Urteil des BAG vom 17.06.2020

Mehrarbeitszuschläge und Urlaub

Bundesarbeitsgericht
Vorlagebeschluss (EuGH) vom 17. Juni 2020
Zehnter Senat
- 10 AZR 210/19 (A) -
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
I. Arbeitsgericht Dortmund
Urteil vom 14. Februar 2018
- 10 Ca 4180/17 -
II. Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil vom 14. Dezember 2018
- 13 Sa 589/18 -
Entscheidungsstichwort:
Mehrarbeitszuschläge und Urlaub
Leitsatz:
Ein Tarifvertrag, der für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nur
die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die
Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub
in Anspruch nimmt, könnte gegen Unionsrecht verstoßen. Der Zehnte
Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europä-
ischen Union nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über diese
Frage.
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
10 AZR 210/19 (A)
13 Sa 589/18
Landesarbeitsgericht
Hamm
Verkündet am
17. Juni 2020
BESCHLUSS
Jatz, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 17. Juni 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeits-
gericht Gallner, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Brune, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Dr. Pulz sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Rudolph
und Salzburger beschlossen:
- 2 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 3 -
1. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach
Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Frage
ersucht:
Stehen Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union und Art. 7 der Richtlinie
2003/88/EG einer Regelung in einem Tarifvertrag entge-
gen, die für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden
einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen,
nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt
und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer
seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch
nimmt?
2. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vor-
abentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 31
Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) und Art. 7
Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG.
A.
Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
Die Parteien streiten über Mehrarbeitszuschläge.
Der Kläger ist als Leiharbeitnehmer in Vollzeit mit einem Bruttostunden-
lohn von 12,18 Euro bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte führt ein Unter-
nehmen der Arbeitnehmerüberlassung. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gilt
aufgrund beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die
Zeitarbeit in der Fassung vom 17. September 2013 (MTV).
Im Monat August 2017, auf den 23 Arbeitstage entfielen, arbeitete der
Kläger 121,75 Stunden und nahm Mindestjahresurlaub iSv. Art. 31 Abs. 2 der
Charta und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG in Anspruch. Die Beklagte
rechnete für August 2017 zehn Urlaubstage mit 84,7 Stunden ab.
1
2
3
4
5
- 3 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 4 -
Nach § 4.1.2. MTV werden Mehrarbeitszuschläge für Zeiten gezahlt, die
in Monaten mit 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden hinausgehen. Der
Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 %.
Der Kläger ist der Ansicht, in die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge
müssten die für Urlaub abgerechneten Stunden einbezogen werden. Für den Mo-
nat August 2017 sei daher von insgesamt 206,45 geleisteten Stunden auszuge-
hen. Damit sei die Schwelle von 184 geleisteten Stunden überschritten, sodass
er Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge habe.
Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 72,32 Euro
brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
dem 7. Dezember 2017 zu zahlen.
Die Beklagte meint, für die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge seien
nach dem Wortlaut des MTV nur tatsächlich gearbeitete Stunden einzubeziehen.
Urlaubszeiten seien dagegen nicht zu berücksichtigen. Dem Kläger stünden
keine Mehrarbeitszuschläge zu, weil er im Monat August 2017 nicht mehr als
184 Stunden gearbeitet habe.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom vorlegenden
Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.
B.
Einschlägiges nationales Recht
I.
Bundesurlaubsgesetz
Das Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) vom
8. Januar 1963
, zuletzt geändert durch Art. 3 Abs. 3 des Gesetzes
vom 20. April 2013
, regelt auszugsweise:
㤠1 Urlaubsanspruch
Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch
auf bezahlten Erholungsurlaub.
§ 3 Dauer des Urlaubs
(1) Der Urlaub beträgt jährlich mindestens 24 Werktage.
6
7
8
9
10
11
12
13
- 4 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 5 -
(2) Als Werktage gelten alle Kalendertage, die nicht Sonn-
oder gesetzliche Feiertage sind.
§ 13 Unabdingbarkeit
(1)
1
Von den vorstehenden Vorschriften mit Ausnahme der
§§ 1, 2 und 3 Abs. 1 kann in Tarifverträgen abgewichen
werden.
2
Die abweichenden Bestimmungen haben zwi-
schen nichttarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern Geltung, wenn zwischen diesen die Anwendung der
einschlägigen tariflichen Urlaubsregelung vereinbart ist.
3
Im
übrigen kann, abgesehen von § 7 Abs. 2 Satz 2, von den
Bestimmungen dieses Gesetzes nicht zuungunsten des Ar-
beitnehmers abgewichen werden.
II.
Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit
Der Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit in der Fassung vom 17. Septem-
ber 2013 (MTV) wurde zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeits-
unternehmen (iGZ e. V.) und verschiedenen unterzeichnenden Mitgliedsgewerk-
schaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) abgeschlossen. Er lautet
auszugsweise:
„3.1. Arbeitszeit
3.1.1. Die individuelle regelmäßige monatliche Arbeitszeit
beträgt für Vollzeitbeschäftigte 151,67 Stunden. Das ent-
spricht einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit
von 35 Stunden.
