Urteil des BAG vom 26.01.2017

Tariflicher Sonderkündigungsschutz - Tarifvorrang

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 26. Januar 2017
Zweiter Senat
- 2 AZR 405/16 -
ECLI:DE:BAG:2017:260117.U.2AZR405.16.0
I. Arbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 15. Juni 2015
- 12 Ca 4043/14 -
II. Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 24. Mai 2016
- 3 Sa 735/15 -
Entscheidungsstichworte:
Tariflicher Sonderkündigungsschutz - Tarifvorrang
ECLI:DE:BAG:2017:260117.U.2AZR405.16.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZR 405/16
3 Sa 735/15
Landesarbeitsgericht
Düsseldorf
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
26. Januar 2017
URTEIL
Metze, Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
26. Januar 2017 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Dr. Koch, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Berger, den Richter am
Bundesarbeitsgericht
Dr. Niemann
sowie
den
ehrenamtlichen
Richter
Dr. Niebler und die ehrenamtliche Richterin Schipp für Recht erkannt:
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2 AZR 405/16
ECLI:DE:BAG:2017:260117.U.2AZR405.16.0
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Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesar-
beitsgerichts Düsseldorf vom 24. Mai 2016 - 3 Sa 735/15 -
wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündi-
gung.
Die Klägerin wurde im Jahr 1981 bei der S als Schreibkraft eingestellt.
Das Arbeitsverhältnis wurde im April 1991 von der Rechtsvorgängerin der Be-
klagten, einer Anstalt des öffentlichen Rechts, fortgeführt. Zum Jahresanfang
2004 vereinbarten die Parteien eine Tätigkeit der Klägerin als Telefonistin. Die
Beklagte beschäftigt regelmäßig weit mehr als zehn Arbeitnehmer.
Bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin existierte seit dem Jahr
1969 eine in mehrfach - letztmals am 18. Dezember 2009 - abgeschlossenen
Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen enthaltene Bestimmung
folgenden Inhalts:
„Mitarbeiter/-innen, die mehr als 20 Jahre ununterbrochen
in der Bank tätig gewesen sind, können nur aus einem in
ihrer Person liegenden wichtigen Grund gekündigt wer-
den.
§ 17 Nr. 3 des Manteltarifvertrags für das private Bankgewerbe und die
öffentlichen Banken (MTV) vom 12. November 1975 lautet:
„Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben
und dem Betrieb mindestens 15 Jahre angehören, sind
nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes und bei Be-
triebsänderungen im Sinne des § 111 BetrVG kündbar.
In den Schlussbestimmungen des MTV - zuletzt in § 19 Nr. 3 - heißt es
seit dem Jahr 1954:
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„Günstigere Arbeitsbedingungen, auf die ein Arbeitnehmer
durch Betriebsvereinbarung oder kraft eines besonderen
Arbeitsvertrage
s Anspruch hat, bleiben bestehen.“
Nach § 4 Nr. 2 des Tarifvertrags zur Restrukturierung und Beschäfti-
gungssicherung vom 3. November 2011
(HTV)
hat die Beklagte vor jeder Ent-
scheidung über den Einsatz externer Dienstleister zu prüfen, ob entsprechende
Leistungen nicht intern erbracht werden können. Gemäß § 7 Nr. 2 des Interes-
senausgleichs zum „Rückbau“ der Beklagten vom 12. Juli 2013 (IA)
sind Been-
digungskündigungen aus Anlass der Betriebsänderung möglichst zu vermeiden.
Dies setzt voraus, dass die Bestandsplanungen und die daraus abzuleitenden
Abbauziele erreicht werden. Nach § 7 Nr. 1 IA ist mit Zustimmung der Beklag-
ten ein Ringtausch möglich zwischen Mitarbeitern, die von den Maßnahmen
aus dem IA nicht betroffen sind, und vergleichbaren Betroffenen, die ein Ange-
bot auf Abschluss eines Aufhebungsvertrags oder einer Altersregelung abge-
lehnt haben.
