Urteil des BAG vom 11.11.2020

Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter bei der Vergütung - Cockpitpersonal - Mehrflugdienststundenvergütung

Bundesarbeitsgericht
Vorlagebeschluss (EuGH) vom 11. November 2020
Zehnter Senat
- 10 AZR 185/20 (A) -
ECLI:DE:BAG:2020:111120.B.10AZR185.20A.0
I. Arbeitsgericht
München
Endurteil vom 29. Mai 2019
- 12 Ca 13601/18 -
II. Landesarbeitsgericht
München
Urteil vom 19. November 2019
- 6 Sa 370/19 -
Entscheidungsstichwort:
Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter bei der Vergütung
Leitsatz:
Tarifvertragliche Bestimmungen, die eine zusätzliche Vergütung davon ab-
hängig machen, dass dieselbe Zahl von Arbeitsstunden überschritten wird,
ohne zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu unterscheiden, werfen
Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht auf. Der Zehnte Senat des
Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union
nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über zwei Fragen. Sie betref-
fen das Verständnis der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rah-
menvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG.
ECLI:DE:BAG:2020:111120.B.10AZR185.20A.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
10 AZR 185/20 (A)
6 Sa 370/19
Landesarbeitsgericht
München
Verkündet am
11. November 2020
BESCHLUSS
Jatz, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger, Berufungsbeklagter und Revisionskläger,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte, Berufungsklägerin und Revisionsbeklagte,
hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 11. November 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundes-
arbeitsgericht Gallner, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Brune, den
Richter am Bundesarbeitsgericht Pessinger sowie die ehrenamtlichen Richter
Simon und Bicknase beschlossen:
- 2 -
10 AZR 185/20 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:111120.B.10AZR185.20A.0
- 3 -
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach
Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Fragen
ersucht:
1. Behandelt eine nationale gesetzliche Vorschrift Teil-
zeitbeschäftigte schlechter gegenüber vergleichbaren
Vollzeitbeschäftigten iSv. § 4 Nr. 1 der Rahmenver-
einbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtli-
nie 97/81/EG, wenn sie es zulässt, eine zusätzliche
Vergütung für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte ein-
heitlich daran zu binden, dass dieselbe Zahl von Ar-
beitsstunden überschritten wird, und es damit erlaubt,
auf die Gesamtvergütung, nicht auf den Entgeltbe-
standteil der zusätzlichen Vergütung abzustellen?
2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird:
Ist eine nationale gesetzliche Vorschrift, die es er-
laubt, einen Anspruch auf eine zusätzliche Vergütung
davon abhängig zu machen, dass für Teilzeit- und
Vollzeitbeschäftigte einheitlich dieselbe Zahl von Ar-
beitsstunden überschritten wird, mit § 4 Nr. 1 und dem
Pro-rata-temporis-Grundsatz in § 4 Nr. 2 der Rah-
menvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der
Richtlinie 97/81/EG vereinbar, wenn mit der zusätzli-
chen Vergütung der Zweck verfolgt wird, eine beson-
dere Arbeitsbelastung auszugleichen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Union über das
Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von § 4 Nr. 1
und Nr. 2 der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung
über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG (Rahmenvereinbarung).
A.
Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger als Arbeitnehmer in Teilzeit
Anspruch auf eine erhöhte Vergütung - eine sog. Mehrflugdienststundenvergü-
tung - hat.
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Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach deut-
schem Recht. Sie betreibt ein Luftfahrtunternehmen, das Kurz- und Langstre-
ckenflüge durchführt. Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem Jahr 2001 als
Flugzeugführer und Erster Offizier beschäftigt. Er wird auch auf dem Flugzeug-
muster Airbus A340 eingesetzt.
Seit dem Jahr 2010 arbeitet der Kläger in Teilzeit mit einer Arbeitszeit,
die auf 90 % der Vollarbeitszeit verringert ist. Die Teilzeitarbeit leistet der Kläger
nach den Regelungen einer Betriebsvereinbarung. Auf ihrer Grundlage wird der
Kläger wie ein Vollzeitbeschäftigter eingesetzt, ohne dass die zu leistenden Flug-
dienststunden reduziert werden. Er erhält jedoch zusätzlich 37 freie Tage im
Jahr. Seine Grundvergütung einschließlich der Stellenzulagen ist um 10 % ermä-
ßigt. Die monatliche Bruttovergütung betrug zuletzt 13.824,15 Euro.
Nach den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifverträgen für das
Cockpitpersonal der Beklagten ist ein Bestandteil der Arbeitszeit, die mit dem
Grundentgelt vergütet wird, die Flugdienstzeit. Ein Arbeitnehmer erhält eine über
die Grundvergütung hinausgehende Mehrflugdienststundenvergütung, wenn er
eine bestimmte Zahl von Flugdienststunden im Monat geleistet und damit die
Grenzen für die erhöhte Vergütung überschritten
(„ausgelöst“) hat. Dafür sehen
die tarifvertraglichen Bestimmungen drei der Höhe nach ansteigende Stunden-
sätze vor, die über dem Stundenentgelt liegen, das auf der Basis der Grundver-
gütung ermittelt wird. Sie sind für die Berechnung der Vergütung heranzuziehen,
wenn der Arbeitnehmer auf der Kurzstrecke 106, 121 und 136 monatliche Flug-
dienststunden erbracht und damit die sog. Auslösegrenzen überschritten hat. Für
Flugdienststunden auf Langstreckenflügen gelten abgesenkte Auslösegrenzen
von 93, 106 und 120 Flugdienststunden im Monat. Die tariflichen Bestimmungen
sehen nicht vor, dass diese Grenzen für Arbeitnehmer, die Teilzeitarbeit leisten,
entsprechend ihrem Teilzeitanteil zu verringern sind.
Um die monatliche Mehrflugdienststundenvergütung des Klägers bestim-
men zu können, errechnet die Beklagte eine individuelle Auslösegrenze, die die
Teilzeitarbeit des Klägers berücksichtigt. Für Flugdienststunden, die der Kläger
über seine individuelle Auslösegrenze hinaus erbringt, erhält er das aus der
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Grundvergütung ermittelte Stundenentgelt. Erst wenn seine Flugdienstzeit die für
Vollzeitbeschäftigte geltenden Auslösegrenzen überschreitet, erhält er eine er-
höhte Vergütung.
Der Kläger ist der Auffassung, er habe einen Anspruch auf die erhöhte
Vergütung bereits dann, wenn er die entsprechend seinem Teilzeitfaktor abge-
senkten Auslösegrenzen überschreite. Die tariflichen Bestimmungen, die identi-
sche Auslösegrenzen für Voll- und Teilzeit enthielten, verstießen gegen das Ver-
bot, Teilzeitbeschäftigte im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten schlechter zu be-
handeln. Ein Arbeitnehmer in Teilzeit komme erst in den Genuss der erhöhten
Vergütung, wenn er die Differenz zwischen seiner individuellen Auslösegrenze
und den tarifvertraglichen Auslösegrenzen gearbeitet habe. Der Pro-rata-tempo-
ris-Grundsatz bleibe dabei unbeachtet. Für die unterschiedliche Behandlung be-
stehe kein sachlicher Grund. Mit der Mehrflugdienststundenvergütung hätten die
Tarifvertragsparteien nicht bezweckt, besondere Belastungen auszugleichen.
