Urteil des BAG vom 10.12.2020

Nichtzulassungsbeschwerde - zwischenzeitliche Klärung der Rechtsfrage

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 10. Dezember 2020
Zweiter Senat
- 2 AZN 82/20 -
ECLI:DE:BAG:2020:101220.B.2AZN82.20.0
I. Arbeitsgericht München
Endurteil vom 28. März 2017
- 30 Ca 7120/16 -
II. Landesarbeitsgericht München
Urteil vom 21. August 2019
- 8 Sa 291/17 -
Entscheidungsstichworte:
Nichtzulassungsbeschwerde - zwischenzeitliche Klärung der Rechtsfrage
ECLI:DE:BAG:2020:101220.B.2AZN82.20.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZN 82/20
8 Sa 291/17
Landesarbeitsgericht
München
BESCHLUSS
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin, Anschlussberufungsbeklagte und
Nichtzulassungsbeschwerdeführerin,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte, Anschlussberufungsklägerin und
Nichtzulassungsbeschwerdegegnerin,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts am 10. Dezember 2020 be-
schlossen:
1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts
München vom 21. August 2019 - 8 Sa 291/17 - wird auf
ihre Kosten zurückgewiesen.
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2. Der Wert des Beschwerdegegenstands wird auf
16.656,00 Euro festgesetzt.
Gründe
Die auf die Zulassungsgründe aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 ArbGG
gestützte Beschwerde ist unbegründet.
I.
Es liegt keine grundsätzliche Bedeutung einer entscheidungserheblichen
Rechtsfrage vor. Die von der Klägerin unter C II auf Seite 10 der Beschwerdebe-
gründung formulierte Rechtsfrage, ob dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung
nach § 102 Abs. 1 BetrVG zu einer außerordentlichen Kündigung Tatsachen mit-
geteilt werden müssen, die diesem die Prüfung der Erklärungsfrist des § 626
Abs. 2 BGB ermöglichen, ist nicht klärungsbedürftig. Sie ist durch das Urteil des
Senats vom 7. Mai 2020
in dem Sinn geklärt, dass ein
solches Erfordernis nicht besteht.
II.
Es liegt keine entscheidungserhebliche Abweichung in einem abstrakten
Rechtssatz des anzufechtenden Urteils von einer Entscheidung eines der in § 72
Abs. 2 Nr. 2 ArbGG angeführten Gerichte oder Spruchkörper vor. Die von der
Klägerin unter C I auf Seite 5 ff. der Beschwerdebegründung genannten Urteile
des Landesarbeitsgerichts Hamm und des Landesarbeitsgerichts Köln sind in
Bezug auf die vorstehend genannte Rechtsfrage nicht divergenzfähig iSv. § 72
Abs. 2 Nr. 2 ArbGG, da hierzu eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts er-
gangen ist
.
III.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Klärungsbedürftigkeit und
der allgemeinen Bedeutung der Rechtsfrage sowie einer Divergenz ist grundsätz-
lich derjenige der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Nichtzulas-
sungsbeschwerde
. Davon ist dann eine Ausnahme zu machen,
wenn der Zulassungsgrund - die grundsätzliche Bedeutung bzw. die Diver-
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genz - vor der Entscheidung deshalb entfällt, weil die Rechtsfrage in einem an-
deren Verfahren geklärt wurde, die Revision aber in der Sache Aussicht auf Er-
folg hat
.
1.
Dies folgt aus dem sich aus dem allgemeinen Justizgewährungsan-
spruch gemäß Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Gebot effektiven
Rechtsschutzes. Danach ist das Recht auf Zugang zu den Gerichten und eine
grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegen-
stands sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter gewährleistet.
Der Weg zu den Gerichten darf zwar von der Erfüllung und dem Fortbestand
bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Der Zugang
zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf aber nicht in
unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert
werden. Insbesondere darf ein Gericht nicht durch die Art der Handhabung ver-
fahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf die gerichtliche Durchsetzung
des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen
.
2.
Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so muss auch in diesem
Rahmen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet sein. Das Rechtsmit-
telgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel da-
her nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen. Da-
bei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit dem Rechtsmittel der Revi-
sion sowohl Individualbelange der Einzelfallgerechtigkeit als auch Allgemeinbe-
lange verfolgt
. Zwar weist § 72 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 ArbGG
der Verfolgung von Allgemeinbelangen weichenstellende Bedeutung zu. Dies
rechtfertigt aber nicht eine Auslegung dieser Norm, nach der die erfolgreiche
Durchsetzung der Individualbelange dadurch vereitelt werden kann, dass die im
Zeitpunkt der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde bestehenden Allge-
meinbelange zwischenzeitlich infolge einer gerichtlichen Entscheidung in ande-
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rer Sache entfallen. Dadurch würde das im Justizgewährungsanspruch enthal-
tene Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt
.
