Urteil des BAG vom 24.11.2020

Parallelentscheidung zum Urteil des Gerichts vom 21.01.2020, 1 AZR 149/19.

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 24. November 2020
Erster Senat
- 1 AZR 319/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:241120.U.1AZR319.19.0
I. Arbeitsgericht
Berlin
Urteil vom 12. September 2018
- 31 Ca 2467/18 -
II. Landesarbeitsgericht
Berlin-Brandenburg
Urteil vom 28. Mai 2019
- 7 Sa 2001/18 -
Entscheidungsstichworte:
Tariflicher Nachteilsausgleich - geltungserhaltende Auslegung
Hinweis des Senats:
Teilweise Parallelentscheidung zu führender Sache - 1 AZR 149/19 - vom
21. Januar 2020
ECLI:DE:BAG:2020:241120.U.1AZR319.19.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
1 AZR 319/19
7 Sa 2001/18
Landesarbeitsgericht
Berlin-Brandenburg
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
24. November 2020
URTEIL
Metze, Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Beklagter, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
Nebenintervenient,
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1 AZR 319/19
ECLI:DE:BAG:2020:241120.U.1AZR319.19.0
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hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 24. November 2020 durch die Präsidentin des Bundesarbeitsge-
richts Schmidt, die Richterinnen am Bundesarbeitsgericht K. Schmidt und
Dr. Rinck sowie den ehrenamtlichen Richter Stemmer und die ehrenamtliche
Richterin Wankel für Recht erkannt:
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. Mai 2019
- 7 Sa 2001/18 - wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision sowie der
Nebenintervention zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Nachteilsausgleich.
Die Klägerin war als Flugbegleiterin bei der A PLC & Co. Luftverkehrs
KG (Schuldnerin) beschäftigt. Am 1. November 2017 wurde über deren Vermö-
gen das Insolvenzverfahren eröffnet. Am selben Tag zeigte der Beklagte, der zu-
nächst zum Sachwalter und ab Mitte Januar 2018 zum Insolvenzverwalter bestellt
wurde, dem Insolvenzgericht die drohende Masseunzulänglichkeit an.
Bei der Schuldnerin war für das im Cockpit tätige Personal auf der Grund-
lage eines Tarifvertrags eine Personalvertretung Cockpit gebildet. Das in der Ka-
bine tätige Personal wurde durch die Personalvertretung Kabine repräsentiert.
Diese war auf der Grundlage des von der Schuldnerin mit der Vereinten Dienst-
leistungsgewerkschaft (ver.di) geschlossenen „Tarifvertrags Personalvertretung
(TVPV) für das Kabinenpersonal der A
PLC & Co. Luftverkehrs KG“ vom 7. Juni
2016 errichtet. § 80 Satz 1 TVPV sieht vor, dass die Personalvertretung Kabine
über geplante Änderungen des Flugbetriebs rechtzeitig und umfassend zu unter-
richten ist; diese sind mit ihr zu beraten. § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV regelt die
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Zahlung eines Nachteilsausgleichs, wenn die Schuldnerin eine geplante Betrieb-
sänderung nach § 80 TVPV durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich
mit der Personalvertretung versucht zu haben
.
Die Schuldnerin unterrichtete Anfang Oktober 2017 die Personalvertre-
tung Kabine über die geplante Stilllegung ihres Geschäftsbetriebs zum 31. Ja-
nuar 2018 und bat um Aufnahme von Verhandlungen über einen Interessenaus-
gleich. Ende Oktober 2017 führte die Schuldnerin ihren letzten eigenwirtschaftli-
chen Flug durch. Vorübergehend erb
rachte sie noch im sog. „Wetlease“ Flugleis-
tungen für andere Luftfahrtunternehmen. Ihre - ausnahmslos geleasten - Flug-
zeuge gab sie sukzessive zurück. Ende November 2017 - nach Abschluss von
Interessenausgleichen mit der Personalvertretung Cockpit und dem bei der
Schuldnerin gebildeten Gesamtbetriebsrat Boden - kündigte sie den bei ihr be-
schäftigten Piloten sowie dem Bodenpersonal. Ausgenommen hiervon waren le-
diglich die Mitarbeiter, zu deren Kündigungen noch Zustimmungen einzuholen
waren.