Sie hätten das Ziel verfolgt, den individuellen Freizeitbereich der Arbeitnehmer
zu schützen. Um einen Eingriff in diesen geschützten Bereich handle es sich be-
reits dann, wenn die entsprechend dem Teilzeitfaktor abgesenkte Flugdienstzeit
überschritten werde.
Mit seiner Klage verlangt der Kläger von der Beklagten die Differenz zwi-
schen der bereits gezahlten und der erhöhten Mehrflugdienststundenvergütung
auf der Grundlage der abgesenkten Auslösegrenzen.
Die Beklagte meint, dass sie keine höhere als die bereits gezahlte Ver-
gütung schulde. Die tariflichen Bestimmungen seien wirksam. Für die unter-
schiedliche Behandlung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten bestehe ein sach-
licher Grund. Die Mehrflugdienststundenvergütung diene dazu, eine besondere
Arbeitsbelastung auszugleichen. Sie bestehe erst, wenn die Auslösegrenzen
überschritten seien.
Das Arbeitsgericht hat der Klage auf die Vergütungsdifferenzen stattge-
geben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der vom Landesar-
beitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger weiterhin sein Ziel, dass
die Beklagte verurteilt wird, die Vergütungsdifferenzen zu zahlen.
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B.
Einschlägiges nationales Recht
I.
Gesetzliche Vorschriften
1.
In § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der Fassung der Be-
kanntmachung vom 2. Januar 2002
, zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Oktober 2020
, heißt es:
㤠134 Gesetzliches Verbot
Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot ver-
stößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein ande-
res ergibt.
2.
Das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit-
und Befristungsgesetz - TzBfG) vom 21. Dezember 2000
, zu-
letzt geändert durch Gesetz vom 22. November 2019
, regelt
auszugsweise:
„§ 2 Begriff des teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmers
(1)
3
Vergleichbar ist ein vollzeitbeschäftigter Arbeit-
nehmer des Betriebes mit der derselben Art des Ar-
beitsverhältnisses und der gleichen oder einer ähnli-
chen
Tätigkeit. …
§ 4 Verbot der Diskriminierung
(1)
1
Ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer darf wegen der
Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als
ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer,
es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschied-
liche Behandlung rechtfertigen.
2
Einem teilzeitbe-
schäftigten Arbeitnehmer ist Arbeitsentgelt oder eine
andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem
Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeits-
zeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbe-
schäftigten Arbeitnehmers entspricht.
§ 22 Abweichende Vereinbarungen
(1) Außer in den Fällen des § 9a Absatz 6, § 12 Absatz 6,
§ 13 Absatz 4 und § 14 Absatz 2 Satz 3 und 4 kann
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von den Vorschriften dieses Gesetzes nicht zuun-
gunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden.
II.
Anzuwendende Tarifverträge
1.
Der Manteltarifvertrag Nr. 4, gültig ab dem 1. März 2013, für die Mitarbei-
ter des Cockpitpersonals der Lufthansa CityLine GmbH vom 8. Dezember 2016
(MTV Nr. 4) regelt auszugsweise:
㤠6 Arbeitszeit
(1) Die Arbeitszeit umfasst die Zeit, in der die Mitarbeiter
auf Anordnung der CLH
*
Dienst leisten. Die Arbeitszeit
schließt ein:
a)
die Flugdienstzeit (§ 8),
b)
Büro- oder Verwaltungstätigkeiten,
c)
Einweisungen, Ausbildungen und Umschulun-
gen,
d)
Bordverkaufsabrechnungen,
e)
fliegerärztliche Untersuchungen und Impfungen,
f)
Bereitschaftsdienste (= Standby), soweit sie
nicht zur Flugdienstzeit zählen,
g)
Begleitung von Passagieren (zB Kinder oder
Kranke),
h)
Dienstreisen und Dienstgänge, soweit sie nicht
zur Flugdienstzeit zählen,
i)
Proceedings ab Show-Up-Zeit und Bodenzeiten
bei Zwischenaufenthalten,
j)
notwendige Tätigkeiten im Sinne des § 37 Be-
triebsverfassungsgesetz (soweit für das Cockpit-
personal der CLH zutreffend) im erforderlichen
Umfang.
(2) a)
Die tägliche Arbeitszeit (ohne Pausen), zu der
ein Mitarbeiter eingeteilt werden kann, darf im
Kurzstreckenverkehr 14 Stunden nicht über-
schreiten, soweit der betreffende Mitarbeiter
nicht damit einverstanden ist. Hierbei zählen Be-
reitschaftsdienste zur Hälfte, sofern sie nicht auf
einem Flughafen abzuleisten sind; Beförde-
rungszeiten nach Beendigung des Flugdienstes
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zum dienstlichen Wohnsitz sind nicht mitzurech-
nen.
b)
Wird ein Mitarbeiter an mehr als zwei aufeinan-
derfolgenden Tagen im Bodendienst beschäftigt,
so wird die Grundarbeitszeit auf der Basis von
38,5 Arbeitsstunden je Woche festgelegt. Even-
tuelle Mehrarbeit wird durch zusätzliche Freizeit
bis zum Ende des darauffolgenden Monats aus-
geglichen.
(3) Die Mitarbeiter werden auf Basis von Dienstplänen
eingesetzt. Diese gelten in der Regel in Abschnitten
von vier Wochen und sind rechtzeitig im Voraus zu
veröffentlichen. …
(4) Bei der Einplanung und Einteilung der Mitarbeiter sind
die Bestimmungen der Tarifverträge zu beachten und
ist im Rahmen der betrieblich vertretbaren Möglichkei-
ten eine gleichmäßige Belastung aller Mitarbeiter am
jeweiligen Stationierungsort zu gewährleisten, sowohl
im Vergleich untereinander bezogen auf die jeweilige
Beschäftigungsgruppe (Flotte und Funktion) als auch
unter Berücksichtigung des CLH Programms und der
personellen Umstände in Bezug auf den Einzelnen
über den Zwölf-Monatszeitraum hinweg.
*
Von den Tarifvertragsparteien gewählte Abkürzung für
Lufthansa CityLine GmbH
§ 7 Flugzeit
(1) Die Flugzeit im Sinne dieses MTV ist die gesamte Zeit
von dem Zeitpunkt an, zu dem ein Flugzeug mit eige-
ner oder fremder Kraft zum Start abrollt, bis zu dem
Zeitpunkt, zu dem es am Ende des Fluges zum Still-
stand kommt (Blockzeit).
(2) Die Summe der Flugzeiten (= Blockzeiten) jedes Mit-
arbeiters darf 1.000 Stunden pro Kalenderjahr nicht
überschreiten.
