Urteil des BAG vom 15.07.2020

Gemeinsame Einrichtungen - tarifliche Regelungsmacht - Bäckerhandwerk

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BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 15.7.2020, 10 AZR 573/18
ECLI:DE:BAG:2020:150720.U.10AZR573.18.0
Gemeinsame Einrichtungen - tarifliche Regelungsmacht - Bäckerhandwerk
Leitsätze
Die tarifliche Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien ist im Hinblick auf die Errichtung und Ausgestaltung von
gemeinsamen Einrichtungen iSv. § 4 Abs. 2 TVG durch Art. 9 Abs. 3 GG begrenzt. Sie ist nicht auf die
Regelungsmaterien des § 1 Abs. 1 TVG beschränkt.
Tenor
1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Köln vom 1. Oktober 2018 - 5 Sa 54/18 - wird
zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über Beiträge zu dem Förderungswerk des Bäckerhandwerks.
2 Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Bäckerhandwerks in der
Rechtsform eines eingetragenen Vereins, der nicht auf einen wirtschaftlichen Zweck gerichtet ist. § 3 des
zwischen dem Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e. V. und der Gewerkschaft Nahrung-
Genuss-Gaststätten geschlossenen Tarifvertrags über die Errichtung eines Förderungswerkes für die
Beschäftigten des Deutschen Bäckerhandwerks vom 18. Dezember 2002 (TV FW) lautet:
„§ 3 Zweck des Förderungswerkes
Zweck des ‚Förderungswerkes‘ ist es, ohne Begründung eines Rechtsanspruches aus den ihm nach
§ 4 zufließenden Mitteln der Bildung, insbesondere der Aus- und Weiterbildung dienende
Maßnahmen zu bestreiten und insbesondere Beihilfen an Einrichtungen zur beruflichen und
staatsbürgerlichen Bildung zu leisten.
…“
3 Nach § 4 TV FW und § 2 des Verfahrenstarifvertrags zum Tarifvertrag über die Errichtung eines
Förderungswerkes für die Beschäftigten des Deutschen Bäckerhandwerks vom 18. Dezember 2002 (VTV-
Bäckerhandwerk) sind die Arbeitgeber verpflichtet, in jedem Kalenderjahr 1,1 Promille der Lohnsumme des
Vorjahres an das Förderungswerk zu zahlen.
4 Der TV FW und der VTV-Bäckerhandwerk sind am 28. März 2003 vom Bundesministerium für Wirtschaft und
Arbeit für allgemeinverbindlich erklärt worden.
5 Der Beklagte betreibt in Brandenburg eine handwerkliche Bäckerei, in der er Arbeitnehmer beschäftigt. Er
entrichtete den am 30. Juni 2015 für das Jahr 2015 fälligen Mitgliedsbeitrag in rechnerisch unstreitiger Höhe
von 45,65 Euro nicht.
6 Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der geltend gemachte Anspruch ergebe sich aus § 4 TV FW und § 2
VTV-Bäckerhandwerk. Diese Tarifverträge seien aufgrund von §§ 28, 29 iVm. den Anlagen 75 und 76
SokaSiG2 anwendbar. Das SokaSiG2 sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger unterstütze
die Bildungseinrichtungen des Bäckerhandwerks - den gemeinnützigen Verein Bildung und Beruf e. V. und
die ebenfalls gemeinnützige Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Weinheim - sowie die von den
Landesinnungsverbänden getragenen Bildungsangebote und Bildungseinrichtungen. Diese böten mithilfe
der zugewiesenen Mittel weit über die Vorbereitung zur Meisterprüfung hinausgehende Aus- und
Weiterbildungsangebote an. Der Kläger sichere damit die finanziellen Grundlagen der Aus- und
Weiterbildung im Bäckerhandwerk. Ohne den Kläger wären zahlreiche Aus- und Fortbildungsangebote, wie
beispielsweise die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung, die Teil der Berufsausbildung sei, bis hin zu den
Meisterkursen, nicht aufrechtzuerhalten.
7 Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 45,65 Euro nebst Zinsen hieraus iHv. fünf Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz seit 1. Juli 2015 zu zahlen.
8 Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, das SokaSiG2 sei
verfassungswidrig. Es entfalte insbesondere eine unzulässige echte Rückwirkung und verstoße im Übrigen
gegen die Koalitions- und Vereinigungsfreiheit sowie den allgemeinen Gleichheitssatz. Die
Allgemeinverbindlicherklärung richte sich nach dem Tarifvertragsgesetz in der bis zum 15. August 2014
geltenden Fassung. Der Gesetzgeber könne nicht durch Gesetz anordnen, dass in bestimmten Fällen die
Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeit gegeben seien. Eine rückwirkende Heilung der
Allgemeinverbindlicherklärung verstoße auch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Die
Allgemeinverbindlichkeit „gehe“ im Übrigen „ins Leere“, weil sie keinen wirksamen Tarifvertrag in Bezug
nehme. Mit Beihilfen des Klägers werde staatsbürgerliche Bildung gefördert. Das liege außerhalb der
Befugnisse der Tarifvertragsparteien und verletze den Beklagten in seiner Weltanschauungsfreiheit aus
Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Verstoßen werde auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, weil
Innungsmitglieder niedrigere Seminarkosten entrichten müssten als andere Arbeitgeber. Schließlich stelle
sich die Frage, ob in Bundesländern wie Brandenburg, in denen der Kläger keine Ausbildungsförderung
erbringe, eine Beitragspflicht angeordnet werden dürfe.
9 Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision
verfolgt der Beklagte weiter das Ziel, dass die Klage abgewiesen wird.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung zu Recht
zurückgewiesen.