Das Arbeitsgericht Berlin wies mit Beschluss vom 21. Dezember 2017
einen Antrag der Schuldnerin nach § 122 Abs. 1 InsO man-
gels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig zurück. Zur Begründung führte es
ua. aus, die Schuldnerin habe mit der Durchführung der Betriebsänderung bereits
begonnen.
Nachdem die Schuldnerin Ende November 2017 die Verhandlungen mit
der Personalvertretung Kabine über einen Interessenausgleich nach § 81 TVPV
für gescheitert erklärt hatte, leitete sie Anfang Dezember ein Beschlussverfahren
zur Einsetzung einer Einigungsstelle ein. Die aufgrund eines gerichtlichen Ver-
gleichs der Verfahrensbeteiligten zu den Regelungsgegenständen „Versuch ei-
nes Interessenausgleichs und Abschluss eines Sozialplans“ gebildete Einigungs-
stelle erklärte sich am 10. Januar 2018 für unzuständig.
Der Beklagte kündigte Ende Januar 2018 die Arbeitsverhältnisse der in
der Kabine beschäftigten Arbeitnehmer, darunter auch das der Klägerin. Mit Ab-
lauf des 31. Januar 2018 endete die Betriebsgenehmigung der Schuldnerin.
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Der Beklagte zeigte am 30. April 2019 beim Insolvenzgericht Neumasse-
unzulänglichkeit an. Dieses erließ mit Beschluss vom selben Tag ein Zwangs-
vollstreckungsverbot für bis zum 30. April 2019 begründete Neumasseverbind-
lichkeiten.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, ihr stehe ein Anspruch auf Nach-
teilsausgleich zu, und - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - bean-
tragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihr einen Nachteilsausgleich
zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts ge-
stellt wird;
hilfsweise
festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihr einen
Nachteilsausgleich als Neumasseverbindlichkeit zu zahlen,
dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Nach Streitverkündung durch die Klägerin ist der Nebenintervenient dem
Rechtsstreit auf Seiten des Beklagten beigetreten. Die Klägerin hat die Streitver-
kündung in der Folgezeit zurückgenommen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit ihrer Revision ver-
folgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Klageanträge bleiben erfolglos.
I.
Der auf die Zahlung eines Nachteilsausgleichs gerichtete Hauptantrag ist
mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
1.
Das Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses soll verhindern, dass
Rechtsstreitigkeiten in das Stadium der Begründetheitsprüfung gelangen, für die
eine solche Prüfung nicht erforderlich ist. Bei Leistungsklagen ergibt sich ein
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Rechtsschutzbedürfnis regelmäßig aus der Nichterfüllung des behaupteten ma-
teriellen Anspruchs, dessen Vorliegen für die Prüfung des Interesses an seiner
gerichtlichen Durchsetzung zu unterstellen ist
. An einem Rechtsschutzbedürfnis für eine Leis-
tungsklage fehlt es ausnahmsweise aber dann, wenn ein stattgebendes Urteil
nicht vollstreckt werden kann, da es in diesem Fall keine über eine Feststellung
hinausgehenden Wirkungen hätte
.
2.
Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor. Das Insolvenzgericht hat mit
rechtskräftigem Beschluss vom 30. April 2019 angeordnet, dass die Zwangsvoll-
streckung von Massegläubigern wegen Neumasseverbindlichkeiten, die bis zu
diesem Tag begründet wurden, unzulässig ist. Die mit der Klage geltend ge-
machte Forderung wäre - im Fall ihres Bestehens - von diesem Zwangsvollstre-
ckungsverbot erfasst. Vor diesem Hintergrund besteht kein rechtlich schützens-
wertes Interesse, den Erlass eines Leistungstitels
zu verfolgen, der
nicht durchgesetzt werden könnte
.
II.