§ 8 Flugdienstzeit
(1) Die bezahlungswirksame Flugdienstzeit umfasst:
a)
die Zeiten für Vorarbeiten vom angeordneten
Antritt des Flugdienstes bis zum Beginn der
Blockzeit, wie im OM oder vorübergehend durch
Einzelanordnung festgelegt ist,
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b)
die Blockzeit,
c)
die Zeiten für Abschlussarbeiten nach dem Ende
der Blockzeit, wie im OM oder vorübergehend
durch Einzelanordnung festgelegt ist, mindes-
tens jedoch 15 Minuten, auf Langstrecke min-
destens 30 Minuten,
d)
die auf Anordnung im Flugsimulator verbrachte
Zeit einschließlich der Zeiten nach a) und c) und
e)
alle übrigen Zeiten zwischen den Vorarbeiten
nach a) und den Abschlussarbeiten nach c),
f)
Proceedingzeiten innerhalb einer Einsatzkette
werden zu 50 % angerechnet. Davon ausge-
nommen sind Zeiten zwischen Ende Proceeding
und Dienstbeginn bzw. zwischen Dienstende
und Beginn Proceeding. Diesbezüglich stellt ein
Einzel-Off-Tag keine Unterbrechung der Ein-
satzkette dar.
(2)
(3) a)
Die uneingeschränkte Flugdienstzeit der Mitar-
beiter zwischen zwei Ruhezeiten beträgt zehn
Stunden. Innerhalb sieben aufeinanderfolgender
Tage ist eine viermalige Verlängerung der Flug-
dienstzeit nach Satz 1 um jeweils bis zu zwei
Stunden zulässig oder eine zweimalige Verlän-
gerung um jeweils bis zu vier Stunden. In keinem
Falle darf die Summe der Verlängerungen inner-
halb sieben aufeinanderfolgender Tage acht
Stunden überschreiten.
b)
Die Sieben-Tages-Zeiträume beginnen jeweils
um 00:00 UTC des ersten und enden jeweils um
24:00 UTC des letzten Tages.
(4)
(5) Die Flugdienstzeiten dürfen innerhalb 30 aufeinander-
folgender Tage 210 Stunden, innerhalb eines Kalen-
derjahres 1.800 Stunden nicht überschreiten.
2.
§ 4 des Vergütungstarifvertrags Nr. 6 für die Mitarbeiter des Cockpitper-
sonals der Lufthansa CityLine GmbH vom 11. Juli 2014 (VTV Nr. 6) regelt in Aus-
zügen:
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„§ 4 Mehrflugdienststundenvergütung
(1) Ab der 106. monatlichen Flugdienststunde (gem. § 8
Abs. 1 MTV Cockpit Nr. 1) wird eine Mehrflugdienst-
stundenvergütung in Höhe von 1/100 des individuel-
len monatlichen Gesamtgehaltes (gem. § 3) pro Flug-
dienststunde gezahlt.
(2) Ab der 121. monatlichen Flugdienststunde (gem. § 8
Abs. 1 MTV Cockpit Nr. 1) wird eine Mehrflugdienst-
stundenvergütung in Höhe von 1/85 des individuellen
monatlichen Gesamtgehaltes (gem. § 3) pro Flug-
dienststunde gezahlt.
(3) Ab der 136. monatlichen Flugdienststunde (gem. § 8
Abs. 1 MTV Cockpit Nr. 1) wird eine Mehrflugdienst-
stundenvergütung in Höhe von 1/73 des individuellen
monatlichen Gesamtgehaltes (gem. § 3) pro Flug-
dienststunde gezahlt.
(4) ...
(5) Bei der Berechnung des Anspruchs auf Mehrflug-
dienststundenvergütung nach den Abs. 1 bis 3 wer-
den dem Mitarbeiter für jeden Monat wegen Urlaubs
oder von der CLH angeordneter Schulung ausfallen-
den vollen Kalendertag 3,5 zusätzliche Flugdienst-
stunden angerechnet, höchstens jedoch 98 Flug-
dienststunden pro Monat.“
3.
Eine weitere Vereinbarung der Tarifvertragsparteien vom 29. November
2014, die als
„Eckpunktepapier ‚Jump‘“ bezeichnet ist, bestimmt in Abschnitt III
Nr. 6 auszugsweise:
„-
Mehrflugdienststundenvergütung
Für die Vergütung der Mehrflugdienststunden im
Interkontbereich auf der A340 im Rahmen des
Projekts ‚Jump‘ werden die Auslösegrenzen wie
folgt festgesetzt:
○ 1. Stufe: 93 Stunden
○ 2. Stufe: 106 Stunden
○ 3. Stufe: 120 Stunden
Die Zuschreibung gemäß § 4 Abs. 5 VTV beträgt
für jeden vollen Kalendertag 3,1 Flugdienststun-
den, höchstens jedoch 87 je Monat.
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C.
Einschlägiges Unionsrecht
Die von UNICE, CEEP und EGB geschlossene Rahmenvereinbarung
über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezem-
ber 1997
regelt in Auszügen:
„Paragraph 3: Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Vereinbarung ist
2.
‚vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter‘ ein Vollzeitbe-
schäftigter desselben Betriebs mit derselben Art von
Arbeitsvertrag oder Beschäftigungsverhältnis, der in
der gleichen oder einer ähnlichen Arbeit/Beschäfti-
gung tätig ist, wobei auch die Betriebszugehörigkeits-
dauer und die Qualifikationen/Fertigkeiten sowie an-
dere Erwägungen heranzuziehen sind.
Paragraph 4: Grundsatz der Nichtdiskriminierung
1.
Teilzeitbeschäftigte dürfen in ihren Beschäftigungsbe-
dingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt
sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten
nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die
unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Grün-
den gerechtfertigt.
2.
Es gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-tempo-
ris-Grundsatz.
3.
Die Anwendungsmodalitäten dieser Vorschrift werden
von den Mitgliedstaaten und/oder den Sozialpartnern
unter Berücksichtigung der Rechtsvorschriften der
Gemeinschaft und der einzelstaatlichen gesetzlichen
und tarifvertraglichen Bestimmungen und Gepflogen-
heiten festgelegt.
D.
Rechtsprechung
I.
Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof)
Der Gerichtshof hat sich in drei Vorabentscheidungsverfahren unter dem
Gesichtspunkt der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen damit befasst, un-
ter welchen Voraussetzungen eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftig-
ten beim Entgelt festzustellen ist.
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10 AZR 185/20 (A)
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- 12 -
1.
In den Rechtssachen Helmig ua. ist der Gerichtshof davon ausgegangen,
dass es immer dann eine Ungleichbehandlung sei, wenn bei gleicher Zahl von
Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet würden, die an Voll-
zeitbeschäftigte gezahlte Vergütung höher sei als die an Teilzeitbeschäftigte ge-
leistete. Der Gerichtshof hat einen Vergleich der Gesamtvergütungen vorgenom-
men und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Teilzeitbeschäftigte die gleiche Ge-
samtvergütung wie Vollzeitbeschäftigte erhielten, wenn sie die tarifvertraglich
festgesetzte Regelarbeitszeit überschritten und dann ebenfalls Überstundenzu-
schläge erhielten
.