Nachdem sie die Arbeiten der Telefonzentrale einem externen Dienst-
leister übertragen, der Klägerin vergeblich ein Angebot auf Abschluss eines
Aufhebungsvertrags unterbreitet und den Betriebsrat nach § 102 BetrVG ange-
hört hatte, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schrei-
ben vom 20. Juni 2014 aus dringenden betrieblichen Gründen ordentlich zum
31. Januar 2015.
Mit der vorliegenden Klage hat sich die Klägerin rechtzeitig gegen die
Kündigung gewandt. Diese sei schon wegen Verstoßes gegen § 4 BV unwirk-
sam. Der darin enthaltene Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen ver-
stoße nicht gegen den Tarifvorrang. Sie - die Klägerin - habe auf die Gültigkeit
der normativen Regelung vertrauen dürfen. Diese sei jedenfalls in eine inhalts-
gleiche Gesamtzusage umzudeuten. Die Kündigung sei zudem nach § 7 Nr. 2
IA ausgeschlossen und sozial nicht gerechtfertigt. Die Beklagte habe den Be-
triebsrat nicht ordnungsgemäß angehört und keine Massenentlassungsanzeige
erstattet.
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Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Interesse - sinnge-
mäß beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht
durch die Kündigung der Beklagten vom 20. Juni 2014
aufgelöst worden ist.
Die Vorinstanzen haben dem Klageabweisungsantrag der Beklagten
entsprochen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin den Kündigungsschutzan-
trag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Kündigungs-
schutzklage zu Recht abgewiesen. Die ordentliche Kündigung vom 20. Juni
2014 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgelöst.
I.
Das Arbeitsverhältnis der Klägerin konnte ordentlich gekündigt werden.
1.
Zwischen den Parteien besteht kein Streit darüber, dass die streitge-
genständliche Kündigung im Zuge einer Betriebsänderung gemäß § 111
BetrVG erklärt worden ist. Damit greift der in § 17 Nr. 3 MTV normierte Schutz
vor ordentlichen Kündigungen nicht ein.
2.
Die ordentliche Kündigung - auch aufgrund einer Betriebsänderung -
war nicht durch § 4 BV ausgeschlossen. Die vormals zwischen der Rechtsvor-
gängerin der Beklagten und dem Gesamtpersonalrat und sodann zwischen der
Beklagten und dem Betriebsrat abgeschlossenen Vereinbarungen waren wegen
Verstoßes gegen die sich aus § 70 Abs. 1 Satz 2 LPVG NRW bzw. § 77 Abs. 3
Satz 1 BetrVG ergebende Regelungssperre unwirksam. Eine inhaltsgleiche Ge-
samtzusage oder betriebliche Übung über die Beschränkung des ordentlichen
Kündigungsrechts hat bei der Beklagten nicht bestanden. Grundsätze des Ver-
trauensschutzes stehen der Wirksamkeit der Kündigung vom 20. Juni 2014
ebenso wenig entgegen wie etwaige Schadensersatzansprüche der Klägerin.
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a)
§ 4 BV verstieß als normative Bestimmung gegen den Tarifvorrang.
aa)
Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige
Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise
geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt
nach Satz 2 der Vorschrift nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss
ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine gegen § 77
Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstoßende Betriebsvereinbarung ist von Anfang an un-
wirksam. Die Regelungssperre wirkt auch, wenn entsprechende Tarifbestim-
mungen erst später in Kraft treten. Die betriebliche Regelung wird dann - ex
nunc - unwirksam
. Sonstige Arbeitsbedingungen iSd. § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG sind
nicht nur materielle Arbeitsbedingungen, die den Umfang der Leistung des Ar-
beitnehmers und der Gegenleistung des Arbeitgebers betreffen, sondern alle
Regelungen, die als Gegenstand tarifvertraglicher Inhaltsnormen nach § 1 TVG
den Inhalt von Arbeitsverhältnissen ordnen. Die gesetzliche Bestimmung dient
der Sicherung der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie sowie der Er-
haltung und Stärkung der Funktionsfähigkeit der Koalitionen. Sie will verhin-
dern, dass Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen
haben, konkurrierend - und sei es inhaltsgleich - in Betriebsvereinbarungen ge-
regelt werden. Eine Betriebsvereinbarung soll weder als normative Ersatzrege-
lung für nicht organisierte Arbeitnehmer noch als Grundlage für übertarifliche
Leistungen dienen. Auch günstigere Betriebsvereinbarungen sind unwirksam.
