den Möglichkeiten des Er-
klärenden sowie der Bedeutung der abgegebenen Erklärung ab und kann nicht
allgemein entschieden werden. Ein wiederholter Zustellversuch ist allerdings
nicht mehr sinnvoll und deshalb ausnahmsweise entbehrlich, wenn der Empfän-
ger die Annahme grundlos verweigert oder den Zugang arglistig vereitelt
. Dann
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greift statt einer bloßen Rechtzeitigkeits- eine Zugangsfiktion
.
dd)
Ob der Arbeitgeber nach den konkreten Umständen alles Zumutbare un-
ternommen hat, damit seine Erklärung den Arbeitnehmer erreichen konnte, un-
terliegt im Revisionsverfahren einer bloß eingeschränkten Nachprüfung. Das Re-
visionsgericht kann die Entscheidung des Berufungsgerichts regelmäßig nur da-
rauf überprüfen, ob das Gericht die Rechtsbegriffe verkannt hat, ob ihm von der
Revision gerügte Verfahrensfehler unterlaufen sind und ob es etwa wesentliche
Tatumstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt oder Erfahrungssätze
verletzt hat
.
ee)
Danach ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts revisionsrechtlich
nicht zu beanstanden, die Beklagte habe die ordentliche Kündigung nicht in der
bis einschließlich 9. Februar 2012 laufenden Frist des § 88 Abs. 3 SGB IX aF er-
klärt.
(1)
Die Kündigung ist dem Kläger tatsächlich erst am 20. Februar 2012 zu-
gegangen.
(2)
Die Würdigung des Berufungsgerichts, der Zugang könne nicht auf den
zurück fingiert werden, weil die Beklagte nach dem gescheiter-
ten Zustellversuch an diesem Tag nicht unverzüglich alles ihr Zumutbare unter-
nommen habe, um dem Kläger die Kündigung doch zugehen zu lassen, ist frei
von revisiblen Rechtsfehlern. Das Landesarbeitsgericht hat alle Umstände des
Falls in den Blick genommen und dabei die beiderseitigen Interessen der Par-
teien angemessen berücksichtigt.
(a)
Entgegen der Auffassung der Revision hätte die Beklagte die ordentliche
Kündigung dem Prozessbevollmächtigten des Klägers übermitteln können. Die-
ser hatte im Vorverfahren eine allgemeine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1
ZPO erhoben. Aufgrund der ihm dazu erteilten Vollmacht war er jedenfalls im
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Zeitraum vom Zugang der Entscheidung des Integrationsamts bis zur Anbringung
der vorliegenden Klage durch den Kläger persönlich am 27. Januar 2012 zum
Empfang der Kündigung befugt.
(b)
Eine Prozessvollmacht ermächtigt gemäß § 81 ZPO zu allen den Rechts-
streit betreffenden Prozesshandlungen. Dies sind nach ständiger Rechtspre-
chung auch materiell-rechtliche Willenserklärungen, die sich auf den Gegenstand
des Rechtsstreits beziehen, weil sie zur Rechtsverfolgung innerhalb des Pro-
zessziels oder zur Rechtsverteidigung dienen. Solche Erklärungen sind von der
Prozessvollmacht umfasst, auch wenn sie außerhalb des Prozesses abgegeben
werden. Im gleichen Umfang, in dem die Vollmacht zur Vornahme von Prozess-
handlungen berechtigt, ist der Bevollmächtigte auch befugt, Prozesshandlungen
des Gerichts oder des Gegners entgegenzunehmen. Bei der Abgabe einer Kün-
digungserklärung, die im Fall ihrer Wirksamkeit die gemäß § 256 Abs. 1 ZPO vom
Arbeitnehmer erstrebte Feststellung des Fortbestands eines Arbeitsverhältnisses
im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen hin-
derte und deshalb zur Abwehr seines Feststellungsbegehrens durch den Arbeit-
geber dient, handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeits-
gerichts und des Bundesgerichtshofs um
eine solche „Prozesshandlung“
.
(c)
Für die danach bestehende Ermächtigung des Klägervertreters zur Ent-
gegennahme von weiteren Kündigungen ist es ohne Belang, dass das frühere
Verfahren seinerzeit beim Arbeitsgericht anhängig war. Es kann unterstellt wer-
den, dass die Prozessvollmacht im Parteiprozess
auf
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die Abgabe von Willenserklärungen beschränkt und deren Empfang ausge-
schlossen werden kann
. Im Zweifel wird die Vollmacht nach
§§ 81, 82 ZPO unbeschränkt erteilt
. Es ist weder vom Landesarbeitsgericht festgestellt noch von der Beklag-
ten behauptet, dass die Prozessvollmacht des Klägervertreters im ersten Verfah-
ren anfänglich beschränkt war.