3.1.2. Die individuelle regelmäßige Arbeitszeit pro Monat
richtet sich nach der Anzahl der Arbeitstage.
In Monaten mit
- 20 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 140 Std.
- 21 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 147 Std.
- 22 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 154 Std.
- 23 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 161 Std.
Bei Teilzeitarbeit berechnet sich die regelmäßige Arbeits-
zeit pro Monat anteilig.
14
15
- 5 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 6 -
3.2. Arbeitszeitkonto
3.2.1. Für jeden Arbeitnehmer wird ein Arbeitszeitkonto ein-
gerichtet. Auf dieses Konto werden die Stunden übertra-
gen, die über die regelmäßige Arbeitszeit pro Monat hinaus
abgerechnet werden. Zulässig ist gleichermaßen die Über-
tragung von Minusstunden.
3.2.2. Es dürfen nur so viele Stunden auf das Arbeitszeit-
konto übertragen werden, dass die Grenzwerte von maxi-
mal 150 Plusstunden und 21 Minusstunden nicht über-
schritten werden. Bei Teilzeitbeschäftigung wird die Plus-
stundenobergrenze der Arbeitszeitkonten im Verhältnis zur
arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeit angepasst.
4.1. Mehrarbeit
4.1.1. Mehrarbeit ist die über die regelmäßige monatliche
Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit.
4.1.2. Mehrarbeitszuschläge werden für Zeiten gezahlt, die
in Monaten mit
- 20 Arbeitstagen über 160 geleistete Stunden
- 21 Arbeitstagen über 168 geleistete Stunden
- 22 Arbeitstagen über 176 geleistete Stunden
- 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden
hinausgehen.
Der Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 Prozent.
Diese Regelungen gelten gleichermaßen für Teilzeitbe-
schäftigte.
§ 6a Urlaubsentgelt und Entgeltfortzahlung im Krankheits-
fall
Für die Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheits-
fall und des Urlaubsentgelts sind für jeden nach den gesetz-
lichen und tariflichen Bestimmungen zu vergütenden
Krankheits- bzw. Urlaubstag für die Höhe des fortzuzahlen-
den Entgelts der durchschnittliche Arbeitsverdienst und die
durchschnittliche Arbeitszeit der letzten drei abgerechneten
Monate (Referenzzeitraum) vor Beginn der Arbeitsunfähig-
keit bzw. des Urlaubsantritts zugrunde zu legen. Hierfür gilt:
a) Es ist der durchschnittliche Arbeitsverdienst des Refe-
renzzeitraums auf Grundlage der individuellen regelmäßi-
gen Arbeitszeit zu bilden. Zum Arbeitsverdienst zählen die
- 6 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 7 -
Entgeltbestandteile gemäß § 2 Entgelttarifvertrag iGZ so-
wie sonstige Zulagen und Zuschläge (ohne Mehrarbeitszu-
schläge) gemäß den Bestimmungen des Bundesurlaubs-
gesetzes.
b) Zusätzlich finden die durchschnittlich im Referenzzeit-
raum erarbeiteten Zulagen und Zuschläge (ohne Mehrar-
beitszuschläge) auf Grundlage der durchschnittlichen tat-
sächlichen Arbeitszeit Berücksichtigung, die über die indivi-
duelle regelmäßige Arbeitszeit hinausgeht
.“
C.
Einschlägiges Unionsrecht
I.
Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Dezember
2007
2016
Art. 31 der Charta lautet:
„Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das
Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingun-
gen.
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das
Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf täg-
liche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten
Jahresurlaub.“
II.
Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung
(Richtlinie 2003/88/EG)
In Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG ist geregelt:
„Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnah-
men, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindest-
jahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedin-
gungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung er-
hält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/
oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgese-
hen sind.
16
17
18
19
20
- 7 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 8 -
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Been-
digung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle
Vergütung ersetzt werden.“
D.
Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europä-
ischen Union (Gerichtshof) und Erläuterung der Vorlagefrage
I.
Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
1.
Der Kläger hat auf der Grundlage von § 4.1.2. MTV keinen Anspruch auf
Mehrarbeitszuschläge für den Monat August 2017. Die Auslegung des Tarifver-
trags ergibt, dass in die Berechnung der Stunden, für die Mehrarbeitszuschläge
zu zahlen sind, nur Zeiten einfließen, in denen der Arbeitnehmer tatsächlich ge-
arbeitet hat.
a)
Nach dem Wortlaut der tarifvertraglichen Regelung werden Mehrarbeits-
zuschläge für Zeiten gezahlt, die über eine bestimmte Z
ahl „geleisteter Stunden“
hinausgehen. Darunter sind nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Stunden zu
verstehen, in denen eine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht wird. Urlaubszei-
ten, in denen nicht gearbeitet wird, sind dagegen vom Wortsinn nicht erfasst
.
b)
Der Sinn und Zweck der tarifvertraglichen Regelungen des Mehrarbeits-
zuschlags steht dem Wortlaut nicht entgegen.