Fällt ein Betrieb in den räumlichen, fachlichen und personellen Geltungsbereich
eines Tarifvertrags, sind die Betriebsparteien deshalb gehindert, tariflich nor-
mierte Gegenstände in einer Betriebsvereinbarung zu regeln. Die Sperrwirkung
des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG hängt nicht davon ab, dass der Arbeitgeber ta-
rifgebunden ist
. Entsprechendes gilt sowohl für die Regelungs-
sperre gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 LPVG NRW in der seit dem 22. Januar 1985
geltenden Fassung
als auch für die Vorläuferbestimmungen in § 67 LPVG NW 1958 bzw.
§ 72 Abs. 3 Satz 5 LPVG NW 1974.
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bb)
Nach diesen Grundsätzen war § 4 BV wegen Verstoßes gegen die per-
sonalvertretungs- bzw. betriebsverfassungsrechtliche Regelungssperre unwirk-
sam.
(1)
Die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin und ihre Betriebe bzw.
Dienststellen fielen seit Begründung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin mit
der S in den Geltungsbereich des MTV. Dessen § 17 Nr. 3 enthält zumindest
seit dem Jahr 1975 eine Regelung, nach der die Arbeitsverhältnisse von Arbeit-
nehmern, die ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben und dem Betrieb ein
gewisse Zeit ununterbrochen angehören, lediglich noch bei Vorliegen eines
wichtigen Grundes und bei Betriebsänderungen iSd. § 111 BetrVG gekündigt
werden können. Demgegenüber sollen nach § 4 BV die Arbeitsverhältnisse von
Arbeitnehmern, die mehr als zwanzig Jahre ununterbrochen bei der Beklagten
beschäftigt sind, nur noch aus einem in der Person des Mitarbeiters liegenden
wichtigen Grund kündbar sein. § 17 Nr. 3 MTV und § 4 BV betreffen den glei-
chen Gegenstand. Beide Bestimmungen bezwecken eine Beschränkung des
Kündigungsrechts der Arbeitgeberin, insbesondere den Schutz vor ordentlichen
Kündigungen. Die betrieblichen Vereinbarungen und die tarifliche Regelung
knüpfen an die Beschäftigungsdauer an. Zwar gewährt § 4 BV den Sonderkün-
digungsschutz unabhängig vom Lebensalter der Betroffenen. Sie tritt jedoch
auch auf diese Weise in Konkurrenz zu der tariflichen Bestimmung
. Nach § 17 Nr. 3 MTV soll ein besonde-
rer Kündigungsschutz nur unter bestimmten, näher geregelten Voraussetzun-
gen und in einem begrenzten Umfang bestehen. Diese Festlegung würde durch
die tatbestandlich anders gefasste Regelung in § 4 BV unterlaufen. Das zeigt
sich besonders deutlich daran, dass die Tarifvertragsparteien ordentliche Kün-
digungen bei Betriebsänderungen ausdrücklich zulassen. Diese Entscheidung
würde durch § 4 BV - wonach betriebsbedingte Kündigungen schlechthin aus-
geschlossen sind - konterkariert.