11 I. Die Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch gegen den Beklagten auf den geltend gemachten
Beitrag für das Jahr 2015 iHv. 45,65 Euro aus §§ 28 und 29 iVm. den Anlagen 75 und 76 SokaSiG2. Die
Anlagen 75 und 76 enthalten den vollständigen Text des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk. Die Höhe
der Beitragspflicht von 1,1 Promille der Lohnsumme des Vorjahres ergibt sich aus § 4 TV FW und § 2 VTV-
Bäckerhandwerk.
12 1. Der im Land Brandenburg gelegene Betrieb des Beklagten unterfällt dem räumlichen Geltungsbereich
des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk (§ 1 Buchst. a TV FW, § 1 Buchst. a VTV-Bäckerhandwerk).
13 2. Die bei dem Beklagten beschäftigten Arbeitnehmer werden vom persönlichen Geltungsbereich des
TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk erfasst (§ 1 Buchst. c TV FW, § 1 Buchst. c VTV-Bäckerhandwerk).
14 3. Der betriebliche Geltungsbereich ist nach § 1 Buchst. b TV FW und § 1 Buchst. b VTV-Bäckerhandwerk
eröffnet. Nach den identischen Regelungen beider Tarifverträge gelten diese für Betriebe des
Bäckerhandwerks, die überwiegend Brot, Brötchen, sonstiges Kleingebäck und Feine Backwaren aus
Blätter-, Mürbe-, Biskuit- und Hefeteig herstellen und/oder vertreiben, ferner für solche Betriebe, die in
Verbindung mit den vorgenannt bezeichneten überwiegenden Tätigkeiten auch Torten und Desserts
herstellen und/oder vertreiben. Das Landesarbeitsgericht ist davon ausgegangen, dass der Beklagte 2015
einen Betrieb des Bäckerhandwerks in diesem Sinn unterhielt. Das greift die Revision nicht an.
15 4. Der Beklagte war im streitigen Zeitraum nach §§ 28 und 29 iVm. den Anlagen 75 und 76 SokaSiG2 an
den TV FW und den VTV-Bäckerhandwerk gebunden. Gegen die Geltungserstreckung auf den Beklagten
bestehen aus Sicht des Senats keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (BAG 17. Juni
2020 - 10 AZR 322/18 - Rn. 53 ff.; 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 31 ff., BAGE 166, 233; vgl. für das
SokaSiG BAG 22. Januar 2020 - 10 AZR 323/18 - Rn. 24 ff.; 22. Januar 2020 - 10 AZR 387/18 - Rn. 45 ff.;
18. Dezember 2019 - 10 AZR 424/18 - Rn. 71 ff.; 27. November 2019 - 10 AZR 399/18 - Rn. 28 ff.;
27. November 2019 - 10 AZR 400/18 - Rn. 28 ff.; 27. November 2019 - 10 AZR 476/18 - Rn. 46 ff.;
30. Oktober 2019 - 10 AZR 567/17 - Rn. 49 ff.; 30. Oktober 2019 - 10 AZR 38/18 - Rn. 15 ff.; 30. Oktober
2019 - 10 AZR 177/18 - Rn. 55; 24. September 2019 - 10 AZR 562/18 - Rn. 20 ff.; 28. August 2019 - 10 AZR
549/18 - Rn. 84 ff., BAGE 167, 361; 28. August 2019 - 10 AZR 550/18 - Rn. 23 ff.; 3. Juli 2019 - 10 AZR
498/17 - Rn. 39 ff.; 3. Juli 2019 - 10 AZR 499/17 - Rn. 81 ff., BAGE 167, 196; 8. Mai 2019 - 10 AZR 559/17 -
Rn. 29 ff.; 27. März 2019 - 10 AZR 318/17 - Rn. 47 ff.; 27. März 2019 - 10 AZR 512/17 - Rn. 32 ff.;
20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 42 ff., BAGE 164, 201). Die Angriffe der Revision führen nicht zu
einer anderen Beurteilung.
16 a) §§ 28 und 29 SokaSiG2 sind mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar.
17 aa) Ein Verstoß des SokaSiG2 gegen Art. 9 Abs. 3 GG kann nicht damit begründet werden, dass es den frei
gebildeten Koalitionen und nicht dem Gesetzgeber zustehe, die Arbeitsbedingungen in eigener
Verantwortung zu gestalten.
18 (1) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Grundrecht aus Art. 9
Abs. 3 GG in erster Linie ein Freiheitsrecht auf spezifisch koalitionsgemäße Betätigung (BVerfG 12. Juni
2018 - 2 BvR 1738/12 ua. - Rn. 115, BVerfGE 148, 296). Die vorbehaltlos gewährleistete Koalitionsfreiheit
verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht jede Regelung im Schutzbereich dieses Grundrechts. Art. 9 Abs. 3
GG verschafft den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen offenstehenden Bereich
kein Normsetzungsmonopol (BVerfG 3. April 2001 - 1 BvL 32/97 - zu B 3 der Gründe, BVerfGE 103, 293).
Gesetzliche Regelungen, die eine Beeinträchtigung von Art. 9 Abs. 3 GG bewirken, können zugunsten der
Grundrechte Dritter sowie sonstiger mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechte und Gemeinwohlbelange
gerechtfertigt werden. Sollen sie die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und
sichern, verfolgen sie einen legitimen Zweck. Der Gesetzgeber hat eine entsprechende
Ausgestaltungsbefugnis. Er hat die Rechtsinstitute und Normenkomplexe zu setzen, die dem Handeln der
Koalitionen und insbesondere der Tarifautonomie Geltung verschaffen (BVerfG 11. Juli 2017 - 1 BvR
1571/15 ua. - Rn. 143 ff., BVerfGE 146, 71).