aa)
Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, den Zweck einer
tariflichen Leistung in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarif-
autonomie zu bestimmen
. Der Zweck der
Mehrarbeitszuschläge könnte darin liegen, besondere Arbeitsbelastungen durch
ein zusätzliches Entgelt auszugleichen, die erst entstehen, wenn bestimmte Ar-
beitszeitgrenzen überschritten werden. Solche Arbeitsbelastungen treten wäh-
rend des Urlaubs im Bezugszeitraum nicht auf
. Es entspräche dann nicht dem Zweck der Mehrarbeitszu-
21
22
23
24
25
26
- 8 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 9 -
schläge, wenn Urlaubsstunden bei ihrer Ermittlung berücksichtigt würden. Mehr-
arbeitszuschläge können demgegenüber auch anderen Zwecken dienen. Sie
können belohnen, dass Arbeitnehmer ohne Freizeitausgleich mehr als vertraglich
vereinbart arbeiten und dadurch nicht frei über ihre Zeit verfügen können. Zweck
von Mehrarbeitszuschlägen kann auch sein, Arbeitgeber von Eingriffen in den
geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abzuhalten
. Diesen Zwecken stünde es
nicht entgegen, Urlaubsstunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge
zu berücksichtigen.
bb)
Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit den Mehrarbeits-
zuschlägen den Schutz des Freizeitbereichs und keinen Belastungsausgleich
wollten, sind jedoch nicht ersichtlich. Die Formulierung in § 4.1.2. MTV, dass die
Regelungen „gleichermaßen“ für Teilzeitbeschäftigte gelten, spricht vielmehr da-
für, dass auch Teilzeitkräfte erst ab Überschreiten derselben Schwellen wie Voll-
zeitkräfte einen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge haben sollen. Hätten die Ta-
rifvertragsparteien zum Ausdruck bringen wollen, dass Teilzeitarbeitnehmer be-
reits Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge haben sollen, wenn sie die Schwellen
ihrer individuellen Arbeitszeit überschreiten, hätte es nahegelegen - wie an an-
deren Stellen des Tarifvertrags -
zu formulieren, dass die Regelungen „anteilig“
für Teilzeitbeschäftigte gelten
.
Das deutet darauf hin, dass die Tarifvertragsparteien einen Belastungsausgleich
und keinen Ausgleich eines Freizeitopfers anstrebten.
cc)
Es kommt nicht darauf an, ob § 4.1.2. MTV gegen § 4 Abs. 1 TzBfG ver-
stößt, weil Teilzeitbeschäftigte erst dann Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge ha-
ben, wenn sie die für eine Vollzeittätigkeit maßgebliche Stundenzahl überschrei-
ten
.
Auch wenn in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer bereits ab einer niedrigeren
Schwelle Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge hätten als Vollzeitkräfte, bliebe die
Frage zu klären, ob Urlaubszeiten in die Berechnung einzubeziehen sind.
27
28
- 9 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 10 -
c)
Der tarifliche Gesamtzusammenhang bestätigt das Verständnis des
Wortlauts und deutet ebenfalls darauf hin, dass nur tatsächlich geleistete Arbeits-
stunden bei der Berechnung der Mehrarbeitsstunden berücksichtigt werden sol-
len. So werden erarbeitete Zulagen und Zuschläge für die Berechnung der Ent-
geltfortzahlung im Krankheitsfall und des Urlaubsentgelts nach § 6a Buchst. b
MTV auf der Grundlage der durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitszeit berück-
sichtigt. Dem steht nicht entgegen, dass Mehrarbeitszuschläge durch einen
Klammerzusatz in § 6a Buchst. b MTV ausgenommen sind. Vielmehr deutet auch
der Klammerzusatz darauf hin, dass es sich bei den Mehrarbeitszuschlägen aus
Sicht der Tarifvertragsparteien um erarbeitete Zuschläge handelt.
2.
Die tarifvertraglichen Regelungen der Berechnung der Mehrarbeitszu-
schläge könnten einen unzulässigen finanziellen Anreiz für Arbeitnehmer begrün-
den, Mindesturlaub nicht in Anspruch zu nehmen. Hätte der Kläger im August
2017 keinen Urlaub genommen, sondern die für den Urlaubszeitraum abgerech-
neten Stunden tatsächlich gearbeitet, hätte er nach dem MTV einen Anspruch
auf Mehrarbeitszuschläge für 22,45 Stunden in Höhe von 68,36 Euro brutto er-
worben (22,45 Stunden x 12,18 Euro brutto x 25 %).
a)
Die nachteilige Wirkung von Urlaub auf Mehrarbeitszuschläge ist in der
Systematik des Tarifvertrags angelegt. Sie kann eintreten, wenn Arbeitnehmer
während eines Teils des Kalendermonats länger arbeiten. Nehmen Arbeitnehmer
während des restlichen Kalendermonats Urlaub, können sich die Mehrarbeitszu-
schläge verringern oder vollständig entfallen. In Anspruch genommener Urlaub
kann daher für die tarifvertraglichen Mehrarbeitszuschläge mit einem finanziellen
Nachteil einhergehen.