(2)
Aus § 19 Nr. 3 MTV folgt nichts anderes. Die Tarifnorm enthält keine
Öffnungsklausel iSv. § 70 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 LPVG NRW bzw. § 77 Abs. 3
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Satz 2 BetrVG zugunsten betrieblicher Regelungen zum Sonderkündigungs-
schutz.
(a)
§ 19 Nr. 3 MTV gestattet nach seinem Wortlaut
(„bleiben bestehen“)
und seiner systematischen Stellung im Tarifvertrag nicht den Abschluss von für
die Arbeitnehmer günstigeren „betrieblichen“ Regelungen. Im MTV finden sich
verschiedene spezifische Öffnungsklauseln, die jeweils im Zusammenhang mit
dem betreffenden Regelungsgegenstand eingefügt worden sind. Daneben kann
§ 19 Nr. 3 MTV nicht als generelle Öffnungsklausel für jedwede günstigere Re-
gelung in einer Dienst- oder Betriebsvereinbarung verstanden werden.
(b)
§ 19 Nr. 3 MTV bewirkt auch nicht, dass zumindest Betriebsvereinba-
rungen, die vor Inkrafttreten des Tarifvertrags abgeschlossen wurden, fortgel-
ten, soweit sie für die Arbeitnehmer günstigere Arbeitsbedingungen vorsehen
als dieser. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift handelt es sich um
eine bloße Besitzstandsklausel. Es sollen keine Rechtsgrundlagen sondern le-
diglich in „vortarifierter“ Zeit erworbene Ansprüche des einzelnen Arbeitnehmers
(„auf die ein Arbeitnehmer … Anspruch hat“) bestehen bleiben. Danach konnte
allenfalls ein besonderer Kündigungsschutz weiter gelten, den ein Arbeitnehmer
schon vor dem Inkrafttreten von § 17 Nr. 3 MTV im Jahr 1975 erworben hatte,
weil er zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwanzig Jahre ununterbrochen bei
der Rechtsvorgängerin der Beklagten tätig gewesen war. Bei der Klägerin wäre
dies selbst unter Berücksichtigung ihrer Vorbeschäftigungszeiten bei der S nicht
der Fall.
(3)
Bei § 4 BV handelt es sich nicht um eine Sozialplanregelung iSd. § 112
Abs. 1 Satz 2 BetrVG, die eine Milderung von Nachteilen, die Arbeitnehmern
infolge einer geplanten Betriebsänderung entstehen, zum Gegenstand hat und
für die nach § 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG die Regelungssperre des § 77 Abs. 3
Satz 1 BetrVG nicht anzuwenden wäre.
(4)
Es kann offen bleiben, ob - wogegen vieles spricht - die Wirkungen ei-
nes nachträglichen Eingreifens der Regelungssperre durch die Grundsätze des
Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit beschränkt sein können
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. Eine solche Begrenzung der Nichtigkeitsfolge kommt für die
Klägerin, deren vormaliges Arbeitsverhältnis erst im Jahr 1981 begründet wor-
den ist, nicht in Betracht. Das Inkrafttreten der im MTV vom 12. November 1975
enthaltenen Regelung in § 17 Nr. 3 hat zur Unwirksamkeit von § 4 BV geführt.
(5)
Der Einwand, der Beklagten müsse es aufgrund
Verhaltens nach
§ 242 BGB verwehrt sein, sich auf die Unwirksamkeit von § 4 BV als normative
Regelung zu berufen, liegt neben der Sache. Der Tarifvorrang nach § 70 Abs. 1
Satz 2 LPVG NRW bzw. § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG bezweckt ausschließlich
den Schutz
vor konkurrierenden Dienst- oder Be-
triebsvereinbarungen. Die Koalitionen bedürfen des Schutzes auch - und
gerade - dann, wenn eine
Betriebspartei „sehenden Auges“ gegen die Rege-
lungssperre verstoßen sollte.
b)
Eine Geltung des in § 4 BV bestimmten Sonderkündigungsschutzes
aufgrund einer Gesamtzusage oder einer betrieblichen Übung scheidet aus.
aa)
§ 4 BV kann nicht in entsprechender Anwendung von § 140 BGB in ei-
ne Gesamtzusage umgedeutet werden.