19 (2) Ein etwaiger Eingriff in die Tarifautonomie ist jedenfalls gerechtfertigt. Die Regelungen der §§ 28
und 29 SokaSiG2 dienen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und verfolgen damit einen legitimen
Zweck. Sie sichern den Fortbestand des Sozialkassensystems im Bäckerhandwerk und des von den
Tarifvertragsparteien des Bäckerhandwerks geschaffenen Förderungswerks, indem sie die Anwendung
des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk auf Nichtverbandsmitglieder ausdehnen (vgl. BT-Drs. 18/12827
S. 1 f. und S. 5 f.). Das Gesetz ist geeignet, weil es jedenfalls förderlich ist, diese Ziele zu erreichen. Es ist
auch erforderlich. Die vom Gesetzgeber angestellten Erwägungen sind von seinem
Einschätzungsspielraum gedeckt. Schließlich sind die mit §§ 28 und 29 SokaSiG2 verbundenen
Belastungen zumutbar. Die bezweckte Sicherung des Sozialkassenverfahrens stellt einen gewichtigen
Belang im Rahmen der durchzuführenden Abwägung dar. Demgegenüber wird die Tarifautonomie der
vom SokaSiG2 erfassten Arbeitgeber und Verbände allenfalls geringfügig beeinträchtigt (vgl. BAG
22. Januar 2020 - 10 AZR 387/18 - Rn. 48 ff.; 28. August 2019 - 10 AZR 550/18 - Rn. 26).
20 bb) Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass er aufgrund der Normerstreckung mit einer
Beitragspflicht belastet werde, ohne Mitwirkungsrechte zu haben. Nach Auffassung des Senats verletzt das
SokaSiG2 nicht die negative Koalitionsfreiheit des Beklagten aus Art. 9 Abs. 3 GG. Soweit die gesetzliche
Geltungserstreckung des TV FW sowie des VTV-Bäckerhandwerk einen mittelbaren Druck erzeugen sollte,
um der größeren Einflussmöglichkeit willen Mitglied einer der tarifvertragsschließenden Parteien zu
werden, ist dieser Druck jedenfalls nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit verletzt würde
(BAG 17. Juni 2020 - 10 AZR 322/18 - Rn. 57; 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 41, BAGE 166, 233;
20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 52, BAGE 164, 201). Auch aufgrund der geringen Beitragshöhe
im Bäckerhandwerk von 1,1 Promille der Lohnsumme, die allenfalls einen kaum spürbaren Beitrittsdruck
erzeugen könnte, liegt eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit fern.
21 b) Die gesetzliche Normerstreckung nach §§ 28 und 29 SokaSiG2 verletzt den Beklagten nicht in seiner
Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG. Der Beklagte sieht eine Verletzung seiner Vereinigungsfreiheit
darin, dass er vom klagenden Verein aufgrund des SokaSiG2 zwangsweise zu Beiträgen herangezogen
werde, ohne eine Mitgliedschaft im Verein und damit Mitwirkungsrechte begründen zu können. Neben der
Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 GG ist die Koalitionsfreiheit ausdrücklich in Art. 9 Abs. 3 GG garantiert
(BVerfG 13. Juli 2018 - 1 BvR 1474/12 ua. - Rn. 4, BVerfGE 149, 160). Von der allgemeinen
Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG unterscheidet sich die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG
durch die Einbeziehung eines bestimmten Vereinigungszwecks in den grundrechtlichen Schutz (BVerfG
26. Juni 1991 - 1 BvR 779/85 - zu C I 1 a der Gründe, BVerfGE 84, 212). Die Tarifvertragsparteien
übertragen gemeinsamen Einrichtungen iSv. § 4 Abs. 2 TVG Aufgaben, die im Rahmen ihrer von Art. 9
Abs. 3 GG umgrenzten tariflichen Regelungsmacht liegen (vgl. BVerfG 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/74 ua. -
zu A I 2 der Gründe, BVerfGE 55, 7; BAG 22. Oktober 2003 - 10 AZR 13/03 - zu II 1 der Gründe, BAGE 108,
155; Wiedemann/Oetker 8. Aufl. TVG § 1 Rn. 780). Aufgrund der koalitionsspezifischen Zwecke, die mit
gemeinsamen Einrichtungen verfolgt werden, ist der grundrechtliche Prüfungsmaßstab nicht Art. 9 Abs. 1
GG, sondern Art. 9 Abs. 3 GG zu entnehmen.
22 c) §§ 28 und 29 SokaSiG2 verstoßen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
23 aa) Der allgemeine Gleichheitssatz ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten anders behandelt
wird als eine andere, obwohl zwischen den Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen,
dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab (vgl. BVerfG 26. März 2019
- 1 BvR 673/17 - Rn. 64, BVerfGE 151, 101; 7. Mai 2013 - 2 BvR 909/06 ua. - Rn. 76, BVerfGE 133, 377;
BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 45, BAGE 166, 233).
24 bb) §§ 28 und 29 SokaSiG2 führen nicht zu einer Ungleichbehandlung, sondern zu einer
Gleichbehandlung aller Betriebe des Bäckerhandwerks, die unter den räumlichen und fachlichen
Geltungsbereich des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk fallen, unabhängig von einer etwa
bestehenden Verbandsmitgliedschaft. Die tarifgebundenen Betriebe müssen dieselben Beiträge leisten
wie die Nichtmitglieder. Sie genießen ihnen gegenüber auch keine sonstigen Privilegien. Die Gruppen der
Mitglieder und der Nichtmitglieder sind vergleichbar (vgl. BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 46,
BAGE 166, 233; 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 65, BAGE 164, 201).