b)
Der MTV weist jedoch Besonderheiten auf, die dazu führen, dass finan-
zielle Nachteile im Hinblick auf Mehrarbeitszuschläge durch in Anspruch genom-
menen Urlaub nur in besonderen Fallgestaltungen auftreten. Nach § 3.1.1. MTV
beträgt die regelmäßige monatliche Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte
151,67 Stunden. Das entspricht einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeits-
zeit von 35 Stunden. § 4.1.1. MTV bestimmt, dass Mehrarbeit die über diese
Grenze hinausgehende Arbeitszeit ist. Zuschlagspflichtig ist Mehrarbeit nach
29
30
31
32
- 10 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 11 -
§ 4.1.2. MTV dagegen erst, wenn eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit
von umgerechnet 40 Stunden überschritten wird. Mehrarbeitszuschläge fallen
erst an, wenn im Monat mehr als 8/7 der regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit
gearbeitet wird. Die Zahl zuschlagspflichtiger Mehrarbeitsstunden wird zudem
dadurch begrenzt, dass nach § 3.2.1. MTV Stunden, die über die regelmäßige
Arbeitszeit im Monat hinaus abgerechnet werden, auf ein Arbeitszeitkonto zu
übertragen sind. Zuschlagspflichtige Mehrarbeit führt zu einem deutlichen An-
stieg des Saldos auf dem Arbeitszeitkonto, weil die regelmäßige monatliche Ar-
beitszeit im Durchschnitt um mehr als eine Stunde je Arbeitstag überschritten
werden muss. Sofern häufiger zuschlagspflichtige Mehrarbeit anfällt, erreicht das
Arbeitszeitkonto regelmäßig schnell die Obergrenze von höchstens 150 Plus-
stunden nach § 3.2.2. MTV.
c)
Der Anteil der durch Urlaub
„bedrohten“ Mehrarbeitszuschläge am ge-
samten Bruttomonatsentgelt ist in den typischen Konstellationen vergleichsweise
gering. Er beträgt im Fall des Klägers für den Monat August 2017 etwa 2,7 %.
3.
Die Frage, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie
2003/88/EG dahin auszulegen sind, dass sie einer tarifvertraglichen Regelung
wie der in § 4.1.2. MTV entgegenstehen, ist entscheidungserheblich. Das Uni-
onsrecht kann auch Regelungen in Tarifverträgen entgegenstehen
. Für die Entscheidung des
vorlegenden Senats kommt es darauf an, ob für die Berechnung der Mehrarbeits-
zuschläge auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Min-
destjahresurlaub in Anspruch nimmt, berücksichtigt werden müssen. Sofern
§ 4.1.2. MTV mit dem durch Auslegung gefundenen Inhalt nicht gegen höherran-
giges Recht verstößt, wären die von der Beklagten abgerechneten 84,7 Urlaubs-
stunden für August 2017 nicht in die Berechnung einzubeziehen. Der Kläger hätte
keinen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge. Die Revision wäre zurückzuweisen.
Sollten dagegen die auf bezahlten Mindestjahresurlaub entfallenden Stunden bei
der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge einzubeziehen sein, hätte der Kläger
Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge. Die Revision hätte Erfolg.
33
34
- 11 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 12 -
II.
Erläuterung der Vorlagefrage
1.
Nach § 4.1.2. MTV sind für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden
einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen, die Stunden nicht zu be-
rücksichtigen, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub
in Anspruch nimmt. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kön-
nen bestimmte Anreize, auf Urlaub zu verzichten, gegen § 1 BUrlG verstoßen.
Arbeitnehmer dürfen nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen davon abgehalten
werden, ihren Anspruch auf Erholungsurlaub geltend zu machen. Ein mit § 1
BUrlG nicht zu vereinbarender Anreiz, auf Urlaub zu verzichten, kann nach nati-
onalem Recht auch in Tarifverträgen nicht wirksam vereinbart werden. Die Öff-
nungsklausel in § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG, nach der in Tarifverträgen grundsätz-
lich von den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes abgewichen werden kann,
gilt nicht für § 1 BUrlG
. Die innerdeutsche höchstrichterliche
Rechtsprechung hat bisher nicht darüber entschieden, ob nachteilige Auswirkun-
gen auf Mehrarbeitszuschläge durch Urlaub gegen § 1 BUrlG verstoßen können.
2.
§ 1 BUrlG ist unionsrechtskonform nach Art. 31 Abs. 2 der Charta und
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG auszulegen. Die Bestimmung des § 1
BUrlG, wonach jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahl-
ten Erholungsurlaub hat, entspricht den Regelungen in Art. 31 Abs. 2 der Charta
und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG
.
3.
Aus Sicht des vorlegenden Senats ist offen, ob eine Regelung wie
§ 4.1.2. MTV Anreize schafft, auf Urlaub zu verzichten, die mit Art. 31 Abs. 2 der
Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG nicht zu vereinbaren sind. Die
Rechtslage erscheint weder von vornherein eindeutig -
„acte clair“ - noch durch
die Rechtsprechung des Gerichtshofs in einer Weise geklärt, die keinen vernünf-
tigen Zweifel zulässt -
„acte éclairé“ -
35
36
37
38
- 12 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 13 -
.
a)
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben sich einerseits An-
haltspunkte dafür, dass ein Verstoß gegen Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7
der Richtlinie 2003/88/EG gegeben sein könnte.
aa)
Der Gerichtshof hat die besondere Bedeutung des Mindestjahresurlaubs
in einer Vielzahl von Entscheidungen hervorgehoben.
