Urteil des BAG vom 16.09.2020

Beitragspflichten zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft - unwirksame AVE VTV 2012 - Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 16. September 2020
Zehnter Senat
- 10 AZR 9/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:160920.U.10AZR9.19.0
I. Arbeitsgericht Wiesbaden
Urteil vom 11. Oktober 2017
- 6 Ca 366/17 -
II. Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 13. November 2018
- 12 Sa 1718/17 -
Entscheidungsstichworte:
Beitragspflichten zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft - unwirksame
AVE VTV 2012 - Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG
ECLI:DE:BAG:2020:160920.U.10AZR9.19.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
10 AZR 9/19
12 Sa 1718/17
Hessisches
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
16. September 2020
URTEIL
Jatz, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagter, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
16. September 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht
Gallner, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Brune, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Pessinger sowie die ehrenamtlichen Richter Baschnagel
und Budde für Recht erkannt:
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10 AZR 9/19
ECLI:DE:BAG:2020:160920.U.10AZR9.19.0
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1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des
Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 13. November
2018 - 12 Sa 1718/17 - wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirt-
schaft.
Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in
der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher
Verleihung. Er ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen
der Bauwirtschaft verpflichtet. Er nimmt den Beklagten auf der Grundlage des
Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18. Dezem-
ber 2009 idF vom 21. Dezember 2011 (VTV 2011) für den Zeitraum vom 1. Ja-
nuar bis 30. November 2012 auf Beiträge iHv. 7.073,00 Euro in Anspruch. Die
geltend gemachten Beiträge beruhen auf den vom Statistischen Bundesamt er-
mittelten Durchschnittslöhnen.
Der VTV 2011 wurde am 3. Mai 2012 für allgemeinverbindlich erklärt
. Der Senat hat diese Allgemeinver-
bindlicherklärung für unwirksam befunden
.
Der nicht originär tarifgebundene Beklagte unterhält im bayerischen V ei-
nen Trockenbaubetrieb. Im streitgegenständlichen Zeitraum beschäftigte er min-
destens einen gewerblichen Arbeitnehmer.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Betrieb des Beklagten un-
terfalle dem VTV 2011. An ihn sei der Beklagte jedenfalls aufgrund des SokaSiG
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gebunden, das verfassungsgemäß sei. Die Beitragsansprüche seien nicht ver-
jährt. Der noch im Jahr 2016 eingereichte Mahnbescheid habe die Verjährung
gehemmt.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 7.073,00 Euro zu zah-
len.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat gemeint, man-
gels wirksamer Allgemeinverbindlicherklärung unterliege er nicht dem VTV 2011.
Das SokaSiG scheide als Geltungsgrund aus, weil es verfassungswidrig sei. Der
Kläger sei zudem nicht Inhaber der Ansprüche. Jedenfalls seien die streitigen
Beitragsforderungen verjährt.
Die Beitragsansprüche hat der Kläger mit einem Mahnantrag gerichtlich
geltend gemacht, den er am 13. Dezember 2016 beim Arbeitsgericht eingereicht
hat
. Der antragsgemäß ergangene Mahnbescheid ist dem Be-
klagten am 20. Januar 2017 zugestellt worden. Der anschließend erteilte Voll-
streckungsbescheid ist dem Beklagten am 9. Mai 2017 zugestellt worden. Mit ei-
nem Schriftsatz, der am 11. Mai 2017 beim Arbeitsgericht eingegangen ist, hat
der Beklagte Einspruch eingelegt. Das Arbeitsgericht hat den Vollstreckungsbe-
scheid aufrechterhalten. Die dagegen gerichtete Berufung hat das Landesar-
beitsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen
Revision will der Beklagte weiterhin erreichen, dass die Klage abgewiesen wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu
Recht stattgegeben. Der Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger für den Zeitraum
vom 1. Januar bis 30. November 2012 Sozialkassenbeiträge iHv. 7.073,00 Euro
zu zahlen.
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I.