25 cc) Der Gesetzgeber hat die normative Erstreckung nicht auf das Bäckerhandwerk beschränkt, sondern in
§§ 1 bis 38 SokaSiG2 diejenigen Branchen einbezogen, in denen Sozialkassenverfahren bestehen, die
auf für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen beruhen (BT-Drs. 18/12827 S. 1 f.). Damit beziehen
sich die Regelungen des SokaSiG2 auf die Branchen, deren Sozialkassenverfahren aufgrund der
Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 und 25. Januar 2017 nach § 98 ArbGG zu den
Voraussetzungen von wirksamen Allgemeinverbindlicherklärungen gefährdet sein könnten (BAG
21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; 21. September 2016 - 10 ABR 48/15 - BAGE 156,
289; 25. Januar 2017 - 10 ABR 34/15 -; 25. Januar 2017 - 10 ABR 43/15 -; nachgehend BVerfG 10. Januar
2020 - 1 BvR 4/17 -). Diese Abgrenzung ist nach dem Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden
(BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 47, BAGE 166, 233).
26 d) Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, mit der gesetzlichen Geltungserstreckung des
SokaSiG2 werde das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt, weil eine höchstrichterliche Rechtsprechung
umgangen werde. Das SokaSiG2 „annulliert“ nicht unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG
entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung. Mit der gesetzlichen Erstreckungsanordnung sollte
- letztlich mit Rücksicht auf die Forderungen der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit - statt
anfechtbaren Rechts unanfechtbares Recht gesetzt werden. Der Gesetzgeber hat dabei weder die
Rechtsprechung des Senats „kassiert“, noch hat er „neues“ Recht geschaffen oder in die allein dem
Bundesverfassungsgericht zukommende Kompetenz zur Aufhebung von Akten der Judikative eingegriffen.
Vielmehr hat er lediglich eine möglicherweise unwirksame Erstreckung der Normwirkung der
Verfahrenstarifverträge um eine wirksame - gesetzliche - Erstreckungsanordnung ergänzt, um auf diese
Weise den möglichen Folgen der Beschlüsse des Senats vom 21. September 2016 auch für andere
Branchen vorzubeugen (vgl. für das SokaSiG BAG 30. Oktober 2019 - 10 AZR 38/18 - Rn. 25;
20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 92 f., BAGE 164, 201).
27 e) §§ 28 und 29 SokaSiG2 verletzen entgegen der Auffassung des Beklagten nicht das durch Art. 2 Abs. 1
iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in
unzulässiger Weise belastet zu werden.
28 aa) Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der
Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und
Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer
Grundlage erworbenen Rechte (BVerfG 10. April 2018 - 1 BvR 1236/11 - Rn. 133, BVerfGE 148, 217).
Normen mit echter Rückwirkung („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“) sind danach grundsätzlich
verfassungsrechtlich unzulässig, sofern eine Durchbrechung dieses Verbots nicht ausnahmsweise durch
zwingende Belange des Gemeinwohls oder ein nicht - oder nicht mehr - vorhandenes schutzbedürftiges
Vertrauen des Einzelnen gestattet wird (BVerfG 16. Dezember 2015 - 2 BvR 1958/13 - Rn. 43,
BVerfGE 141, 56; BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 49, BAGE 166, 233).
29 bb) Die in §§ 28 und 29 SokaSiG2 angeordnete echte Rückwirkung begegnet keinen durchgreifenden
verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei den nicht originär tarifgebundenen Arbeitgebern konnte sich kein
schutzwürdiges Vertrauen darauf bilden, von Beitragszahlungen verschont zu bleiben.
30 (1) Bis zum 20. September 2016 bestand keine Grundlage für ein Vertrauen auf die Unwirksamkeit der
Allgemeinverbindlicherklärung des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk. Das gilt für den unmittelbar von
den Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR
48/15 - BAGE 156, 289) betroffenen Bereich der Bauwirtschaft (BAG 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 -
Rn. 77 ff., BAGE 164, 201). Ebenso wenig konnte sich bis zu diesem Zeitpunkt in anderen Branchen wie
dem Bäckerhandwerk ein Vertrauen darauf bilden, die Allgemeinverbindlicherklärung des TV FW und des
VTV-Bäckerhandwerk sei unwirksam (vgl. BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 55, BAGE 166, 233).
31 (2) Die nicht verbandszugehörigen Arbeitgeber des Bäckerhandwerks konnten auch nach den
Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 -
BAGE 156, 289) nicht darauf vertrauen, nicht mehr zu Beiträgen zum Förderungswerk herangezogen zu
werden. Aufgrund der Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 stand nicht fest, dass auch die
Allgemeinverbindlicherklärung des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk in einem Verfahren nach § 98
ArbGG für unwirksam erklärt werden würde (vgl. BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 56 ff.,
BAGE 166, 233).
32 5. Der TV FW und der VTV-Bäckerhandwerk verstoßen nicht gegen verfassungsrechtliche Vorgaben. Das
gilt auch, wenn die Regelungen des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk unmittelbar am Maßstab der
Grundrechte zu prüfen sein sollten.