2.
Demgegenüber hat der Gerichtshof im Jahr 2004 - wie schon in früheren
Entscheidungen - Entgeltbestandteile isoliert betrachtet. In der Rechtssache
Elsner-Lakeberg hat der Gerichtshof als Methode der Prüfung, ob der Grundsatz
des gleichen Entgelts für männliche und weibliche Beschäftigte gewahrt ist, ver-
langt, dass jeder Entgeltbestandteil einzeln am Maßstab dieses Grundsatzes ge-
prüft und nicht nur eine Gesamtbewertung vorgenommen werde. Der Gerichtshof
hat eine Benachteiligung angenommen, weil bei Teilzeitbeschäftigten die Zahl
zusätzlicher Stunden, von der an ein Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung ent-
stehe, nicht proportional zu ihrer Arbeitszeit vermindert werde
.
3.
In der Sache Voß ist der Gerichtshof von einer Benachteiligung von Teil-
zeitbeschäftigten ausgegangen, wenn sie von einer abgesenkten Stundenvergü-
tung früher betroffen seien als Vollzeitbeschäftigte. Der Gerichtshof hat die Me-
thoden der Gesamt- und der Einzelbetrachtung gegenübergestellt und die Ver-
gütungsbestandteile untersucht, im Einzelfall den negativen Entgeltbestandteil
eines Vergütungsabschlags
.
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10 AZR 185/20 (A)
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II.
Bundesarbeitsgericht (BAG)
1.
Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten
a)
Die Rechtsprechung des Dritten, des Fünften, teilweise auch des Sechs-
ten und des Zehnten Senats des Bundesarbeitsgerichts hat sich auf die Entschei-
dung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Helmig ua. gestützt. Den deutschen
Urteilen lag jeweils ein Vergleich der Gesamtvergütungen zugrunde. Es handle
sich um keine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten, wenn
für die gleiche Zahl von Arbeitsstunden für Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte die
gleiche Vergütung geschuldet werde
.
b)
Auf der Grundlage der Entscheidung Elsner-Lakeberg hat der Sechste
Senat des Bundesarbeitsgerichts dagegen angenommen, dass die formale
Gleichbehandlung mit Blick auf die Gesamtvergütung zu einer Ungleichbehand-
lung führe und der Entgeltbestandteil des Überstundenzuschlags isoliert zu be-
trachten sei. Die Anforderung, dass Teilzeitbeschäftigte erst die gesamte Diffe-
renz bis zu der Vollarbeitszeit über ihre Teilzeitquote hinaus arbeiten müssten,
um für die nächste Stunde einen Überstundenzuschlag zu erhalten, sei mit einer
höheren Belastungsgrenze von Teilzeit- gegenüber Vollzeitbeschäftigten verbun-
den
.
c)
Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat sich mit Urteil vom
19. Dezember 2018 dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts ange-
schlossen und seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben
. Danach führe die formale
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Gleichbehandlung im Hinblick auf die Gesamtvergütung zu einer Ungleichbe-
handlung. Der Vergleich von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten sei methodisch
für jeden einzelnen Entgeltbestandteil vorzunehmen. Eine Gesamtbewertung der
geleisteten Vergütungsbestandteile scheide aus. Entgelte für die Regelarbeits-
zeit und für Mehr- oder Überarbeitsvergütungen seien gesondert zu vergleichen
.
2.
Belastungsausgleich
Soweit das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit die Gesamtver-
gütung in den Blick genommen und eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbe-
schäftigten iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG hinsichtlich des Entgelts abgelehnt hatte,
musste es nicht darüber befinden, ob der Zweck des Belastungsausgleichs eine
unterschiedliche Behandlung rechtfertigen kann. Im Zusammenhang mit der Er-
mittlung, welchen Zweck die Tarifvertragsparteien mit Mehrarbeitszuschlägen
verfolgten, und mit der Prüfung, ob eine Regelung mit den verfassungsrechtli-
chen Grundsätzen der Gleichbehandlung und des Verbots von Diskriminierungen
vereinbar ist, hat das Bundesarbeitsgericht den Belastungsausgleich themati-
siert. Der Sechste Senat hat diese Rechtsprechung dahin zusammengefasst,
dass die unterschiedliche Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten un-
ter zwei Voraussetzungen gerechtfertigt sei. Die tarifliche Regelung müsse den
Zweck haben, besondere Belastungen auszugleichen, die entstünden, wenn Be-
schäftigte über die von den Tarifvertragsparteien vorgegebene tarifliche Arbeits-
zeit hinaus tätig würden. Zugleich müsse die Tarifnorm zum Ziel haben, den Ar-
beitgeber von einer solchen übermäßigen Inanspruchnahme abzuhalten
. Der
Sechste Senat musste allerdings ebenso wenig wie der Zehnte Senat zuletzt die
Frage beantworten, ob der Belastungsausgleich die unterschiedliche Behand-
lung rechtfertigt. In beiden Fällen bestand der Zweck der zusätzlichen Vergütung
darin, den Eingriff in den geschützten Freizeitbereich auszugleichen
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.
III.
Landesarbeitsgerichte (LAG)
Die vom Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts vollzogene Abkehr
weg von der Gesamtbetrachtung der Vergütung hin zu einer Betrachtung der Ent-
geltbestandteile hat bei den Gerichten für Arbeitssachen und im Schrifttum nicht
uneingeschränkt Zustimmung gefunden
. Zwei Kammern des Landesarbeitsge-
richts Nürnberg haben auf die Entscheidung des Gerichtshofs in den Rechtssa-
chen Helmig ua. Bezug genommen und ausgeführt, dass die Gesamtvergütung
zu betrachten sei
.
Sie haben angenommen, dass sich aus der Entscheidung in der Rechtssache
Elsner-Lakeberg nichts Abweichendes ergebe
. Ferner sei nicht ersichtlich, dass sich der Ge-
richtshof in der Rechtssache Voß von seiner Rechtsprechung in den Rechtssa-
chen Helmig ua. gelöst habe
.
Zudem habe der Rechtssache Voß eine besondere Konstellation zugrunde gele-
gen
. Das Schrifttum nimmt aufgrund dessen an, es sei weiterhin fraglich, ob
eine Bestimmung, die die Vergütung von Mehrarbeit an die für einen Vollzeitbe-
schäftigten geltende Arbeitszeit knüpfe, eine Diskriminierung von Teilzeitbe-
schäftigten beinhalte
.
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E.
Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erläute-
rung der Vorlagefragen
I.
Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
1.