(1)
Zwar ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, eine unwirksame Be-
triebsvereinbarung entsprechend § 140 BGB in eine vertragliche Einheitsrege-
lung (Gesamtzusage oder gebündelte Vertragsangebote) umzudeuten. Das
kommt jedoch nur in Betracht, wenn besondere Umstände die Annahme recht-
fertigen, der Arbeitgeber habe sich unabhängig von der Wirksamkeit der Be-
triebsvereinbarung auf jeden Fall verpflichten wollen, seinen Arbeitnehmern die
in dieser vorgesehenen Leistungen zu gewähren. Dabei ist insbesondere zu
berücksichtigen, dass der Arbeitgeber sich von einer Betriebsvereinbarung
durch Kündigung jederzeit lösen kann, während eine Änderung der Arbeitsver-
träge, zu deren Inhalt eine Gesamtzusage wird, lediglich einvernehmlich oder
durch gerichtlich überprüfbare Änderungskündigung möglich ist. Ein hypotheti-
scher Wille des Arbeitgebers, sich unabhängig von der Wirksamkeit einer Be-
triebsvereinbarung auf Dauer einzelvertraglich zu binden, kann deshalb nur in
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Ausnahmefällen angenommen werden
.
(2)
Im Streitfall fehlen besondere Anhaltspunkte für die Annahme, die Be-
klagte habe sich unabhängig von der Wirksamkeit von § 4 BV auf jeden Fall zur
Gewährung eines entsprechenden Sonderkündigungsschutzes verpflichten wol-
len.
(a)
Dass aufgrund eines Hinweises ihrer Rechtsabteilung vom 8. Januar
1968 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten Zweifel an der Zulässigkeit der
betreffenden Regelung in einer Dienstvereinbarung bestanden und sie sich
gleichwohl auf diese Rechtsform festgelegt hat, spricht eher gegen, jedenfalls
aber nicht für die Annahme eines hypothetischen Willens der Arbeitgeberseite,
den Arbeitnehmern in jedem Fall - ggf. durch Gesamtzusage - einen entspre-
chenden Sonderkündigungsschutz einzuräumen
. Das gilt umso mehr, als die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgänge-
rin auch in der Folge jeweils erneut den Weg einer Vereinbarung mit der Arbeit-
nehmervertretung gewählt haben.
(b)
Die Behauptung der Klägerin, § 4 BV habe unbedingt in allen Arbeits-
verhältnissen gelten sollen, um den Beschäftigten eine beamtenähnliche Ver-
sorgung zukommen zu lassen, ist in mehrfacher Hinsicht unstimmig. Zum einen
wurde die beamtenähnliche Versorgung erst 1976 und damit einige Jahre nach
dem erstmaligen Inkrafttreten von § 4 BV eingeführt. Zum anderen ist die beam-
tenähnliche Versorgung seit dem Jahr 1985 nur noch im Einzelfall und seit dem
Jahr 2001 überhaupt nicht mehr angeboten worden. Schließlich und vor allem
erfolgten entsprechende Angebote teilweise schon ab einer Beschäftigungs-
dauer von zehn Jahren und legt die Klägerin nicht dar, warum ein den Regelun-
gen des § 4 BV entsprechender Sonderkündigungsschutz Voraussetzung für
die Verschaffung der beamtenähnlichen Versorgung gewesen wäre. Dement-
sprechend findet sich der von ihr hergestellte Zusammenhang auch weder in
§ 4 BV selbst noch in sonstigen Erklärungen der Rechtsvorgängerin der Beklag-
ten wieder.