33 a) Die Tarifvertragsparteien sind bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden
(BAG 19. Dezember 2019 - 6 AZR 563/18 - Rn. 19; 27. Juni 2018 - 10 AZR 290/17 - Rn. 33, BAGE 163,
144). Bei allgemeinverbindlichen Tarifverträgen ist die Allgemeinverbindlicherklärung unmittelbar am
Maßstab der Grundrechte zu prüfen, weil sie einen staatlichen Rechtsakt darstellt. Umstritten ist die Frage,
ob auch der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag unmittelbar an Grundrechten zu prüfen ist. Diese
Frage hat der Senat zuletzt offengelassen (BAG 28. August 2019 - 10 AZR 549/18 - Rn. 43 ff. mwN,
BAGE 167, 361).
34 b) Es kann auch hier dahinstehen, ob Tarifverträge, deren Anwendung auf nicht unmittelbar tarifgebundene
Arbeitgeber durch das SokaSiG2 angeordnet wird, unmittelbar am Maßstab der Grundrechte zu beurteilen
sind. Der TV FW sowie der VTV-Bäckerhandwerk verstoßen auch dann nicht gegen die Verfassung, wenn
sie unmittelbar am Maßstab der Grundrechte zu prüfen sind.
35 aa) Der Beklagte kann sich insbesondere nicht mit Erfolg darauf berufen, § 3 TV FW verletze ihn in seiner
Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, weil auch staatsbürgerliche Bildung gefördert
werde.
36 (1) Die beiden ersten Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches
Grundrecht (BVerfG 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 - Rn. 78 mwN, BVerfGE 153, 1; 27. Januar 2015
- 1 BvR 471/10 ua. - Rn. 85, BVerfGE 138, 296). Unter Religion oder Weltanschauung ist eine mit der
Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur
Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen (BVerwG 27. März 1992 - 7 C 21.90 -
zu 2 a aa der Gründe, BVerwGE 90, 112). Ein religiöses Bekenntnis einerseits und eine Weltanschauung
andererseits setzen gleichermaßen ein alle Lebensbereiche umfassendes, geschlossenes Weltbild voraus.
Religions- und Weltanschauungsfreiheit werden von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG in gleicher Weise
geschützt und brauchen daher nicht abgegrenzt zu werden (vgl. BVerwG 27. März 1992 - 7 C 21.90 - aaO;
19. Februar 1992 - 6 C 3.91 - BVerwGE 90, 1). Sie können unter dem Begriff der Glaubensfreiheit
zusammengefasst werden (vgl. BVerfG 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10 ua. - Rn. 86, aaO). Das Grundrecht
auf Glaubensfreiheit gewährleistet sowohl die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, als auch
die äußere Freiheit, den Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten, für seinen Glauben zu
werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben (BVerfG 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 - aaO
mwN).
37 (2) Ausgehend hiervon ist nicht ersichtlich, dass der Schutzbereich der Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4
Abs. 1 und Abs. 2 GG betroffen ist. Aus dem Begriff der staatsbürgerlichen Bildung ergibt sich nicht, dass
eine bestimmte Weltanschauung vermittelt werden soll. Es ist nicht erkennbar, dass staatsbürgerliche
Bildung iSv. § 3 TV FW darauf ausgerichtet ist, ein alle Lebensbereiche umfassendes, geschlossenes
Weltbild zu vermitteln. Aus den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts, die nicht mit Verfahrensrügen
angegriffen sind, ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die geförderten Bildungsinhalte nicht in
weltanschaulicher Hinsicht neutral sind.
38 bb) Der TV FW und der VTV-Bäckerhandwerk verletzen nicht den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3
Abs. 1 GG. Dabei kommt es nicht darauf an, ob hinsichtlich einzelner vom Kläger geförderter
Bildungsveranstaltungen bei der Höhe der Kursgebühren danach differenziert wird, ob der jeweilige
Arbeitgeber Mitglied des Landesinnungsverbands ist. Eine solche Differenzierung wäre jedenfalls nicht im
TV FW oder im VTV-Bäckerhandwerk angelegt. Der TV FW und der VTV-Bäckerhandwerk differenzieren
nicht zwischen Arbeitgebern mit und ohne Mitgliedschaft in einem Landesinnungsverband. Das gilt
insbesondere für die Bedingungen, zu denen Arbeitnehmer bestimmter Arbeitgeber des Bäckerhandwerks
an einzelnen Bildungsveranstaltungen teilnehmen können.
39 6. Die Tarifvertragsparteien verfügen über die erforderliche tarifliche Regelungsmacht, um das
Förderungswerk als gemeinsame Einrichtung iSv. § 4 Abs. 2 TVG zu errichten und den Arbeitgebern des
Bäckerhandwerks Beitragspflichten zu seiner Finanzierung aufzuerlegen.
40 a) Die Prüfung, ob die Tarifvertragsparteien über die tarifliche Regelungsmacht verfügen, um das
Förderungswerk durch Tarifvertrag zu begründen, kann nicht deswegen unterbleiben, weil der TV FW und
der VTV-Bäckerhandwerk kraft des gesetzlichen Anwendungsbefehls der §§ 28 und 29 iVm. den
Anlagen 75 und 76 SokaSiG2 maßgeblich sind.
41 aa) Nach § 41 Abs. 1 SokaSiG2 gelten die tarifvertraglichen Rechtsnormen der §§ 1 bis 38 SokaSiG2
unabhängig davon, ob die Tarifverträge wirksam abgeschlossen wurden. Für die entsprechende Regelung
in § 11 SokaSiG ist daraus im Schrifttum teilweise abgeleitet worden, dass es nicht darauf ankomme, ob
der für anwendbar erklärte Tarifvertrag wirksam sei (Klein AuR 2017, 48, 51; Biedermann BB 2017, 1333,
1336).