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf weitere Vergütung
ergibt sich nicht aufgrund der anwendbaren tariflichen Bestimmungen. Sie sehen
eine erhöhte Vergütung in Form der Mehrflugdienststundenvergütung erst vor,
wenn die einheitlich für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte geltenden Auslösegren-
zen überschritten sind. Der Anspruch ist jedoch gegeben, wenn die tariflichen
Bestimmungen, die die Vergütung für Mehrflugdienststunden regeln, nicht mit § 4
Abs. 1 TzBfG vereinbar sind. Das wäre der Fall, wenn in den für Teilzeit- und
Vollzeitbeschäftigte einheitlich geltenden Auslösegrenzen eine schlechtere Be-
handlung von Teilzeitbeschäftigten läge, für die keine sachlichen Gründe ange-
führt werden könnten. Der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG führte dazu, dass die
diskriminierende Regelung nach § 134 BGB nichtig wäre. Die Diskriminierung für
die Vergangenheit könnte
allein durch eine „Anpassung nach oben“ beseitigt wer-
den, weil die begünstigende Regelung das einzig gültige Bezugssystem bliebe
. Eine
„Anpassung nach unten“ scheidet aus. An den Kläger wäre die ihm zu Unrecht
vorenthaltene Mehrflugdienststundenvergütung in dem Umfang zu leisten, der
dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbe-
schäftigten Arbeitnehmers entspräche
.
2.
Der Senat muss daher zunächst prüfen, ob die tariflichen Bestimmungen
über die Mehrflugdienststundenvergütung dazu führen, dass Teilzeitbeschäftigte
gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten schlechter iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG
behandelt werden.
3.
Ob auch eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts iSv.
§ 3 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gegeben ist, weil sich
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die zu beurteilenden Tarifnormen auf einen signifikant höheren Anteil von Perso-
nen eines Geschlechts im Vergleich zu Personen des anderen Geschlechts un-
günstig auswirken, hat der Senat nicht zu beurteilen
. Das Landesarbeitsgericht hat keine entsprechenden Feststel-
lungen getroffen.
4.
Nimmt der Senat eine schlechtere Behandlung iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG hin-
sichtlich des Entgelts an, muss er im Folgenden prüfen, ob diese unterschiedliche
Behandlung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist, die es erlauben, vom Pro-
rata-temporis-Grundsatz abzuweichen.
5.
Für das Verständnis von § 4 Abs. 1 TzBfG ist das Unionsrecht maßgeb-
lich.
a)
Mit § 4 Abs. 1 TzBfG wurden § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinba-
rung umgesetzt. Daher ist für die Auslegung von § 4 Abs. 1 TzBfG die für das
Unionsrecht ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen.
Das gilt auch mit Blick darauf, dass die zu beurteilenden Vorschriften in Tarifver-
trägen enthalten sind. Das in Art. 28 der Charta gewährleistete Recht auf Kollek-
tivverhandlungen muss im Geltungsbereich des Unionsrechts im Einklang mit
ihm ausgeübt werden. Wenn die nationalen Sozialpartner Maßnahmen treffen,
die in den Geltungsbereich der von den Sozialpartnern auf Unionsebene ge-
schlossenen Rahmenvereinbarung fallen, müssen sie die Rahmenvereinbarung
beachten
.
b)
Unionsrecht muss nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil die Euro-
päische Union nach Art. 153 Abs. 5 AEUV keine Kompetenz für die Regelung
des Arbeitsentgelts hat. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese
Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Sie bezieht sich auf Maßnahmen, mit de-
nen das Unionsrecht unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte innerhalb
der Union eingriffe, wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile
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und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung eines Mindest-
lohns. Sie lässt sich jedoch nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem
Zusammenhang stehenden Fragen erstrecken. Sonst würden einige in Art. 153
Abs. 1 AEUV aufgeführte Bereiche eines großen Teils ihrer Substanz beraubt
. Art. 153 Abs. 5
AEUV steht deswegen einem Verständnis von § 4 der Rahmenvereinbarung
nicht entgegen, wonach dieser Paragraf die Mitgliedstaaten verpflichtet, die An-
wendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung zugunsten Teilzeitbeschäf-
tigter auch für das Arbeitsentgelt zu gewährleisten und dabei, wo dies angemes-
sen ist, den Pro-rata-temporis-Grundsatz zu beachten
.
c)
Aus Sicht des Senats nicht entscheidungserheblich sind die Regelungen
in der Verordnung (EG) Nr. 859/2008 der Kommission vom 20. August 2008 zur
Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates in Bezug auf gemein-
same technische Vorschriften und Verwaltungsverfahren für den gewerblichen
Luftverkehr mit Flächenflugzeugen
. Diese unionsrechtlichen Bestimmungen gestalten ua. die Arbeitszeit des
Bordpersonals aus, indem sie Höchstgrenzen für Dienst-, Flugdienst- und Block-
zeiten bestimmen
. Sie treffen jedoch keine Aussage über die Teilzeitarbeit des
Bordpersonals.
II.
Erläuterung der ersten Vorlagefrage
Die erste Vorlagefrage betrifft die Auslegung von § 4 Nr. 1 der Rahmen-
vereinbarung mit Blick darauf, nach welcher Methodik zu ermitteln ist, ob eine
nationale Vorschrift zu einer schlechteren Behandlung von Teilzeitbeschäftigten
iSv. § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung hinsichtlich des Entgelts führt.
1.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG dürfen Teilzeitbeschäftigte wegen der Teil-
zeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als vergleichbare Vollzeitbeschäf-
tigte, es sei denn, sachliche Gründe rechtfertigen eine unterschiedliche Behand-
lung. Teilzeitbeschäftigten ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte
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Leistung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG mindestens in dem Umfang zu gewähren,
der dem Anteil der Arbeitszeit an der Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäf-
tigter entspricht. Die Norm des § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG konkretisiert das allge-
meine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG für den Bereich des
Entgelts oder einer anderen teilbaren geldwerten Leistung. Auch tarifliche Rege-
lungen müssen mit § 4 TzBfG vereinbar sein. Die in dieser Vorschrift geregelten
Diskriminierungsverbote stehen nach § 22 TzBfG nicht zur Disposition der Tarif-
vertragsparteien
. Teilzeitbe-
schäftigte werden wegen der Teilzeitarbeit ungleichbehandelt, wenn die Dauer
der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der
unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft
.
2.