Der damit dem Senat zur Entscheidung anfallende - zulässige
- Hilfsantrag ist unbegründet. Ein
Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV besteht
nicht. Das folgt zwar nicht bereits daraus, dass § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV
aufgrund der Bestimmungen in § 2 Abs. 2 und Abs. 3 TV Pakt nicht anwendbar
wäre
. Jedoch sind die
Voraussetzungen des § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV nicht erfüllt. Die Schuldnerin
hat die Betriebsänderung iSd. § 80 TVPV nicht durchgeführt, ohne zuvor über
diese einen Interessenausgleich mit der Personalvertretung Kabine hinreichend
versucht zu haben. Bei gesetzeskonformer Auslegung des § 81 Abs. 1 Satz 1
iVm. Abs. 2 Satz 2 TVPV bezog sich der tarifvertragliche Verhandlungsanspruch
der Personalvertretung Kabine nur auf den Versuch einer Einigung über kabinen-
personalbezogene Maßnahmen. Einen solchen Einigungsversuch hat die
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Schuldnerin unternommen, bevor der Beklagte die Kündigungen des Kabinen-
personals erklärt hat. Damit hat die Schuldnerin den Verhandlungsanspruch der
Personalvertretung Kabine nicht verletzt
.
1.
Nach § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV steht den Arbeitnehmern ein An-
spruch auf Nachteilsausgleich zu, wenn die Schuldnerin eine geplante Betriebs-
änderung nach § 80 TVPV durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich
mit der Personalvertretung versucht zu haben und infolge der Maßnahme Arbeit-
nehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Die Ta-
rifnorm soll die Einhaltung des auf einen Interessenausgleichsversuch gerichte-
ten Verhandlungsanspruchs der Personalvertretung Kabine sichern, indem sie
dessen Vereitelung mit der Zahlung einer Abfindung an die entlassenen oder ei-
nen sonstigen wirtschaftlichen Nachteil erleidenden Arbeitnehmer sanktioniert
.
2.
Der mit § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV verfolgte Präventions- und Sank-
tionszweck kann - und soll - dabei nicht weiter reichen als der der Personalver-
tretung Kabine rechtswirksam von den Tarifvertragsparteien eingeräumte perso-
nalvertretungsrechtliche Verhandlungsanspruch. Dies drückt sich sprachlich be-
reits darin aus, dass sich das nachteilsausgleichsauslösende „Durchführen“ der
Betriebsänderung auf eben jene bezieht, über die ein Interessenausgleich zu ver-
suchen ist („ohne über sie“). § 83 Abs. 3 TVPV stellt darauf ab, dass mit der
Durchführung der (geplanten) Betriebsänderung der kollektivrechtliche Verhand-
lungsanspruch der Personalvertretung Kabine vereitelt wird
.
3.
Der durch § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV flankierte Anspruch der Perso-
nalvertretung Kabine, mit ihr einen Interessenausgleich zu versuchen, bezieht
sich in Zusammenhang mit der vorliegend von der Schuldnerin geplanten „Still-
legung des ganzen Flugbetriebes“ iSv. § 80 Satz 4 Nr. 1 TVPV ausschließlich auf
beabsichtigte kabinenpersonalbezogene Maßnahmen. Zulässiger Inhalt eines
- ggf. durch Anrufung der Einigungsstelle zu versuchenden - Interessenaus-
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gleichs sind lediglich Fe
stlegungen zum „Ob“, „Wann“ und „Wie“ derartiger Maß-
nahmen. Einen Verhandlungsanspruch, der den Ablauf der geplanten Stilllegung
des Flugbetriebs als organisatorische Einheit umfasst, gewährt § 81 Abs. 1
Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV der Personalvertretung Kabine wegen des in § 2
Abs. 1 TVPV vorgesehenen personellen Geltungsbereichs dieses Tarifvertrags
nicht. Das geben zwar weder der Wortlaut noch die Systematik oder der Rege-
lungszusammenhang der einschlägigen tariflichen Vorschriften vor. Ein solches
Verständnis der Tarifnormen ist aber aufgrund einer wirkungserhaltend ein-
schränkenden Auslegung zwingend geboten
.
a)
Sowohl nach dem Wortlaut als auch der Überschrift von § 81 Abs. 1
Satz 1 TVPV ist Gegenstand des (zu versuchenden) Interessenausgleichs die
(geplante) „Betriebsänderung“. Den Begriff der Betriebsänderung haben die Ta-
rifvertragsparteien in § 80 Satz
1 TVPV definiert. Hierbei handelt es sich um „Än-
derungen des Flugbetriebes, die wesentliche Nachteile für das Kabinenpersonal
insgesamt oder erhebliche Teile des Kabinenpersonals zur Folge haben können“.