(d)
Die weitere Würdigung des Landesarbeitsgerichts, von der Beklagten
habe nach dem erfolglosen Zugangsversuch an der vom Kläger angegebenen
Postfachadresse eine Zustellung an dessen Prozessbevollmächtigten erwartet
werden können, ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte war von einer anderen
Kammer des Berufungsgerichts mit Urteil vom 24. Juni 2010
im Zusammenhang mit früheren gescheiterten Zugangsversuchen ausdrücklich
auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Sie hat sich mit Anwaltsschreiben
vom 11. Januar 2012 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers gewandt und
ihn unter Fristsetzung bis zum 12. Januar 2012 gebeten zu bestätigen, dass er
bevollmächtigt sei, an den Kläger gerichtete Kündigungen entgegenzuneh-
men. Eine entsprechende Erklärung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers
nicht abgegeben. Hierzu musste er sich der Beklagten gegenüber auch nicht er-
klären. Diese hätte vielmehr die beabsichtigte ordentliche Kündigung - ausge-
hend von der vorstehend dargestellten Rechtslage - dem Prozessbevollmächtig-
ten des Klägers auch ohne Rückfrage zustellen müssen, wenn deren Zugang auf
den 10. Januar 2012 hätte zurückbezogen werden sollen.
(e)
Von dieser Obliegenheit war die Beklagte nicht entbunden, weil sie un-
mittelbar nach dem gescheiterten Zugangsversuch am 10. Januar 2012 die öf-
fentliche Zustellung vorbereitet und sie am 26. Januar 2012 beim Amtsgericht
beantragt haben will. Die Voraussetzungen für die ihrerseits eine bloße Fiktion
begründende öffentliche Zustellung lagen - zumindest zunächst -
nicht vor. Sie soll
nur erfolgen, wenn ein „echter“ Zugang praktisch unmöglich ist
. Der Antrag darf nach § 132 Abs. 2
BGB lediglich bewilligt werden, wenn der Aufenthalt des Erklärungsempfängers
unbekannt ist. Dieses Erfordernis ist so zu verstehen wie in § 185 Abs. 1 Nr. 1
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ZPO
.
Deshalb war eine öffentliche Zustellung ausgeschlossen, solange - wie im Streit-
fall wenigstens bis zur Anhängigkeit der vorliegenden Klage am 27. Januar
2012 - eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten mög-
lich war.
(3)
Es kann dahinstehen, ob der Zeitpunkt des Zugangs der streitbefange-
nen ordentlichen Kündigung aufgrund des Betreibens der öffentlichen Zustellung
durch die Beklagte zwar nicht auf den 10. Januar 2012, aber auf einen
fingiert werden könnte, wenn die Emp-
fangsvollmacht des Prozessbevollmächtigten des Klägers noch in der Kündi-
gungserklärungsfrist des § 88 Abs. 3 SGB IX aF entfallen und damit die Voraus-
setzungen von § 185 Abs. 1 Nr. 1 ZPO eingetreten wären. Dies war nicht der Fall.
(a)
Die Anhängigkeit bzw. Rechtshängigkeit der vorliegenden Klage am
27. Januar 2012 bzw. 6. Februar 2012 hat für sich genommen nicht zu einer Be-
schränkung der Streitgegenstände aus dem Vorverfahren gemäß § 264 Nr. 2
ZPO und damit der Empfangsvollmacht des Prozessbevollmächtigten des Klä-
gers geführt. Vielmehr hätte es dafür einer entsprechenden Erklärung im dortigen
Rechtsstreit bedurft
. Eine solche ist vom Landesarbeitsgericht für die
hier allein interessierende Zeit bis zum 9. Februar 2012 nicht festgestellt worden.
Ebenso hat die Beklagte keinen entsprechenden Vortrag gehalten. Dass der all-
gemeine Feststellungsantrag im vorangegangenen Verfahren durch die Erhe-
bung der vorliegenden Kündigungsschutzklage - teilweise - unzulässig geworden
sein könnte, veränderte seinen Streitgegenstand nicht.
(b)
Das Landesarbeitsgericht hat auch nicht festgestellt, dass der Kläger den
Geschäftsbesorgungsvertrag mit seinem Rechtsanwalt betreffend den Vorpro-
zess gekündigt oder die diesbezügliche Prozessvollmacht isoliert widerrufen und
dies zumindest der Beklagten iSv. § 87 Abs. 1 Halbs. 1 ZPO angezeigt hätte.
(c)
Zwar kann nach § 83 Abs. 2 ZPO eine Prozessvollmacht im Parteipro-
zess - auch erst in dessen Lauf - beliebig mit Wirkung für das Außenverhältnis
beschränkt und deshalb möglicherweise auch auf die
von materiell-
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2 AZR 247/20
ECLI:DE:BAG:2020:011020.U.2AZR247.20.0
rechtlichen Willenserklärungen begrenzt werden
. Voraussetzung wäre
allerdings, dass die - nachträgliche - Beschränkung dem Gericht und dem Geg-
ner gegenüber unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird
. Im Streitfall ist weder festgestellt noch sonst ersicht-
lich, dass der Beklagten und dem Gericht des Vorprozesses in der gebotenen
Eindeutigkeit mitgeteilt worden wäre, der Prozessbevollmächtigte des Klägers sei
zum Empfang der - weiter vom allgemeinen Feststellungsantrag erfassten - Kün-
digung nicht mehr berechtigt. Solches folgt, wie das Berufungsgericht zutreffend
angenommen hat, insbes. nicht daraus, dass der Kläger mit Schreiben vom
3. Februar 2012
an das Integrationsamt mitgeteilt hat, sein Anwalt sei
nicht bevollmächtigt.
C.
Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Re-
vision zu tragen.
Koch
Rachor
Niemann
Krüger
Torsten Falke
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