Der Beklagte hat in zulässiger Weise gegen den ihm am 9. Mai 2017
zugestellten Vollstreckungsbescheid Einspruch eingelegt. Das Gericht hat von
Amts wegen zu prüfen, ob der Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid an
sich statthaft ist und ob er in der richtigen Form und Frist eingelegt ist. Fehlt es
an einem dieser Erfordernisse, so ist der Einspruch als unzulässig zu verwerfen
. Die Zulässigkeit des Einspruchs stellt als Prozess-
fortsetzungsbedingung eine Sachverhandlungs- und Sachurteilsvoraussetzung
dar, die auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen ist. Dabei ist das
Revisionsgericht befugt, die Zulässigkeit des Einspruchs in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht zu prüfen, ohne an etwaige ausdrückliche oder stillschwei-
gende Feststellungen und Würdigungen der Vorinstanzen gebunden zu sein
. Mit seiner
am 11. Mai 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen Einspruchsschrift hat der
Beklagte die nach § 46a Abs. 1 Satz 1 ArbGG, § 700 Abs. 1 ZPO, § 59 Satz 1
ArbGG geltende Wochenfrist gewahrt.
II.
Der Kläger hat die zulässige Klage nicht geändert, indem er die Beitrags-
forderungen auch auf § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31 SokaSiG gestützt hat. Bei-
tragsansprüche nach den Verfahrenstarifverträgen, für deren Geltungserstre-
ckung sowohl eine Allgemeinverbindlicherklärung als auch § 7 SokaSiG in Be-
tracht kommen, werden von demselben den Streitgegenstand umgrenzenden Le-
benssachverhalt erfasst. Die Ansprüche stützen sich auf dasselbe Tatgesche-
hen. Sie sind weder in ihren materiell-rechtlichen Voraussetzungen noch in ihren
Folgen oder strukturell grundlegend verschieden ausgestaltet
.
III.
Der Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger Beiträge für die Monate
Januar bis November 2012 iHv. 7.073,00 Euro zu zahlen. Die Ansprüche des
Klägers ergeben sich aus § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31 SokaSiG.
1.
Die Anlage 31 enthält den vollständigen Text des VTV 2011
. Die in § 7 Abs. 6
SokaSiG angeordnete Geltungserstreckung des VTV 2011 auf nicht Tarifgebun-
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dene ist aus Sicht des Senats verfassungsgemäß. Die Pflicht des Beklagten, Bei-
träge für einen gewerblichen Arbeitnehmer an den Kläger zu leisten, folgt aus § 1
Abs. 1, Abs. 2 Abschn. V Nr. 37, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 3 Abs. 3 Satz 1, § 18
Abs. 2 Satz 1, § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2011. Die Voraussetzungen für eine Bei-
tragspflicht des Beklagten sind erfüllt.
2.
Der Betrieb des Beklagten unterfällt dem Geltungsbereich des
VTV 2011.
a)
Der im bayerischen V gelegene Betrieb des Beklagten wird vom räumli-
chen Geltungsbereich nach § 1 Abs. 1 VTV 2011 erfasst.
b)
Der betriebliche Geltungsbereich ist nach § 1 Abs. 2 VTV 2011 eröffnet
.
Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts wurden im Betrieb des Be-
klagten bauliche Leistungen nach § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 37 VTV 2011 in Form
von Trockenbauarbeiten ausgeführt.
c)
Der persönliche Geltungsbereich des VTV 2011 erstreckt sich auf den
bei dem Beklagten beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer
.
3.
Anspruchsinhaber ist nach § 3 Abs. 3 Satz 1 VTV 2011 der Kläger. Dies
gilt auch, soweit er als Einzugsstelle Beiträge einzieht, die anderen Sozialkassen
zustehen.
a)
Der Kläger war und ist nach den Bestimmungen der Verfahrenstarifver-
träge ausdrücklich ermächtigt, auch Sozialkassenbeiträge einzuziehen, soweit
sie nicht ihm selbst, sondern anderen Sozialkassen zustehen. Die Arbeitgeber
können und konnten im Klagezeitraum nach der tariflichen Regelung des Bei-
tragseinzugsverfahrens auf die Beitragsforderungen aller systemangehörigen
Sozialkassen befreiend nur an den Kläger leisten. Er hatte und hat die aus-
schließliche Empfangszuständigkeit für die Sozialkassenbeiträge. Er tritt gegen-
über den Arbeitgebern wie ein Vollrechtsinhaber auf, wenn er die ihm tariflich
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eingeräumten Befugnisse wahrnimmt
.
b)
Der Kläger ist im Außenverhältnis zu den Arbeitgebern als Beitrags-
schuldnern allein empfangszuständig und im Beitragsprozess aktivlegitimiert.