3.
Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht bisher nicht dazu ge-
äußert, an welchen Grundsätzen sich die vorgenannte Prüfung zu orientieren hat.
Der Senat hat bei der Beurteilung, ob ein Revisionsverfahren in der Sache Aus-
sicht auf Erfolg hätte, seiner Sachprüfung den sich aus §§ 557, 559 ZPO erge-
benden Prüfungsmaßstab und die im anzufechtenden Urteil getroffenen tatsäch-
lichen Feststellungen zugrunde gelegt. Er musste nicht darüber befinden, ob und
ggf. bis zu welchem Zeitpunkt diese im Rahmen des Beschwerdeverfahrens mit
einer Verfahrensrüge angegriffen werden könnten. Die Beschwerde hat eine
Rüge nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO nicht erhoben.
4.
Nach dem vorgenannten Maßstab ist eine Zulassung der Revision nicht
geboten, da diese keine Aussicht auf Erfolg hätte.
a)
Das Landesarbeitsgericht hat ohne revisiblen Rechtsfehler angenom-
men, die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG sei ordnungsge-
mäß erfolgt.
aa)
Dies gilt zunächst in Bezug auf die Mitteilung von Tatsachen zur Wah-
rung der Kündigungserklärungsfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB. Der Senat hat im
Rahmen eines bereits am 2. Dezember 2019 eingegangenen Revisionsverfah-
rens die Rechtsfrage, die die Klägerin zum Gegenstand ihrer am 6. Februar 2020
eingegangenen Beschwerde gemacht hat, entgegen der von ihr vertretenen
Rechtsansicht dahin entschieden, dass die Wahrung der Ausschlussfrist nicht zu
den „Gründen für die Kündigung“ iSv. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gehört, wes-
halb der Arbeitgeber hierzu keine gesonderten Ausführungen machen muss
.
bb)
Die Beklagte hat den bei ihr errichteten Betriebsrat über den Kündigungs-
sachverhalt nicht getäuscht. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Frage, ob die
Klägerin in ihrer Anhörung vom 13. Juni 2016 eingeräumt habe, der Kauf von
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Weinflaschen am 3. März 2016 sei wohl privat veranlasst gewesen, sowie bezüg-
lich bestimmter Umstände im Zusammenhang mit dem Besuch der IFAT-Messe
am 31. Mai 2016.
(1)
Der Inhalt der Unterrichtung gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist nach
ihrem Sinn und Zweck grundsätzlich subjektiv determiniert. Der Betriebsrat soll
die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe überprüfen, um sich
über sie eine eigene Meinung bilden zu können. Der Arbeitgeber muss daher
dem Betriebsrat die Umstände mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tat-
sächlich bestimmt haben. Dem kommt der Arbeitgeber dann nicht nach, wenn er
dem Betriebsrat bewusst einen unrichtigen oder unvollständigen - und damit
irreführenden - Kündigungssachverhalt schildert, der sich bei der Würdigung
durch den Betriebsrat zum Nachteil des Arbeitnehmers auswirken kann
. Der Arbeitgeber trägt die Darle-
gungs- und Beweislast dafür, dass eine ordnungsgemäße Anhörung erfolgt ist
. Auf einen entsprechenden Pro-
zessvortrag des Arbeitgebers hin darf sich der Arbeitnehmer nicht mehr darauf
beschränken, die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung pauschal mit Nichtwis-
sen zu bestreiten. Er hat sich vielmehr nach § 138 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO voll-
ständig über den vom Arbeitgeber vorgetragenen Sachverhalt zu erklären und im
Einzelnen zu bezeichnen, ob er rügen will, der Betriebsrat sei entgegen der Be-
hauptung des Arbeitgebers überhaupt nicht angehört worden, oder in welchen
einzelnen Punkten er die tatsächlichen Erklärungen des Arbeitgebers über die
Betriebsratsanhörung für falsch oder die dem Betriebsrat mitgeteilten Tatsachen
für unvollständig hält
.