(1)
Das Recht jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub ist ein be-
sonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union, von dem nicht ab-
gewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den
Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88/EG selbst ausdrücklich
gezogen werden
. Er ist in Art. 31 Abs. 2 der
Charta, der nach Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträ-
gen zukommt, ausdrücklich verbürgt
.
(2)
Der doppelte Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub liegt da-
rin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeit-
raum für Entspannung und Freizeit zu verfügen
. Deshalb darf der Arbeitnehmer während sei-
nes Jahresurlaubs nicht mit Umständen konfrontiert sein, die Unsicherheit in Be-
zug auf das ihm geschuldete Entgelt auslösen könnten
.
(3)
Schließlich hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 7 der Richtlinie
2003/88/EG die Regelung des Art. 31 Abs. 2 der Charta konkretisiert. In Art. 31
Abs. 2 der Charta ist das im Unionsrecht verankerte Grundrecht auf bezahlten
Jahresurlaub ausgedrückt
39
40
41
42
43
- 13 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 14 -
. Kann eine nationale Regelung nicht im
Einklang mit Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG aus-
gelegt werden, muss das innerstaatliche Gericht die nationale Regelung unange-
wendet lassen. Diese Verpflichtung ergibt sich für das nationale Gericht aus Art. 7
der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta, wenn an dem Rechts-
streit ein staatlicher Arbeitgeber beteiligt ist. Sie folgt aus Art. 31 Abs. 2 der
Charta, wenn an dem Rechtsstreit ein privater Arbeitgeber beteiligt ist
.
bb)
Aufgrund der besonderen Bedeutung des Anspruchs auf bezahlten Jah-
resurlaub bestehen Zweifel, ob Nachteile bei der Höhe von Mehrarbeitszuschlä-
gen aufgrund des in Anspruch genommenen Mindesturlaubs mit Art. 31 Abs. 2
der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG zu vereinbaren sind. Das Zeit-
budget der Urlaubstage würde aus der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge
gewissermaßen „herausgeschnitten“. Diese Folge stünde in einem Spannungs-
verhältnis zu dem Umstand, dass Urlaubsrecht - unionsrechtlich betrachtet - Ar-
beitsschutzrecht ist, das der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer dient
.
cc)
Der Gerichtshof hat entschieden, dass keine Anreize geschaffen werden
dürfen, auf den Mindestjahresurlaub zu verzichten. Arbeitnehmer dürfen dazu
auch nicht angehalten werden. Das wäre mit den Zielen unvereinbar, die mit dem
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verfolgt werden und die ua. darin bestehen
zu gewährleisten, dass Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz ihrer Sicherheit und
ihrer Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen
44
45
- 14 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 15 -
.
dd)
Eine diesem Fall vergleichsweise ähnliche Konstellation liegt der Ent-
scheidung des Gerichtshofs in der Sache
zugrunde
.
(1)
Der Arbeitnehmer erhielt neben seinem Grundgehalt Provisionen für ab-
geschlossene Kaufverträge, die mehrere Wochen oder Monate nach dem jewei-
ligen Vertragsschluss ausgezahlt wurden. Während des Urlaubs erhielt er sein
Grundgehalt. Provisionen für in der Vergangenheit geschlossene Verträge wur-
den weiter geleistet. Der Arbeitnehmer war während des Urlaubs jedoch nicht in
der Lage, durch Vertragsschlüsse neue Provisionen zu verdienen. Deswegen
verringerte sich sein Arbeitsentgelt in einem Zeitraum nach dem jeweiligen Ur-
laub.
(2)
Der Gerichtshof hat entschieden, dass einer solchen Regelung Art. 7
Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG entgegensteht. Der Arbeitnehmer sehe trotz
des Entgelts für den Zeitraum des Jahresurlaubs möglicherweise aufgrund des
hinausgeschobenen finanziellen Nachteils davon ab, sein Recht auf Urlaub aus-
zuüben. Das sei umso wahrscheinlicher, als die Provisionen im Durchschnitt
mehr als 60 % des Arbeitsentgelts ausmachten. Eine solche Verringerung des
Arbeitsentgelts wegen des bezahlten Jahresurlaubs verstoße gegen Art. 7 Abs. 1
der Richtlinie 2003/88/EG. Unerheblich sei, dass die Verringerung des Arbeits-
entgelts in der Zeit nach dem Urlaub eintrete
. Die Fallgestaltungen in der Sache
und dem
Rechtsstreit, über den der Senat zu entscheiden hat, sind insoweit vergleichbar,
als der finanzielle Nachteil in beiden Fällen nicht das eigentliche Urlaubsentgelt
betrifft, sondern in einem dem Urlaub vor- oder nachgelagerten Zeitraum eintritt.