Der Kläger als Flugzeugführer in Teilzeit ist mit den in Vollzeit beschäf-
tigten Piloten vergleichbar. Vergleichsgruppe iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG sind für den
Kläger die mit der tariflichen Vollzeit beschäftigten Flugzeugführer
.
a)
Vergleichbare vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer iSd. § 4 Abs. 1 TzBfG
sind nach § 2 Abs. 1 Satz
3 TzBfG Arbeitnehmer „mit derselben Art des Arbeits-
verhältnisses und der gleichen oder einer ähnlichen
Tätigkeit“. Auch die in § 3
Nr. 2 der Rahmenvereinbarung genannten Kriterien, die den
„vergleichbaren
Vollzeitbeschäfti
gten“ definieren, stellen auf die inhaltliche Tätigkeit der betroffe-
nen Personen ab
. Maßgeblich ist vor allem die
Vergleichbarkeit der Tätigkeit. Diese funktionale Sichtweise ist allerdings dann
nicht maßgeblich, wenn es für die Leistungserbringung nicht auf die Tätigkeit,
sondern auf andere Faktoren - etwa die Betriebszugehörigkeit - ankommt. Ent-
scheidend für die Vergleichbarkeit ist dann, nach welchen Kriterien die Bestim-
mungen die Gruppenbildung vorgenommen haben oder an welche Gesichts-
punkte sie für die Erbringung der Leistung anknüpfen
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.
b)
Die Mehrflugdienststundenvergütung ist von der Beklagten nach den ta-
riflichen Bestimmungen für eine bestimmte Zahl geleisteter Flugdienststunden zu
erbringen. Die Tarifnormen stellen für die zu leistende zusätzliche Vergütung auf
eine bestimmte Form der Arbeitsleistung ab und machen sie allein davon abhän-
gig, ob die relevante Tätigkeit in einem bestimmten Umfang verrichtet wird. Alle
Arbeitnehmer, die dem Cockpitpersonal zuzurechnen sind und Flugdienststun-
den erbringen, werden von den Tarifnormen in gleicher Weise erfasst. Sie üben
vergleichbare Tätigkeiten aus. Die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich wie
im Fall des Klägers nur durch die kürzere Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten in
Form zusätzlicher freier Tage. Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn der
Zweck der Mehrflugdienststundenvergütung darin liegt, eine besondere Arbeits-
belastung auszugleichen. Bei dieser Betrachtung wird zwischen stärker und we-
niger stark belasteten Arbeitnehmern im Cockpit unterschieden. Für eine Ver-
gleichbarkeit ist schon nicht erforderlich, dass die gesamten Arbeitsbedingungen
identisch sind
. Jedenfalls ist die mögli-
cherweise geringere Belastung eines Teilzeitbeschäftigten regelmäßig nur die
Folge seiner kürzeren Arbeitszeit. Die fehlende Vergleichbarkeit von Teilzeit- und
Vollzeitbeschäftigten kann damit nicht begründet werden.
Sonst „liefe“ der Dis-
kriminierungsschutz von Teilzeitbeschäftigten
„leer“.
3.
Für die Entscheidung über die Revision kommt es darauf an, ob der
teilzeitbeschäftigte Kläger hinsichtlich der Mehrflugdienststundenvergütung
schlechter behandelt wird als Flugzeugführer, die in Vollzeit arbeiten. Darüber
kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV anzu-
rufen. Die Entscheidung hängt davon ab, wie § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung
auszulegen ist. Es kommt darauf an, nach welcher Methodik zu prüfen ist, ob
Teilzeitbeschäftigte hinsichtlich des Entgelts ungleichbehandelt werden.
a)
Im Urteil vom 19. Dezember 2018 hat der vorlegende Senat die einzel-
nen Entgeltbestandteile gesondert betrachtet
. Er hat sich auf die Vorgehensweise
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des Gerichtshofs in den Entscheidungen über die Rechtssachen Voß und Elsner-
Lakeberg bezogen
. Nach dieser Methodik ist eine Ungleichbehand-
lung anzunehmen. Sie ergibt sich daraus, dass teilzeitbeschäftigte Flugzeugfüh-
rer erst dann in den Genuss der erhöhten Vergütung kommen, wenn sie Flug-
dienststunden zwischen ihrer individuellen, entsprechend ihrem Teilzeitfaktor ab-
gesenkten ersten Auslösegrenze und den festen Auslösegrenzen ohne erhöhte
Vergütung geleistet haben. Bei isolierter Betrachtung des Entgeltbestandteils der
Mehrflugdienststundenvergütung erhält ein Teilzeitbeschäftigter das erhöhte Ent-
gelt in Form der Mehrflugdienststundenvergütung nicht für die erste Stunde, mit
der die individuelle erste Auslösegrenze überschritten wird, sondern erst dann,
wenn die für Vollzeitbeschäftigte geltende Schwelle überschritten wird. Das gilt
entsprechend für die zweite und dritte Stufe der Auslösegrenzen. Für Teilzeitbe-
schäftigte würde die Schwelle, von der an ein Anspruch entsteht, nicht pro-
portional zu ihrer individuellen Arbeitszeit abgesenkt. Dadurch käme es für Teil-
zeitbeschäftigte zu nachteiligen Auswirkungen auf das Verhältnis von Leistung
und Gegenleistung und damit zu einer unmittelbaren Ungleichbehandlung
.
b)
Ist für die Prüfung einer Ungleichbehandlung dagegen auf die Gesamt-
vergütung abzustellen, wie der Gerichtshof in den Rechtssachen Helmig ua. an-
genommen hat, scheidet eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten
aus
.
Flugzeugführer in Teilzeit und in Vollzeit erhalten dann für Arbeitszeiten, die über
den individuellen Auslösegrenzen des Teilzeitbeschäftigten liegen, die gleiche
Vergütung.
c)
Die aufgeworfene Frage erfordert eine Klärung durch den Gerichtshof.
aa)
In seinem Urteil vom 19. Dezember 2018 hat der Zehnte Senat des Bun-
desarbeitsgerichts angenommen, dass sich die Rechtsfrage, welche Methodik für
die Prüfung, ob Teilzeitbeschäftigte hinsichtlich des Entgelts benachteiligt wer-
den, anzuwenden ist, spätestens seit der Entscheidung des Gerichtshofs vom
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6. Dezember 2007
nicht mehr stelle. Schon die Entschei-
dung vom 27. Mai 2004
habe eine Zäsur im Ver-
ständnis der Vergleichsmethoden markiert. Spätestens nachdem der Gerichtshof
in der Entscheidung vom 6. Dezember 2007 wiederholt hatte, dass für die Prü-
fung einer Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten die Vergütungsbestandteile
zu untersuchen seien, sei die Rechtsfrage aus Sicht des Zehnten Senats geklärt
gewesen
. Der Zehnte
Senat ist, ohne dies ausdrücklich auszusprechen, von einer geklärten Rechtslage
im Sinn eines sog. acte éclairé ausgegangen. Mit Blick auf die vom Gerichtshof
in den Rechtssachen Voß und Elsner-Lakeberg angewandte Methodik, die Ver-
gütungsbestandteile zu untersuchen, bestanden für den Zehnten Senat keine
vernünftigen Zweifel, die ein Vorabentscheidungsersuchen erforderlich gemacht
hätten.
bb)
In der Folge der Entscheidung des Zehnten Senats des Bundesarbeits-
gerichts wurden in der Rechtsprechung und im Schrifttum die genannten Beden-
ken an der Methodik, die einzelnen Entgeltbestandteile zu betrachten, geäußert.