Dem steht nicht entgegen, dass er die fremdnützig eingezogenen, nach den ta-
riflichen Regelungen anderen Sozialkassen zustehenden Beiträge an diese an-
deren Sozialkassen nach § 667 BGB herauszugeben hat. Das Innenverhältnis
zwischen dem Kläger als Einzugsstelle und den hinter ihm stehenden anderen
Sozialkassen spielt weder beim Beitragseinzug noch bei der Rückabwicklung des
Leistungsverhältnisses zwischen dem Kläger und einem Arbeitgeber, der ohne
rechtlichen Grund Beiträge an den Kläger abgeführt hat, eine entscheidende
Rolle
.
4.
Die vom Kläger für die einzelnen Kalendermonate geltend gemachten
Durchschnittsbeiträge iHv. jeweils 643,00 Euro sind revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden. Nach der Rechtsprechung des Senats ist der Kläger berechtigt, die
geschuldeten Beiträge mit einer Durchschnittsbeitragsklage geltend zu machen
und dafür die vom Statistischen Bundesamt ermittelten durchschnittlichen Brut-
tomonatslöhne in der Bauwirtschaft heranzuziehen
.
5.
Die Ansprüche sind nicht verfallen. Ihrer Durchsetzbarkeit steht auch
nicht die Einrede der Verjährung entgegen.
a)
Verfall und Verjährung der Ansprüche richten sich nach § 24 Abs. 1 und
Abs. 4 VTV 2011. Die Verfall- und die Verjährungsfrist betragen danach vier
Jahre; § 199 BGB ist anzuwenden. Die Verlängerung der Verjährungsfrist gegen-
über § 195 BGB ist nach § 202 BGB wirksam
. Für den Be-
ginn der Verjährung ist auf den Zeitpunkt der Fälligkeit abzustellen, weil ein An-
spruch iSv. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB regelmäßig entsteht, wenn er nach § 271
BGB fällig ist
.
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b)
Der älteste Beitragsanspruch für Januar 2012 war nach § 21 Abs. 1
Satz 1 VTV 2011 mit dem 15. Februar 2012 fällig. Damit begann die Verjährungs-
frist mit dem Schluss des Jahres 2012 zu laufen und endete am 31. Dezember
2016. Durch den am 13. Dezember 2016 eingereichten Mahnantrag hat der Klä-
ger die Verfallfrist gewahrt
. Die Verjährung wurde nach § 204
Abs. 1 Nr. 3 BGB gehemmt. Der Mahnbescheid wurde dem Beklagten am
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Januar 2017 und damit „demnächst“ iSv. § 167 ZPO zugestellt.
c)
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger zur Begründung der Ansprü-
che als Geltungsgrund des VTV 2011 zunächst die Allgemeinverbindlicherklä-
rung und erst im Verlauf des Rechtsstreits das SokaSiG herangezogen hat. Bei
den Beitragsansprüchen handelt es sich um denselben Streitgegenstand, unab-
hängig davon, ob ein Verfahrenstarifvertrag aufgrund einer Allgemeinverbind-
licherklärung oder nach § 7 SokaSiG zur Anwendung kommt
. Auf die Rüge der Revision, die Voraussetzungen des § 213 BGB seien
nicht erfüllt, kommt es damit nicht an.
6.