42 bb) Dieser Auffassung stimmt der Senat nicht zu. Für das SokaSiG hat er bereits entschieden, dass eine
sich als materiell unwirksam erweisende tarifliche Regelung nicht durch § 7 SokaSiG „geheilt“ wird. Nach
§ 11 SokaSiG gelten die tarifvertraglichen Rechtsnormen, auf die in § 7 SokaSiG verwiesen wird, lediglich
unabhängig davon, ob die Tarifverträge wirksam abgeschlossen wurden (BAG 22. Januar 2020 - 10 AZR
324/18 - Rn. 36; 27. November 2019 - 10 AZR 399/18 - Rn. 45; 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 -
Rn. 67, BAGE 164, 201).
43 cc) Die durch das SokaSiG und das SokaSiG2 unabhängig von der originären Tarifbindung für anwendbar
erklärten Tarifverträge sind auf ihre materielle Wirksamkeit zu prüfen.
44 (1) Dafür spricht bereits der Wortlaut von § 11 SokaSiG und § 41 Abs. 1 SokaSiG2, nach dem die
tarifvertraglichen Rechtsnormen unabhängig davon gelten sollen, ob sie wirksam „abgeschlossen“ sind.
Dem Umstand, dass § 11 SokaSiG und § 41 Abs. 1 SokaSiG2 gerade auf den wirksamen Abschluss der
Tarifverträge abstellen, lässt sich entnehmen, dass materielle Mängel, die nicht den Abschluss, sondern
den Inhalt der Tarifverträge betreffen, nicht geheilt werden sollen.
45 (2) Das SokaSiG und das SokaSiG2 haben zum Ziel, die bisher durch Allgemeinverbindlicherklärung
gewährleistete Geltungserstreckung durch eine gesetzliche Verweisung zu ersetzen oder zu ergänzen (BT-
Drs. 18/10631 S. 3). Damit wird der Geltungsgrund der Erstreckung geändert. Für den Fall, dass die
Erstreckung der Normwirkung durch Allgemeinverbindlicherklärung unwirksam ist, wird sie um eine
wirksame - gesetzliche - Erstreckungsanordnung ergänzt, um auf diese Weise den Folgen der Beschlüsse
des Senats vom 21. September 2016 vorzubeugen (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 -
BAGE 156, 289; vgl. für das SokaSiG BAG 30. Oktober 2019 - 10 AZR 38/18 - Rn. 25; 20. November 2018
- 10 AZR 121/18 - Rn. 92 f., BAGE 164, 201). Anhaltspunkte dafür, dass auch inhaltliche Mängel der in
Bezug genommenen Tarifverträge geheilt werden sollten, sind nicht ersichtlich.
46 (3) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Sinn und Zweck von § 11 SokaSiG und § 41 Abs. 1
SokaSiG2. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zu § 11 SokaSiG flankiert diese Regelung den Zweck des
SokaSiG, die Sozialkassenverfahren im Baugewerbe zu sichern (BT-Drs. 18/10631 S. 652 f.). Dieses Ziel
würde zwar in weiterem Umfang erreicht, wenn inhaltliche Mängel der Tarifverträge geheilt würden. Die
nach dem Wortlaut von § 11 SokaSiG und § 41 Abs. 1 SokaSiG2 vorgegebene Heilung ausschließlich von
Mängeln beim Abschluss des Tarifvertrags dient jedoch auch dem Ziel, die Sozialkassenverfahren zu
sichern.
47 b) Die tarifliche Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien ist im Hinblick auf die Errichtung und
Ausgestaltung von gemeinsamen Einrichtungen iSv. § 4 Abs. 2 TVG durch Art. 9 Abs. 3 GG begrenzt.
48 aa) Gemeinsame Einrichtungen sind nach allgemeiner Ansicht von den Tarifvertragsparteien geschaffene
und von ihnen abhängige Organisationen, deren Zweck und Organisationsstruktur durch Tarifvertrag
festgelegt wird (BVerfG 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/74 ua. - zu A I 2 der Gründe, BVerfGE 55, 7; BAG
31. Januar 2018 - 10 AZR 695/16 (A) - Rn. 64). Gemeinsame Einrichtungen können nur Zwecke verfolgen,
die in den Rahmen der tariflichen Regelungsmacht fallen (BAG 31. Januar 2018 - 10 AZR 695/16 (A) -
Rn. 66; Wiedemann/Oetker 8. Aufl. TVG § 1 Rn. 780; Löwisch/Rieble 4. Aufl. TVG § 4 Rn. 390;
Kempen/Zachert/Seifert 5. Aufl. TVG § 4 Rn. 297). Es besteht Einigkeit, dass der durch Art. 9 Abs. 3 GG
gezogene Rahmen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht überschritten werden darf (BAG
31. Januar 2018 - 10 AZR 695/16 (A) - Rn. 66; Wiedemann/Oetker aaO; Krause in
Jacobs/Krause/Oetker/Schubert Tarifvertragsrecht 2. Aufl. § 4 Rn. 86; vgl. zum Begriff der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen Höpfner RdA 2020, 129, 131 ff.). Welche genauen Grenzen für die mit
gemeinsamen Einrichtungen verfolgten Zwecke gelten, ist jedoch umstritten.
49 (1) Im Schrifttum wird teilweise vertreten, die Rechtsetzungskompetenz der Tarifvertragsparteien sei auch
in Bezug auf gemeinsame Einrichtungen auf die Regelungsmaterien des § 1 Abs. 1 TVG begrenzt. Dazu
gehörten der Inhalt, der Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und
betriebsverfassungsrechtliche Fragen. § 4 Abs. 2 TVG erweitere die tarifliche Regelungsmacht der
Tarifvertragsparteien nicht (ErfK/Franzen 20. Aufl. TVG § 4 Rn. 23; Löwisch/Rieble 4. Aufl. TVG § 4 Rn. 390;
Otto/Schwarze ZFA 1995, 639, 652 f.).