Zwischen den Konstellationen besteht allerdings ein gradueller Unterschied, weil
die Nachteile für Vergütungsansprüche in der Fallgestaltung der Rechtssache
regelmäßiger und in größerem Umfang eintraten, als das bei den hier ge-
gebenen Nachteilen für die Entstehung und Höhe von Mehrarbeitszuschlägen
46
47
48
- 15 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 16 -
zutrifft. Allein aufgrund der geringeren Höhe der möglichen Nachteile für das Ent-
gelt kann ein Verstoß gegen Unionsrecht jedoch aus Sicht des vorlegenden Se-
nats nicht ausgeschlossen werden. Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine
finanzielle Vergütung den unionsrechtlichen Vorgaben nicht genügt, wenn sie ge-
rade noch so bemessen ist, dass keine ernsthafte Gefahr dafür besteht, der Ar-
beitnehmer werde seinen Jahresurlaub nicht antreten
. Auch das vor dem Gerichtshof anhän-
gige Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Overijssel (Niederlande) vom
20. Mai 2020 behandelt in der Rechtssache
die
Frage, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen ist, dass der
Arbeitnehmer seine Vergütung oder einen ihrer Teile nicht verlieren darf, weil er
sein Recht auf Jahresurlaub ausübt
.
b)
Andererseits ergeben sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs
auch Anhaltspunkte dafür, dass die negative Anreizwirkung des § 4.1.2. MTV
nicht genügen könnte, um eine Verletzung von Art. 31 Abs. 2 der Charta und
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG zu begründen. Solche Anhaltspunkte finden sich
in den Entscheidungen des Gerichtshofs zu dem gewöhnlichen Arbeitsentgelt,
das Arbeitnehmern fortzuzahlen ist, während sie Urlaub in Anspruch nehmen
.
aa)
Durch das Erfordernis der Zahlung des Urlaubsentgelts soll der Arbeit-
nehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug
auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist
. Ist das Urlaubsentgelt geringer als das gewöhnli-
che Entgelt, das der Arbeitnehmer in Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung er-
hält, könnte er veranlasst sein, seinen bezahlten Jahresurlaub nicht zu nehmen
oder zumindest nicht in Arbeitszeiträumen zu nehmen, in denen dies zur Verrin-
gerung seines Entgelts führte
49
50
- 16 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 17 -
. Möglicherweise können die Maßstäbe für die Bemessung des Urlaubs-
entgelts auf die Frage übertragen werden, welche Nachteile infolge Urlaubs in
Bezug auf Vergütung für andere Zeiten hinzunehmen sind. Dafür spricht, dass
der Gerichtshof in der Rechtssache
ausgeführt hat, es komme nicht darauf
an, ob eine Verringerung des Arbeitsentgelts hinsichtlich des bezahlten Jahres-
urlaubs erst in der Zeit nach dem Jahresurlaub eintrete
.
bb)
Das Urlaubsentgelt für den Mindesturlaub muss grundsätzlich so bemes-
sen sein, dass es mit dem gewöhnlichen Entgelt des Arbeitnehmers überein-
stimmt. Besteht das vom Arbeitnehmer bezogene Entgelt aus mehreren Bestand-
teilen, erfordert die Bestimmung dieses gewöhnlichen Entgelts und des Betrags,
auf den der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs Anspruch hat, eine
spezifische Prüfung
. Jede Unannehmlichkeit, die untrennbar mit der Erfüllung der dem Ar-
beitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben verbunden ist und
durch einen in die Berechnung des Gesamtentgelts des Arbeitnehmers einge-
henden Geldbetrag abgegolten wird, muss zwingend Teil des Betrags sein, auf
den der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs Anspruch hat
. Bestandteile des Gesamtentgelts, die ausschließlich gelegentlich anfal-
lende Kosten oder Nebenkosten decken sollen, müssen bei der Berechnung des
Urlaubsentgelts nicht berücksichtigt werden
.
cc)
In der Rechtssache
hat sich der Gerichtshof mit der Frage befasst,
ob von dem Arbeitnehmer geleistete Überstunden bei der Berechnung des Ur-
laubsentgelts berücksichtigt werden müssen. Er hat dazu festgestellt, dass die
Überstundenvergütung aufgrund ihres Ausnahmecharakters und ihrer Unvorher-
sehbarkeit grundsätzlich nicht Teil des gewöhnlichen Arbeitsentgelts ist, das der
Arbeitnehmer für den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG vorgesehenen
51
52
- 17 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 18 -
bezahlten Urlaub beanspruchen kann. Ist der Arbeitnehmer jedoch arbeitsver-
traglich verpflichtet, Überstunden zu leisten, die weitgehend vorhersehbar und
gewöhnlich sind und deren Vergütung einen wesentlichen Teil des gesamten Ar-
beitsentgelts ausmacht, sollte die Vergütung für diese Überstunden in das ge-
wöhnliche Arbeitsentgelt einbezogen werden. Der Gerichtshof überlässt es den
nationalen Gerichten zu prüfen, ob das im Ausgangsrechtsstreit der Fall ist
.