Daher kann der Senat nicht länger davon ausgehen, dass daran keine vernünfti-
gen Zweifel bestehen. Unabhängig davon, dass er an seiner im Urteil vom
19. Dezember 2018 geäußerten Rechtsauffassung festhält
, ist die Annahme einer geklärten Rechtslage nicht mehr
gerechtfertigt. Der Senat ersucht den Gerichtshof deshalb nach Art. 267 AEUV,
die Rechtsfrage zu beantworten.
d)
Die Klärung dieser Frage durch den Gerichtshof ist für die Entscheidung
über die Revision durch den Senat erheblich.
aa)
Müsste der Senat auf die Gesamtvergütung abstellen, um beurteilen zu
können, ob die tariflichen Bestimmungen den Kläger schlechter als einen Voll-
zeitbeschäftigten behandeln, hätte die Revision keinen Erfolg. Sie wäre zurück-
zuweisen.
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bb)
Wäre dagegen der Vergütungsbestandteil der Mehrflugdienststunden-
vergütung isoliert in den Blick zu nehmen, wäre eine Ungleichbehandlung zu be-
jahen. Der Senat müsste prüfen, ob sachliche Gründe die unterschiedliche Be-
handlung rechtfertigten. Dieser Punkt ist Gegenstand der zweiten Vorlagefrage.
III.
Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
Die zweite Vorlagefrage betrifft die Auslegung von § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der
Rahmenvereinbarung hinsichtlich der sachlichen Gründe, die eine schlechtere
Behandlung von Teilzeitbeschäftigten und ein Abweichen vom Pro-rata-temporis-
Grundsatz rechtfertigen.
1.
Werden Teilzeitbeschäftigte in Bezug auf das Entgelt durch die tariflichen
Bestimmungen über die Mehrflugdienststundenvergütung schlechter behandelt,
hat der Senat weiter zu prüfen, ob die Ungleichbehandlung durch einen sachli-
chen Grund iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG gerechtfertigt werden kann. Dabei ist
zu untersuchen, ob es der Pro-rata-temporis-Grundsatz nach § 4 Abs. 1 Satz 2
TzBfG erforderlich macht, die nach den tariflichen Bestimmungen einheitlich für
Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte geltenden Auslösegrenzen entsprechend dem
Teilzeitfaktor abzusenken, oder ob es der Zweck der Leistung erlaubt, davon ab-
zuweichen.
2.
§ 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG regelt - entsprechend § 4 Nr. 1 der Rahmenver-
einbarung - kein absolutes Benachteiligungsverbot. Die Vorschrift konkretisiert
das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG für den Be-
reich des Arbeitsentgelts oder einer anderen teilbaren geldwerten Leistung. § 4
Abs. 1 TzBfG verbietet eine Abweichung vom Pro-rata-temporis-Grundsatz zum
Nachteil Teilzeitbeschäftigter, wenn dafür kein sachlicher Grund besteht. Allein
das unterschiedliche Arbeitspensum berechtigt jedoch nicht dazu, Vollzeit- und
Teilzeitbeschäftigte unterschiedlich zu behandeln. Die Rechtfertigungsgründe
müssen anderer Art sein. Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unter-
schiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren. Eine
unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten kann nur gerechtfertigt
sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang
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der Teilzeitarbeit herleiten lässt
.
3.
Für die Entscheidung über die Revision ist von Bedeutung, ob der in den
Tarifverträgen angelegte Zweck eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbe-
schäftigten und ein Abweichen vom Pro-rata-temporis-Grundsatz an sich recht-
fertigen kann. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof nach
Art. 267 AEUV anzurufen. Die Entscheidung hängt davon ab, wie § 4 Nr. 1 und
Nr. 2 der Rahmenvereinbarung auszulegen sind. Es kommt darauf an, ob der mit
den tariflichen Bestimmungen verfolgte Zweck, eine besondere Arbeitsbelastung
auszugleichen, allgemein geeignet ist, eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbe-
schäftigten zu rechtfertigen.
a)
Die tariflichen Bestimmungen über die Mehrflugdienststundenvergütung
dienen dem Zweck, eine besondere Belastung auszugleichen. Das ergibt die
Auslegung der Tarifnormen.
aa)
Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, in Ausübung ihrer
grundrechtlich geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tarifli-
chen Leistung zu bestimmen. Der Zweck ist der von den Tarifvertragsparteien
vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen
oder durch Auslegung der Tarifnorm - anhand von Anspruchsvoraussetzungen,
Ausschließungs- und Kürzungsregelungen - zu ermitteln
.
bb)
Der Wortlaut der Tarifnormen über die Mehrflugdienststundenvergütung
bestimmt nicht, zu welchem Zweck dieses Entgelt geleistet wird.
cc)
Die Systematik der Tarifwerke spricht dafür, dass die Tarifvertragspar-
teien Belastungen ausgleichen wollten.
(1)
Die Mehrflugdienststundenvergütung fällt nur für eine bestimmte Tätig-
keit an. Sie wird lediglich für Flugdienstzeiten iSv. § 8 Abs. 1 MTV Nr. 4 geleistet,
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die in einem bestimmten Umfang erbracht werden. Sie wird nicht für jegliche Ar-
ten von Tätigkeiten gewährt, die nach § 6 Abs. 1 MTV Nr. 4 zu der Arbeitszeit
des Cockpitpersonals und damit zu der arbeitsvertraglichen Leistungspflicht die-
ser Arbeitnehmer gehören. So erhält beispielsweise ein Arbeitnehmer, der nach
105 geleisteten Flugdienststunden auf der Kurzstrecke Büro- und Verwaltungs-
tätigkeiten iSv. § 6 Abs. 1 Buchst. b MTV Nr. 4 erledigt, nach § 4 Abs. 1 VTV
Nr. 6 keine Mehrflugdienststundenvergütung. Wäre es den Tarifvertragsparteien
darum gegangen, ein Freizeitopfer zu kompensieren, hätten sie für sämtliche in
§ 6 Abs. 1 MTV Nr. 4 aufgezählten Tätigkeiten eine zeitliche Obergrenze ziehen
müssen. Ein Eingriff in den geschützten Freizeitbereich erfolgt unabhängig von
der konkret ausgeführten Tätigkeit.
(2)
Die identische Höhe der Stundensätze der Mehrflugdienststundenvergü-
tung auf der Langstrecke und der Kurzstrecke spricht nicht gegen den bezweck-
ten Belastungsausgleich. Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien die Auslöse-
grenzen für Stunden auf der Langstrecke herabgesetzt. Damit haben sie den be-
sonderen Belastungen im Langstreckenverkehr, zB den längeren Aufenthalten
im Ausland, den Nachtflugzeiten und dem sog. Jetlag, im Vergleich zur Kurzstre-
cke Rechnung getragen. Aus Sicht des Senats ist es nachvollziehbar, dass die
Belastungen auf der Langstrecke bereits nach einer kürzeren Arbeitszeit eintre-
ten können als auf der Kurzstrecke.
dd)
Der Gesamtzusammenhang der Tarifnormen spricht gegen den vom Klä-
ger angenommenen Leistungszweck, Eingriffe in den geschützten Freizeitbe-
reich auszugleichen.