50 (2) Andere Stimmen im Schrifttum sprechen sich gegen eine thematische Begrenzung auf den Kanon der
in § 1 Abs. 1 TVG genannten Regelungsmaterien aus. Die zulässigen Zwecke, die mit gemeinsamen
Einrichtungen verfolgt werden dürften, würden allein dadurch begrenzt, dass sie sich im Rahmen der
Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen iSv. Art. 9 Abs. 3 GG halten müssten (Wiedemann/Oetker 8. Aufl. TVG
§ 1 Rn. 780; Kempen/Zachert/Seifert 5. Aufl. TVG § 4 Rn. 297; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert
Tarifvertragsrecht 2. Aufl. § 4 Rn. 86; Bayreuther/Deinert RdA 2015, 129, 136 ff.; Strippelmann
Rechtsfragen der gemeinsamen Einrichtungen S. 34 ff.).
51 (3) Anknüpfend an die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist der Senat der Auffassung,
dass die tarifliche Regelungsmacht bei der Errichtung und Ausgestaltung gemeinsamer Einrichtungen iSv.
§ 4 Abs. 2 TVG nicht auf die Regelungsmaterien des § 1 Abs. 1 TVG beschränkt ist. Die tarifvertragliche
Regelungsmacht wird durch den in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Begriff der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen umgrenzt.
52 (a) Grundlage der normativen tariflichen Regelungskompetenz für die Bildung einer gemeinsamen
Einrichtung der Tarifvertragsparteien ist § 4 Abs. 2 TVG. Der Wortlaut des § 4 Abs. 2 TVG, insbesondere die
Verwendung der Abkürzung „usw.“ bei den Klammerbeispielen zeigt, dass die Bestimmung
entwicklungsoffen ist. Das Recht der gemeinsamen Einrichtungen soll nach dem Willen des Gesetzgebers,
der keine detaillierte Regelung geschaffen hat, ersichtlich der Gestaltungsfreiheit der Tarifpartner, dem
Einfallsreichtum der Planer, der wirtschaftlichen und steuerlichen Ökonomie und den immer wieder
auftretenden Ordnungs- und Regelungsbedürfnissen des Arbeitslebens Raum geben (vgl. BAG
22. Oktober 2003 - 10 AZR 13/03 - zu II 1 der Gründe, BAGE 108, 155).
53 (b) Regelungen zu Inhalt, Abschluss und Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betrieblichen und
betriebsverfassungsrechtlichen Fragen iSv. § 1 Abs. 1 TVG reichen im Übrigen allein nicht aus, um
gemeinsame Einrichtungen iSv. § 4 Abs. 2 TVG auszugestalten. Sie sind nicht geeignet, den Kreis der
Tarifunterworfenen um gemeinsame Einrichtungen zu erweitern und den Inhalt von deren Satzungen
sowie das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern iSv. § 4
Abs. 2 TVG zu bestimmen (vgl. BAG 3. Februar 1965 - 4 AZR 385/63 - zu II der Gründe, BAGE 17, 59;
Bayreuther/Deinert RdA 2015, 129, 136 f.). So können Tarifverträge nach § 5 Abs. 1a TVG unter
erleichterten Bedingungen für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn sie die Einziehung von Beiträgen
durch eine gemeinsame Einrichtung regeln. Tarifnormen, die eine Beitragspflicht begründen, gehören
jedoch nicht zu den Rechtsnormen iSv. § 1 Abs. 1 TVG.
54 bb) Die Errichtung und Ausgestaltung des klagenden Förderungswerks für die Beschäftigten des
Deutschen Bäckerhandwerks e. V. durch den TV FW und den VTV-Bäckerhandwerk hält sich in diesem
durch Art. 9 Abs. 3 GG begrenzten Rahmen der den Tarifvertragsparteien zukommenden tariflichen
Regelungsmacht.
55 (1) Das gilt zunächst für den mit dem Förderungswerk nach § 3 TV FW verfolgten Zweck. Nach § 3 TV FW
ist es der Zweck des Klägers, ohne Begründung eines Rechtsanspruchs aus den ihm nach § 4 TV FW
zufließenden Mitteln der Bildung, insbesondere der Aus- und Weiterbildung dienende Maßnahmen zu
bestreiten und insbesondere Beihilfen an Einrichtungen zur beruflichen und staatsbürgerlichen Bildung zu
leisten. Dabei kommt es auf den tarifvertraglich festgelegten Zweck an und nicht auf die Frage, welche
genauen Förderungsbeihilfen der Kläger in welchen Bundesländern erbringt.
56 (a) Es ist allgemein anerkannt, dass die Förderung der Ausbildung, um die Durchführung einer
qualifizierten, den besonderen Anforderungen des Wirtschaftszweigs gerecht werdenden Berufsbildung zu
sichern, in den Rahmen der tariflichen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien fällt. Die Förderung der
Ausbildung gehört zu den Zwecken, die mit gemeinsamen Einrichtungen iSv. § 4 Abs. 2 TVG verfolgt
werden dürfen (BAG 31. Januar 2018 - 10 AZR 695/16 (A) - Rn. 66; ErfK/Franzen 20. Aufl. TVG § 4 Rn. 23).