dd)
Noch nicht vollständig geklärt ist, ob weitgehend vorhersehbare und ge-
wöhnliche Überstunden, deren Vergütung einen wesentlichen Teil des gesamten
Arbeitsentgelts ausmacht, zwingend in die Berechnung des gewöhnlichen Ar-
beitsentgelts einfließen müssen. Die Formulierung, dass die Vergütung für diese
Überstunden in die Berechnung des Urlaubsentgelts einfließen sollte, spricht
gegen eine verbindliche Pflicht, die Überstunden einzubeziehen
. Die Gegenüberstellung zwi-
schen unvorhersehbarer Überstundenvergütung mit Ausnahmecharakter und
weitgehend vorhersehbaren und gewöhnlichen Überstunden, deren Vergütung
einen wesentlichen Entgeltanteil ausmacht, legt jedoch das gegenteilige Ver-
ständnis nahe.
ee)
Im Ausgangsfall spricht viel dafür, dass es sich um ausnahmsweise und
unvorhersehbar anfallende Mehrarbeitsstunden handelt. Anhaltspunkte dafür,
dass die Mehrarbeitsstunden weitgehend vorhersehbar und gewöhnlich sind und
ihre Vergütung einen wesentlichen Teil des gesamten Arbeitsentgelts ausmacht,
ergeben sich weder aus dem Tarifvertrag noch aus den Besonderheiten des Aus-
gangsrechtsstreits. Wenn eine solche Mehrarbeitsvergütung nicht zwingend in
die Berechnung des Urlaubsentgelts einfließen muss, liegt es nahe, dass auch
ein vergleichbarer finanzieller Nachteil durch in Anspruch genommenen Urlaub
für die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge nicht gegen Art. 31 Abs. 2 der
Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verstößt.
ff)
Die Entscheidung, ob die Maßstäbe, die für das während des Mindestur-
laubs fortzuzahlende gewöhnliche Arbeitsentgelt gelten, auf die Berechnung von
53
54
55
- 18 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 19 -
Mehrarbeitszuschlägen übertragen werden können, obliegt aus Sicht des vorle-
genden Senats dem Gerichtshof. Der finanzielle Nachteil einer aufgrund in An-
spruch genommenen Urlaubs geringeren Vergütung ist unabhängig davon, ob er
während des Urlaubs zu einem geringeren Urlaubsentgelt führt oder ob sich der
Nachteil im Hinblick auf Mehrarbeitsvergütung für Zeiten vor oder nach dem Ur-
laub auswirkt. Der finanzielle Anreiz, auf Urlaub zu verzichten, ist in beiden Fällen
vergleichbar.
III.
Vorlagepflicht des Bundesarbeitsgerichts nach Art. 267 Abs. 3
AEUV
1.
Der Senat muss nicht darüber befinden, ob er als letztinstanzliches Ge-
richt nach Art. 267 Abs. 3 AEUV dazu verpflichtet ist, den Gerichtshof um Vor-
abentscheidung zu ersuchen.
a)
Nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist ein einzelstaatliches Gericht, dessen Ent-
scheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefoch-
ten werden können, zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet, wenn sich eine
Frage iSv. Art. 267 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV stellt. Entscheidungen des Bundes-
arbeitsgerichts können nach bisherigem Verständnis nicht mit Rechtsmitteln in
diesem Sinn angefochten werden. Der außerordentliche Rechtsbehelf der Ver-
fassungsbeschwerde gehört grundsätzlich nicht zu den Rechtsmitteln iSv.
Art. 267 Abs. 3 AEUV
.
b)
Das Bundesverfassungsgericht hat zuletzt jedoch offengelassen, ob die
Vorlagepflicht der Fachgerichte entfällt, soweit das Bundesverfassungsgericht
selbst als letztentscheidende Instanz iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlagepflichtig
ist
. Würde an einer Vorlagepflicht der im fachgerichtlichen In-
stanzenzug letztinstanzlich entscheidenden Gerichte festgehalten, könnten zwei
Gerichte nebeneinander und gleichzeitig als letztinstanzliches Gericht anzuse-
hen sein. Das liege für das Nebeneinander von Verfassungsgerichtsbarkeit und
56
57
58
59
- 19 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 20 -
Fachgerichtsbarkeit nicht nahe
.
aa)
In zwei Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt,
dass es in bestimmten Bereichen selbst eine Prüfung am Maßstab der Grund-
rechte der Europäischen Union vornimmt
. Soweit
das Bundesverfassungsgericht die Charta als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es
seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem Gerichtshof aus. Das Bundesver-
fassungsgericht legt dem Gerichtshof ungeklärte Fragen hinsichtlich der Ausle-
gung der Charta selbst nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor
.
bb)
Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die hier fragliche Berücksichtigung von
Urlaubszeiten bei der Berechnung zuschlagspflichtiger Mehrarbeitszeiten zu den
Bereichen gehören könnte, für die das Bundesverfassungsgericht eine eigene
Kontrolle an Unionsgrundrechten durchführt. In diesem Fall könnte eine Vorlage-
pflicht des Senats nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht gegeben sein.
(1)
Eine eigene Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts dürfte
sich allerdings nicht aus dem Gesichtspunkt vollharmonisierten Rechts ergeben.