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(c)
Die behauptete Erklärung der Gesellschafter der Beklagten, im Zuge
der Umwandlung ihrer Rechtsvorgängerin würden die Arbeitnehmerrechte ge-
wahrt ble
iben und die „Betriebsvereinbarungen“
fortgelten,
gibt für den Willen der Arbeitgeberseite zur Umdeutung unwirksamer Normen in
vertragliche Zusagen nichts her. Das Gleiche gilt für den Hinweis der Revision
auf „Ziff.“ IV. 1. des Sozialplans aus dem Jahr 2008, wonach ua. solchen Mitar-
beitern eine Freistellungsregelung angeboten wurde, „die nach § 4 der gelten-
den ‚Betriebsvereinbarung‘ betriebsbedingt unkündbar sind“. Auch damit hat die
Beklagte nicht den Willen zu erkennen gegeben, ggf. vertraglich an die Vorga-
ben von §
4 BV „gebunden“ zu sein.
(d)
Selbst wenn sich aus der Tatsache, dass die Beklagte zwischenzeitlich
in Neuverträgen die Anwendbarkeit von § 4 BV abbedungen hatte, folgern lie-
ße, sie habe es für möglich gehalten, infolge eines Verstoßes gegen die Rege-
lungssperre so behandelt zu werden, als sei
den „Altverträglern“ eine Gesamt-
zusage erteilt worden, besagte dies nicht, sie habe eine Umdeutung gewollt.
Der Versuch, zumindest neu in das Unternehmen eingetretene Arbeitnehmer
von einer möglichen einzelvertraglichen Bindung auszunehmen, deutete in die
Gegenrichtung.
bb)
Da die Beklagte erkennbar allenfalls annahm, zugunsten der „Altver-
trägler“ könne eine Gesamtzusage - durch Umdeutung - bereits entstanden
sein, durften dies
e die Erklärung gegenüber den „Neuverträglern“ auch nicht
gleichsam im Umkehrschluss dahin verstehen, ihnen -
den „Altverträglern“ -
solle nunmehr eine Gesamtzusage erteilt werden
.
cc)
Die von der Klägerin erstmals in der Revisionsinstanz
vorgebrachten
„Tatsachen“ zur
geltung bereits vor 1969 erteilter, durch §
4 BV bloß „zu-
sammengefasster“ bzw. „bestätigter“ Gesamtzusagen
der personal- bzw.
betriebsverfassungsrechtlichen Regelung können nach § 559 Abs. 1 Satz 1
ZPO keine Berücksichtigung mehr finden. Verfahrensrügen iSv. § 559 Abs. 1
Satz 2 iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO hat die Klägerin nicht er-
hoben. Auf die Schlüssigkeit ihres Vorbringens - auch im Hinblick darauf, dass
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die Klägerin frühestens im
Jahr 1981 „eingetreten“ ist - kommt es deshalb nicht
an.
dd)
Die Klägerin kann sich nicht auf eine betriebliche Übung berufen, nach
der ihr ein Sonderkündigungsschutz entsprechend § 4 BV zu gewähren wäre.
Es ist schon nicht ersichtlich, dass die Beklagte oder ihre Rechtsvorgängerin in
der Vergangenheit (nur) im Hinblick auf einen derartigen Sonderkündigungs-
schutz auf den Ausspruch ordentlicher Kündigungen verzichtet hätte. Insoweit
fehlte es bereits an der Abgabe eines annahmefähigen Angebots, das die Ar-
beitnehmer stillschweigend hätten annehmen können. Im Übrigen hätten sie
damit aus Sicht der Arbeitnehmer lediglich zum Ausdruck gebracht, die jeweili-
ge Dienst- bzw. Betriebsvereinbarung vollziehen zu wollen. Unstreitig hatte die
Klägerin keine Kenntnis von den in der Rechtsabteilung bestehenden Zweifeln
an der normativen Wirksamkeit von § 4 BV.
c)
Etwaige Schadensersatzansprüche der Klägerin ließen die Zulässigkeit
einer ordentlichen Kündigung unberührt. Es kann dahinstehen, ob die Beklagte
oder ihre Rechtsvorgängerin die Klägerin über bestehende Zweifel an der Wirk-
samkeit von § 4 BV hätte aufklären müssen. Die Verletzung einer solchen
Pflicht führte ggf. zu einem Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB.