Der Beklagte ist an den VTV 2011 nach § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31
SokaSiG gebunden. Das SokaSiG ist als Geltungsgrund für die Verfahrenstarif-
verträge nach Auffassung des Senats verfassungsgemäß
. Die An-
griffe der Revision führen zu keiner anderen Beurteilung.
a)
§ 7 SokaSiG verstößt nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG
.
aa)
Nach Auffassung des Senats verletzt das SokaSiG nicht die negative Ko-
alitionsfreiheit. Soweit die gesetzliche Geltungserstreckung der Verfahrenstarif-
verträge einen mittelbaren Druck erzeugen sollte, um der größeren Einflussmög-
lichkeit willen Mitglied einer der tarifvertragsschließenden Parteien zu werden, ist
dieser Druck jedenfalls nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit
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verletzt würde
.
bb)
Ein Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG liegt nach Auffassung des Senats fern.
Die Tarifvertragsparteien hatten für alle von § 7 SokaSiG in Bezug genommenen
Verfahrenstarifverträge einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung gestellt.
Beim Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung unterliegt der Normgeber der
Grundrechtsbindung
. Inhaltliche Veränderungen der Verfahrens-
tarifverträge sind mit dem SokaSiG nicht verbunden
.
cc)
Ein etwaiger Eingriff in die Tarifautonomie durch die gesetzliche Gel-
tungserstreckung ist jedenfalls im Interesse der Sicherung der Funktionsfähigkeit
des Systems der Tarifautonomie gerechtfertigt. Das SokaSiG dient einem legiti-
men Zweck, weil es den Fortbestand der Sozialkassenverfahren in der Bauwirt-
schaft sichern und Bedingungen für einen fairen Wettbewerb schaffen soll. Das
Gesetz ist geeignet, weil es jedenfalls förderlich ist, diese Ziele zu erreichen. Der
Gesetzgeber verfügt über einen Einschätzungsspielraum für die Beurteilung der
tatsächlichen Grundlagen einer Regelung. Die Grenze liegt dort, wo sich deutlich
erkennbar abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen hat
. Dafür sind
keine Anhaltspunkte gegeben
. Das SokaSiG ist ferner erforderlich. Die vom Gesetzgeber angestellten
Erwägungen sind von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt. Indem § 7
SokaSiG nicht nur Rückforderungsansprüche ausschließt, sondern auch den zu-
künftigen Beitragseinzug sicherstellt, kann dieser Zweck erreicht werden. Eine
auf Rückforderungsansprüche beschränkte Regelung wäre zwar milder gewe-
sen, aber nicht gleich wirksam
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. Die mit § 7 SokaSiG verbundenen Belastungen für nicht tarifgebun-
dene Arbeitgeber hält der Senat angesichts der mit der Norm verfolgten Ziele für
zumutbar
.
b)
§
7 SokaSiG „annulliert“ nicht unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2
und Abs. 3 GG entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung. Mit der
gesetzlichen Erstreckungsanordnung sollte - letztlich mit Rücksicht auf die For-
derungen der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit - statt anfechtbaren
Rechts unanfechtbares Recht gesetzt werden. Der Gesetzgeber hat dabei weder
die Rechtsprechung des Senats „kassiert“, noch hat er „neues“ Recht geschaffen
oder in die allein dem Bundesverfassungsgericht zukommende Kompetenz zur
Aufhebung von Akten der Judikative eingegriffen. Vielmehr hat er lediglich eine
unwirksame Erstreckung der Normwirkung der Verfahrenstarifverträge durch
eine wirksame - gesetzliche - Erstreckungsanordnung ersetzt, um auf diese
Weise den weitreichenden Folgen der Beschlüsse des Senats vom 21. Septem-
ber 2016
und 25. Januar 2017
entgegenzuwirken
. Das von der Revision der Sache nach
reklamierte Vertrauen darauf, der Gesetzgeber werde eine gerichtliche Entschei-
dung nicht zum Anlass nehmen, die sich daraus ergebenden Folgen zu bewälti-
gen, ist nicht schutzwürdig. Unter Umständen kann es sogar rechtsstaatlich an-
gezeigt sein, eine zuvor nur scheinbar vorhandene Rechtslage rückwirkend her-
zustellen
. Wenn der Beklagte dar-
über hinaus meint, §
5 TVG sei „grundsätzlich nicht erweiterbar“, übersieht er,
dass Art. 70 Abs. 2, Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dem Bund eine um-
fassende Zuständigkeit für privatrechtliche und auch öffentlich-rechtliche Bestim-
mungen über die Rechtsbeziehungen im Arbeitsverhältnis zuweisen. Sie er-
streckt sich unter anderem auf das Tarifvertragsrecht, ohne dem Vorbehalt der
Erforderlichkeit des Art. 72 Abs. 2 GG zu unterliegen
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.