(1)
Das tarifliche Regelwerk fordert von den Arbeitnehmern eine hohe zeitli-
che Flexibilität. Eine regelmäßige Wochen- oder Monatsarbeitszeit, auf die sich
die Arbeitnehmer einstellen könnten, ist nicht vorgesehen. Geregelt ist lediglich
die zulässige Höchstarbeitszeit von 14 Stunden täglich auf der Kurzstrecke
,
von 1.000 Flugstunden im Jahr
, von 210 Flugdienststunden innerhalb von 30 aufeinanderfolgenden Tagen
und von 1.800 Flugdienststunden in einem Kalenderjahr
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so
wie eine „Grundarbeitszeit“ für Mitarbeiter, die an mehr als zwei aufeinander-
folgenden Tagen im Bodendienst beschäftigt sind
. Vor diesem Hintergrund müssen die Arbeitnehmer davon ausgehen, dass
sie von der Arbeitgeberin bis zur Grenze des arbeitszeitrechtlich Zulässigen zur
Arbeitsleistung herangezogen werden können. Daher liegt es nahe, dass der da-
mit verbundene Eingriff in den persönlichen Freizeitbereich bereits durch die
Grundvergütung ausgeglichen werden soll.
(2)
Das in § 6 Abs. 4 MTV Nr. 4 geregelte Gebot der gleichmäßigen Belas-
tung spricht für den Zweck des Belastungsausgleichs. Danach sollen die Mitar-
beiter bei der Gestaltung der Dienstpläne so eingeplant und eingeteilt werden,
dass eine möglichst gleichmäßige Belastung aller Mitarbeiter gewährleistet wird.
Schon nach dem Wortlaut ist der Schutz vor Belastung, nicht der Freizeitschutz
bezweckt.
(3)
§ 4 Abs. 5 VTV Nr. 6 hindert nicht, den Zweck der Mehrflugdienststun-
denvergütung in einem Belastungsausgleich zu sehen. Nach dieser Regelung
sind bei der monatlichen Berechnung des Anspruchs auf Mehrflugdienststunden-
vergütung jeweils 3,5 zusätzliche Flugdienststunden für jeden vollen Kalendertag
anzurechnen, der aufgrund Urlaubs oder wegen einer angeordneten Schulung
ausfällt, höchstens jedoch 98 Flugdienststunden pro Monat. Tatsächlich nicht ge-
leistete Flugdienststunden belasten den Arbeitnehmer nicht und müssten des-
halb nicht ausgeglichen werden. In der Tarifnorm kommt jedoch das weitere Ziel
zum Ausdruck, den Arbeitnehmer nicht davon abzuhalten, seinen Urlaub in An-
spruch zu nehmen und ihn zu einer aufgeschlossenen Teilnahme an den ange-
ordneten Schulungen zu bewegen
.
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b)
Aus Sicht des vorlegenden Senats ist offen, ob der mit der Tarifnorm ver-
folgte Zweck, Arbeitsbelastungen auszugleichen, die schlechtere Behandlung
von Teilzeitbeschäftigten rechtfertigen kann. Die Rechtslage erscheint weder von
vornherein eindeutig -
„acte clair“ - noch durch die Rechtsprechung des Gerichts-
hofs in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel zulässt -
„acte
éclairé“ -
.
aa)
Der Senat entnimmt der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs,
dass nur objektive Gründe in Betracht kommen, eine Ungleichbehandlung iSv.
§ 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung zu rechtfertigen. Dieser Begriff ist so zu ver-
stehen, dass die in Rede stehende Ungleichbehandlung einem echten Bedarf
entsprechen sowie geeignet und erforderlich sein muss, um das verfolgte Ziel
zu erreichen
. Die hier er-
hebliche Frage, ob ein bestimmter Schwellenwert, von dem eine Leistung ab-
hängt, aus Gründen des Belastungsausgleichs gerechtfertigt werden kann, wird
im Schrifttum überwiegend bejaht
. Gegen eine Rechtfertigung könnte spre-
chen, dass eine einheitliche Belastungsgrenze mit dem Ziel des Gesundheits-
schutzes den unterschiedlichen Vertragsgestaltungen von Teilzeit- und Vollzeit-
beschäftigten zuwiderläuft. Belastungsgrenzen könnten individuell bereits dann
überschritten sein, wenn Arbeitnehmer mehr Arbeit leisten, als sie vertraglich ver-
einbart haben
. Der Senat kann daher
nicht von einer geklärten Rechtslage ausgehen, an der keine vernünftigen Zwei-
fel bestehen.
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bb)
Die Rechtsfrage kann aus Sicht des Senats nicht deshalb als geklärt an-
gesehen werden, weil der Gerichtshof mehrfach darauf hingewiesen hat, es sei
Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob objektive Gründe eine unter-
schiedliche Behandlung rechtfertigten
. Das betraf jeweils die Beurteilung, ob im konkreten
Fall überhaupt ein Rechtfertigungsgrund angeführt wurde und ob ein genannter
Grund einer Prüfung am anzulegenden Rechtfertigungsmaßstab standhielte. Die
Hinweise bezogen sich nach Auffassung des Senats nicht auf die Frage, ob ein
Sachverhalt an sich geeignet ist, eine Ungleichbehandlung Teilzeitbeschäftigter
zu rechtfertigen. Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass ein be-
stimmter Grund - Haushaltserwägungen - von vornherein nicht als Rechtferti-
gungsgrund infrage kommt
.
c)
Die Entscheidung über die Revision hängt von der Beantwortung der
zweiten Vorlagefrage ab.
aa)
Kann der Ausgleich von Arbeitsbelastungen nicht herangezogen werden,
um eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten zu rechtfertigen, hätte
die Revision Erfolg. Die Sache wäre an das Berufungsgericht zurückzuverwei-
sen. Das Landesarbeitsgericht müsste Tatsachen feststellen, aus denen sich
ergibt, in welchem konkreten Umfang der Kläger Flugdienststunden geleistet hat,
die über den individuellen, entsprechend seinem Teilzeitfaktor abgesenkten Aus-
lösegrenzen liegen.
bb)
Läge im Ausgleich von Belastungen ein an sich geeigneter Grund, um
eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten zu rechtfertigen,
müsste der Senat im Einzelnen prüfen, ob die konkrete Ausgestaltung des Be-
lastungsausgleichs mit den gewählten Grenzen einem wirklichen Bedürfnis des
Unternehmens dient sowie geeignet und erforderlich ist, um dieses Ziel zu errei-
chen. Wäre dies der Fall, hätte die Revision keinen Erfolg und wäre zurückzu-
weisen.
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F.
Die Entscheidung über die Aussetzung des Rechtsstreits beruht auf
§ 148 ZPO analog.
Gallner
Brune
Pessinger
R. Bicknase
Simon
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