Dieser wäre auf Ersatz des Vertrauensschadens gerichtet. Die Klägerin müsste
so gestellt werden, wie sie stünde, wenn sie um die
wirksamkeit von § 4 BV
gewusst hätte. Rechtsfolge wäre hingegen nicht, dass ihr ein entsprechender
Sonderkündigungsschutz zu gewähren wäre.
3.
Ein Kündigungsausschluss folgt schließlich nicht aus § 4 Nr. 1 Abs. 1
HTV iVm. § 7 Nr. 2 IA. Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler ange-
nommen, dass die Abbauziele nicht erreicht waren. Die Beklagte hat zu Recht
nur solche Mitarbeiter berücksichtigt, deren Austritt zum Prüfungszeitpunkt am
31. März 2014 feststand
. Sie musste keine Prognosen über das mögli-
che Ausscheiden weiterer Arbeitnehmer anstellen. Auch die Mitarbeiter, die sich
durch Meldung auf der Evidenzliste an einer Beendigung des Arbeitsverhältnis-
ses interessiert gezeigt hatten, waren nicht zu berücksichtigen. Gemäß § 2
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Nr. 2 Buchst. b Abs. 4 Satz 2, § 7 Nr. 1 Abs. 8 Satz 2 und § 9 Satz 3 IA besteht
kein Rechtsanspruch auf ein Ausscheiden. Vielmehr gilt nach § 2 Nr. 2
Buchst. b Abs. 4 Satz 3, § 7 Nr. 1 Abs. 8 Satz 3 und § 9 Satz 4 IA das Prinzip
der gegenseitigen Freiwilligkeit.
II.
Die Kündigung ist nach § 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG aus dringenden be-
trieblichen Gründen sozial gerechtfertigt.
1.
Die Beklagte hat die unternehmerische Entscheidung getroffen, die in-
neren Dienste einschließlich der Telefonzentrale an einen externen Dienstleis-
ter zu vergeben. Dieser zum Wegfall des Arbeitsplatzes der Klägerin führende
Entschluss stellt sich weder als rechtsmissbräuchlich dar noch war der Beklag-
ten die Fremdvergabe nach § 4 Nr. 1 Abs. 2, Nr. 2 HTV verwehrt. Diese tarifli-
che Regelung verpflichtet die Beklagte, insbesondere für die Dauer der Maß-
nahmen zur Einleitung und Umsetzung der Restrukturierungen vor jeder Ent-
scheidung zum Einsatz externer Dienstleister zu prüfen, ob die entsprechenden
Leistungen nicht von internen Mitarbeitern erbracht werden können. Mehr als
eine Prüfpflicht sieht sie nicht vor, insbesondere bezweckt sie keine Einschrän-
kung der unternehmerischen Freiheit, Arbeiten - letztlich doch - fremd zu verge-
ben.
2.
Die Revision wendet sich nicht gegen die Annahme des Landesarbeits-
gerichts, es habe keine Möglichkeit bestanden, die Klägerin auf einem anderen
Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen
, und
die Kündigung scheitere ebenso wenig an einer unzureichenden Sozialauswahl
. Die diesbezüglichen Ausführungen des Berufungsgerichts
lassen auch keinen Rechtsfehler erkennen.
III.
Sonstige Unwirksamkeitsgründe bestehen nicht. Nach der von der Re-
vision nicht in Zweifel gezogenen Annahme des Landesarbeitsgerichts hat die
Beklagte den Betriebsrat ordnungsgemäß angehört
und
bestand keine Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige
.
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IV.
Die Klägerin hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Re-
vision zu tragen.
Koch
Berger
Niemann
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