Das hat der Gesetzgeber in § 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 TVG bestätigt. Die berufliche Weiterbildung von
Arbeitnehmern stellt ebenfalls einen geeigneten Gegenstand für gemeinsame Einrichtungen dar
(ErfK/Franzen aaO; Däubler/Heuschmid 4. Aufl. TVG § 1 Rn. 1127; Krause in
Jacobs/Krause/Oetker/Schubert Tarifvertragsrecht 2. Aufl. § 4 Rn. 87). Der Art der Qualifizierung von
Arbeitnehmern, die von gemeinsamen Einrichtungen gefördert werden darf, sind dabei keine engen
Grenzen gesetzt. Auch der Bereich der politischen Bildung kann erfasst sein (vgl. Löwisch/Rieble 4. Aufl.
TVG § 1 Rn. 2342, 2345, 2354).
57 (b) Das Förderungswerk dient dem zulässigen Zweck, die Aus- und Weiterbildung im Bäckerhandwerk zu
fördern. Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass § 3 TV FW nach seinem Wortlaut auch
dahin gehend verstanden werden könnte, das Förderungswerk solle dem Zweck dienen, allgemein die
Bildung im Bäckerhandwerk zu fördern. Durch die sprachliche Hervorhebung der Aus- und Weiterbildung
wird hinreichend deutlich, dass Bildung gefördert werden soll, die der beruflichen Qualifizierung dient. Dem
steht nicht entgegen, dass die tarifvertragliche Regelung Beihilfen an Einrichtungen nicht nur zur
beruflichen, sondern auch zur staatsbürgerlichen Bildung vorsieht. Allein dieser Umstand lässt nicht darauf
schließen, dass es zu den Aufgaben des Förderungswerks gehört, staatsbürgerliche Bildung losgelöst von
der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu fördern. Der Tarifvertrag ist dahin auszulegen, dass
staatsbürgerliche Bildung mit den vom Förderungswerk unterstützten Bildungsangeboten lediglich
vermittelt werden soll, soweit sie der Aus- und Weiterbildung im Bäckerhandwerk dient. Dies entspricht
auch dem Verständnis der den TV FW und den VTV-Bäckerhandwerk abschließenden Verbände, wie es in
den Anhörungen im Gesetzgebungsprozess des SokaSiG2 zum Ausdruck gekommen ist. Sowohl in der
Stellungnahme des Zentralverbands des Deutschen Bäckerhandwerks e. V. als auch in derjenigen der
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten wird betont, dass das Förderungswerk den Zweck hat, die Aus-
und Weiterbildung im Bäckerhandwerk zu fördern (AS-Drs. 18(11)1097 S. 4 f. und S. 14). Von einer
Förderung gerade der Aus- und Weiterbildung und nicht einer davon losgelösten allgemeinen
staatsbürgerlichen Bildung ist im Übrigen auch der Gesetzgeber des SokaSiG2 ausgegangen. Er hat § 28
SokaSiG2, der den gesetzlichen Anwendungsbefehl für den TV FW enthält, mit „Aus- und Weiterbildung im
Bäckerhandwerk“ überschrieben. § 29 SokaSiG2, der sich auf den VTV-Bäckerhandwerk bezieht, trägt die
amtliche Überschrift „Einzug der Beiträge für die Aus- und Weiterbildung im Bäckerhandwerk“.
58 (2) Die Art der Förderung der Aus- und Weiterbildung durch Beihilfen an Bildungseinrichtungen unterfällt
ebenfalls der den Tarifvertragsparteien zukommenden tariflichen Regelungsmacht. Es handelt sich um
eine bisher wenig verbreitete indirekte Form der Förderung. Arbeitnehmer werden durch die gemeinsame
Einrichtung nicht unmittelbar mit Geldleistungen unterstützt. Auch die Arbeitgeber, die letztlich zum Vorteil
aller Arbeitgeber der Branche Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen oder berufliche Weiterbildung
ermöglichen, erhalten keine unmittelbaren Zuwendungen. Darin unterscheidet sich das hier praktizierte
System beispielsweise vom Sozialkassenverfahren der Bauwirtschaft. Schließlich unterbreitet die
gemeinsame Einrichtung auch nicht vorrangig selbst Aus- und Weiterbildungsangebote. Vielmehr wird die
Aus- und Weiterbildung mittelbar durch Beihilfen an Bildungseinrichtungen gefördert. Diese Ausgestaltung
der Förderung hält sich jedoch ebenfalls im Rahmen der entwicklungsoffenen Möglichkeiten, die § 4 Abs. 2
TVG für gemeinsame Einrichtungen bietet. Die Art der Finanzierung ist geeignet, die Aus- und
Weiterbildung mittelbar zu fördern, weil die mit Beihilfen unterstützten Einrichtungen in die Lage versetzt
werden, Aus- und Weiterbildungsangebote kostengünstiger anzubieten. Sie ermöglicht zudem eine
Förderung der beruflichen Qualifizierung mit begrenzten finanziellen Mitteln.
59 7. Soweit sich der Beklagte gegen die Beitragspflicht mit der Begründung wendet, die
Allgemeinverbindlicherklärung des TV FW und des VTV-Bäckerhandwerk sei unwirksam, zeigen diese
Angriffe keinen Rechtsfehler des Berufungsurteils auf. Die Geltungserstreckung der Tarifverträge auf den
Beklagten gründet sich unabhängig von der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung auf §§ 28
und 29 iVm. den Anlagen 75 und 76 SokaSiG2. Darauf stellt auch das Landesarbeitsgericht tragend ab.
Auf die vom Beklagten mit der Revision erneut angegriffene Wirksamkeit der
Allgemeinverbindlicherklärung kommt es nicht an.
60 II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Gallner
Pessinger
Pulz
Schurkus
Scheck
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