(a)
Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert die Anwendung unionsrecht-
lich vollständig vereinheitlichter Regelungen am Maßstab der Unionsgrund-
rechte. Insoweit sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern al-
lein die Unionsgrundrechte anwendbar. Ob eine Regelung unionsrechtlich voll-
ständig vereinheitlicht ist, richtet sich nach einer Auslegung des jeweils anzuwen-
denden unionsrechtlichen Fachrechts. Das Bundesverfassungsgericht hat im
konkreten Fall darauf abgestellt, dass die dort einschlägigen Vorschriften des
Unionsrechts im Bereich des Datenschutzes nicht lediglich auf eine Mindesthar-
monisierung, sondern auf eine umfassende Vereinheitlichung der nationalen
60
61
62
63
- 20 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 21 -
Rechtsvorschriften gerichtet waren
.
(b)
Fragen der Berechnung von Mehrarbeitsvergütung im Zusammenhang
mit Urlaub dürften nicht als unionsrechtlich vollständig harmonisiert im Sinn der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzusehen sein. Weder in
Art. 31 Abs. 2 der Charta noch in der Richtlinie 2003/88/EG finden sich hierzu
konkrete Vorschriften oder Vorgaben. Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 und
Abs. 2 Buchst. a, Art. 7 Abs. 1 und Art. 15 der Richtlinie 2003/88/EG geht aus-
drücklich hervor, dass sich die Richtlinie darauf beschränkt, Mindestvorschriften
für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung aufzustellen,
und die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lässt, für den Schutz der Arbeit-
nehmer günstigere nationale Vorschriften anzuwenden
. Nach
Art. 153 Abs. 2 Satz 1 Buchst. b iVm. Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b AEUV be-
steht nur eine Kompetenz der Union, zum Schutz der Gesundheit und der Sicher-
heit von Arbeitnehmern Richtlinien mit sogenannten Mindestvorschriften zu er-
lassen
.
(2)
Eine eigene Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts am Maßstab der
Unionsgrundrechte außerhalb des vollharmonisierten Bereichs kommt hier je-
doch unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass durch eine Überprüfung allein
an deutschen Grundrechten das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts
möglicherweise nicht gewahrt sein könnte.
(a)
Eine Prüfung allein am Maßstab der deutschen Grundrechte reicht au-
ßerhalb des vollharmonisierten Bereichs dann nicht von vornherein aus, wenn
konkrete und hinreichende Anhaltspunkte bestehen, dass dadurch das grund-
rechtliche Schutzniveau des Unionsrechts nicht gewahrt sein könnte. Anhalts-
punkte für ein höheres Schutzniveau können sich insbesondere aus der Recht-
sprechung des Gerichtshofs ergeben. Ist konkret erkennbar, dass er spezifische
64
65
66
- 21 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
- 22 -
Schutzstandards zugrunde legt, die von den deutschen Grundrechten nicht ge-
währleistet werden, ist das in die Prüfung einzubeziehen
.
(b)
Aus der umfangreichen Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Mindest-
jahresurlaub iSv. Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG
ergeben sich Anhaltspunkte für ein höheres grundrechtliches Schutzniveau des
Unionsrechts. Unionsrechtlich sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs
auch die Urlaubsdauer, die Übertragbarkeit des Urlaubsanspruchs in Folgejahre
und seine Vererblichkeit vom Grundrechtsschutz erfasst. Dagegen ist der Ur-
laubsanspruch aus nationaler Sicht in Rechtsprechung und Schrifttum bisher
nicht in vergleichbarer Weise grundrechtlich ausgeformt. Zwar wäre es möglich,
das Recht auf Urlaub auch mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu unter-
legen. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa für den Bereich der Nachtar-
beit erkannt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Schutz der Arbeitnehmer
vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit zu regeln. Eine solche Regelung ist
notwendig, um dem objektiven Gehalt der Grundrechte, insbesondere des
Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, zu genügen
. Ebenso wie Beschränkungen der Nachtarbeit dient auch der
Urlaubsanspruch der Gesundheit der betroffenen Arbeitnehmer
. Es läge daher nahe, aus der Schutzpflicht für die körperliche
Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einen Auftrag an den Gesetzgeber
abzuleiten, durch Regelungen des Urlaubsanspruchs - wie im Bundesurlaubsge-
setz geschehen - die Gesundheit der betroffenen Arbeitnehmer zu schützen.
Selbst wenn solche verfassungsrechtlichen Ableitungen aus deutschen Grund-
rechten jedenfalls denkbar sind, dürfte der unionsrechtliche Grundrechtsschutz
für den Urlaub ein höheres Niveau erreicht haben.
67
- 22 -
10 AZR 210/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:170620.B.10AZR210.19A.0
2.
Unabhängig von der Frage, ob das Bundesarbeitsgericht hier als letzt-
instanzliches Gericht iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV zu einer Vorlage verpflichtet ist,
sind die Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV erfüllt.
Der Senat ist jedenfalls dazu berechtigt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung
zu ersuchen.
Gallner
Brune
Pulz
Rudolph
Salzburger
68