c)
§ 7 SokaSiG verletzt nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG
geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht
in unzulässiger Weise belastet zu werden
. Ob der Sachverhalt einer der in der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen zuge-
ordnet werden kann, ist nicht von Belang. Es kommt allein darauf an, ob die be-
troffene Personengruppe bei objektiver Betrachtung auf den Fortbestand der bis-
herigen Regelung vertrauen konnte
.
aa)
Bis zum 20. September 2016 bestand keine Grundlage für ein Vertrauen
auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV in der Fas-
sung der Anlage 31 des SokaSiG, auf die § 7 Abs. 6 SokaSiG verweist. Die Ar-
beitgeber mussten vielmehr vom Gegenteil ausgehen und ihre wirtschaftlichen
Dispositionen auf die vollständige Erfüllung der in den Verfahrenstarifverträgen
geregelten Pflichten einrichten
. Es entsprach der weit überwiegenden Rechtsan-
sicht, dass diese Fassung des VTV wirksam für allgemeinverbindlich erklärt wor-
den war. Die von den in Anspruch genommenen Arbeitgebern gehegten Zweifel
waren keine geeignete Grundlage für die Bildung von Vertrauen dahin, dass auf
der Annahme der fehlenden Normwirkung der Verfahrenstarifverträge beruhen-
den Dispositionen nicht nachträglich die Grundlage entzogen werden würde
.
bb)
Mit Blick auf den von § 7 Abs. 6 SokaSiG erfassten Zeitraum konnte sich
bei dem Beklagten aufgrund der Entscheidungen des Senats vom 21. September
2016
und
25. Januar 2017
kein hinreichend ge-
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festigtes und damit schutzwürdiges Vertrauen darauf bilden, nicht zu Sozialkas-
senbeiträgen herangezogen zu werden. Vielmehr musste er nach der rechtlichen
Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge von § 7 Abs. 6
SokaSiG zurückbezogen wird, damit rechnen, dass die tariflichen Rechtsnormen
durch Gesetz rückwirkend wieder auf nicht originär tarifgebundene Arbeitgeber
erstreckt werden würden. Der Gesetzgeber brauchte auf in der Zwischenzeit den-
noch getätigte gegenläufige Vermögensdispositionen keine Rücksicht zu neh-
men
.
cc)
Der Beklagte beruft sich vergeblich darauf,
die „Ersetzung“ der unwirksa-
men Allgemeinverbindlicherklärung durch eine gesetzliche Regelung sei nicht
möglich gewesen.
(1)
Die Geltungserstreckung von Tarifverträgen auf nicht originär Tarifge-
bundene war allein mit Blick auf § 7 AEntG schon vor Inkrafttreten des SokaSiG
nicht auf die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG beschränkt.
(2)
Der Gesetzgeber ist dazu befugt, die Funktionsfähigkeit des Systems der
Tarifautonomie durch gesetzliche Regelungen herzustellen und zu sichern. Er
kann auch bereits bestehende gesetzliche Rahmenbedingungen für das Handeln
der Koalitionen ändern oder ergänzen, um dem Handeln der Koalitionen und ins-
besondere der Tarifautonomie Geltung zu verschaffen
. Daher steht dem Gesetz-
geber die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allge-
meinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter
frei
. Die Rechtsform
ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbind-
licherklärung von Tarifverträgen
. Ein Vertrauen, nur aufgrund einer wirksamen Allgemeinverbindlicherklä-
rung in Anspruch genommen zu werden, ist nicht schutzwürdig
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. Deshalb kommt es auf das Argument des Be-
klagten nicht an, eine Allgemeinverbindlicherklärung mit Rückwirkung wäre nicht
möglich gewesen.
IV.
Der Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen
Revision zu tragen.
Gallner
Brune
Pessinger
R. Baschnagel
Budde
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