(2)
Nach diesem Maßstab sind die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts
unter A I 5.2.5 der Entscheidungsgründe auf den Seiten 60 ff. des Berufungsur-
teils revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
(a)
Es hat unter Berücksichtigung aller erheblichen Umstände und mit ver-
tretbarer Begründung angenommen, die Beklagte habe dem Betriebsrat im Rah-
men des Anhörungsschreibens vom 21. Juni 2016
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hinsichtlich des Erwerbs der Weinflaschen am 3. März 2016 keinen be-
wusst unrichtigen oder unvollständigen und damit irreführenden Sachverhalt un-
terbreitet, zumal dieses Geschehnis kein zentraler Punkt des Kündigungsvor-
wurfs gewesen sei und das „Memo“
dafür
spreche, dass die Mitarbeiterinnen der Beklagten die Äußerung der Klägerin
auch in dem wiedergegebenen Sinn verstanden hätten. Entgegen der von der
Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 28. September 2020 vorgetragenen Ansicht hat
die Beklagte angesichts der übrigen Vorwürfe kein falsches Bild der Sachlage
aufgezeigt, das erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Betriebsrats hätte
haben können. Soweit die Beschwerde meint, die Ausführungen des Landesar-
beitsgerichts zu einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast bezüglich der
Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung seien fehlerhaft, trifft dies nicht zu
. Das Landesar-
beitsgericht hat auch beachtet, dass es für den Fall, dass der Arbeitnehmer die
Richtigkeit der Information des Betriebsrats bestreitet, zunächst der Darlegung
des Arbeitgebers obliegt, den Betriebsrat nicht bewusst irregeführt zu haben
. Diese Darlegungslast hat es
unter A I 5.2.5.1 der Entscheidungsgründe auf Seite 61 des Berufungsurteils
ohne Rechtsfehler dadurch als erfüllt angesehen, dass die Beklagte vorgetragen
habe, das „Memo“ habe ein Gedächtnisprotokoll der Anhörung dargestellt.
(b)
Die vorstehenden Ausführungen gelten für die Anhörung des Betriebs-
rats zu den Geschehnissen im Zusammenhang mit der IFAT-Messe entspre-
chend. Auch hier hat das Landesarbeitsgericht entgegen der Ansicht der Klägerin
rechtsfehlerfrei angenommen, es liege keine bewusste Irreführung des Betriebs-
rats durch die Beklagte vor, zumal das „Memo“ dafür spreche, dass nicht einmal
eine sachlich unrichtige Information erteilt worden sei. Konkrete Verfahrensrügen
hat die Klägerin diesbezüglich nicht erhoben.
b)
Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Beklagte habe die Kündi-
gungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt, lässt keinen revisiblen
Rechtsfehler erkennen.
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aa)
Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB kann eine außerordentliche Kündigung
nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt nach § 626 Abs. 2
Satz 2 BGB mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für
die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall, so-
bald er eine zuverlässige und hinreichend vollständige Kenntnis der einschlägi-
gen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Ar-
beitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht. Zu den maßgebenden Tatsachen gehö-
ren sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände
. Handelt es sich bei dem Arbeitgeber um eine juristische Person,
ist grundsätzlich die Kenntnis des gesetzlich oder satzungsgemäß für die Kündi-
gung zuständigen Organs maßgeblich. Sind für den Arbeitgeber mehrere Perso-
nen gemeinsam vertretungsberechtigt, genügt grundsätzlich die Kenntnis schon
eines der Gesamtvertreter
. Neben den Mitgliedern der Organe von ju-
ristischen Personen und Körperschaften gehören zu den Kündigungsberechtig-
ten auch die Mitarbeiter, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen
Kündigung übertragen hat
.
bb)
Nach den von der Klägerin nicht mit einem Antrag nach § 320 ZPO an-
gegriffenen tatbestandlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts un-
ter A I 2.2 der Entscheidungsgründe auf Seite 43 f. des Berufungsurteils erlang-
ten zur Kündigung berechtigte Mitarbeiter der Personalabteilung unstreitig erst-
mals am 9. Juni 2016 Kenntnis vom Kündigungssachverhalt. Die Klägerin macht
im Rahmen ihrer Ausführungen im Schriftsatz vom 28. September 2020 nicht gel-
tend, das Landesarbeitsgericht habe rechtsfehlerhaft nicht auf einen früheren
Zeitpunkt der Kenntnis eines zur Kündigung berechtigten Mitarbeiters der Be-
klagten abgestellt. Eine solche frühere Kenntnis ist auch nicht ersichtlich. Des-
halb spielen die Ausführungen der Klägerin zur Frage, wann ein nicht alleinver-
tretungsberechtigter Fachvorgesetzter (genau) Kenntnis hatte, ebenso wenig
eine Rolle für ihre Rechtsposition wie der Umstand, welche Mitarbeiter der Per-
sonalabteilung am 9. Juni 2016 die Kenntnis erlangten.
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c)
Andere Gründe, aus denen sich die gegenüber der Klägerin erklärte Kün-
digung als unwirksam erweisen könnte, werden von ihr nicht geltend gemacht.
Revisionsrechtlich erhebliche Fehler der anzufechtenden Entscheidung des Lan-
desarbeitsgerichts sind auch objektiv nicht ersichtlich.
IV.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 72a Abs. 5 Satz 5 ArbGG
abgesehen.
Rachor
Niemann
Schlünder
Grimberg
Niebler
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