Als Betriebsänderung in diesem Sinne gilt gemäß § 80 Satz 4 Nr. 1 TVPV ua. die
„Stilllegung des ganzen Flugbetriebes“. Der TVPV knüpft damit nicht nur für das
den Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine nach § 80 Satz 1
TVPV auslösende Moment an eine solche Stilllegung an, sondern macht dieses
Ereignis auch zum Gegenstand eines zwischen der Personalvertretung Kabine
und der Schuldnerin zu verhandelnden und - im Fall einer Einigung - von ihnen
abzuschließenden Interessenausgleichs.
b)
Der „Flugbetrieb“ iSd. TVPV bezeichnet - ausgehend sowohl vom Wort-
laut als auch der Systematik und dem Regelungszusammenhang des TVPV
- keine aus-
schließlich kabinenpersonalbezogene, sondern eine organisatorische Einheit.
Dem Begriff liegt ein räumlich-gegenständliches Verständnis zugrunde, das auch
Betriebsmittel und deren organisatorische Zusammenfassung zur Verfolgung
eines bestimmten - konkret: des fliegerischen - Zwecks einschließt
. Ob auch die Verordnung (EU) Nr. 965/2012
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oder die Betriebsordnung für Luft-
fahrtgerät vom 4. März 1970
von einem solchen Ver-
ständnis dieser Begrifflichkeit ausgeht, ist für die Auslegung des TVPV unbeacht-
lich.
c)
Weder aus § 24 Abs. 2 KSchG noch aus § 3 BetrVG folgt Gegenteiliges.
Die Regelung des § 24 Abs. 2 KSchG enthält keine allgemeingültige Legaldefini-
tion für den Flugbetrieb. Sie ordnet lediglich an, dass die Gesamtheit der Luft-
fahrzeuge eines Luftverkehrsbetriebs
als Betrieb im Sinne „dieses Gesetzes“
- also des Kündigungsschutzgesetzes - gilt. Eine vergleichbare (Fiktions-)Rege-
lung enthält das Betriebsverfassungsgesetz gerade nicht
. Soweit § 3 BetrVG den Tarifvertragsparteien
erlaubt, als Betrieb iSd. Betriebsverfassungsgesetzes geltende Organisations-
einheiten zu bilden
, ist dies vorliegend unerheblich, da
das „fliegende Personal“ aufgrund seiner Tätigkeit nach § 117 Abs. 1 iVm. Abs. 2
Satz 1 BetrVG in der bis 30. April 2019 geltenden Fassung uneingeschränkt aus
dem Anwendungsbereich des BetrVG ausgenommen war.
d)
Das im TVPV zum Ausdruck kommende Verständnis vom Begriff des
„Flugbetriebs“ verbietet sich allerdings aus gesetzlichen Gründen, da es sich über
die Wirkungsanordnung des § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG hinwegsetzen
würde. Tarifverträge sind - sofern die Tarifnorm dies zulässt - grundsätzlich ge-
setzeskonform und damit ggf. geltungserhaltend einschränkend so auszulegen,
dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand
haben. Entsprechendes gilt, wenn - wie vorliegend - einer tariflichen Regelung
nur bei einem eingeschränkten Verständnis eine für ihre Geltung allein mögliche
(und von den Tarifvertragsparteien auch beabsichtigte) normative Wirkung zu-
kommen kann
.
aa)
Die Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen iSd. § 1 Abs. 1
TVG, zu denen auch Bestimmungen gehören, die - wie der TVPV - die Errichtung
einer Vertretung für Arbeitnehmer des Flugbetriebs vorsehen und die Beziehun-
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gen zwischen dieser Interessenvertretung und dem Arbeitgeber näher ausgestal-
ten, kann in einem Tarifvertrag nur durch Bestimmungen erfolgen, denen Rechts-
normcharakter zukommt. Schuldrechtliche Vereinbarungen der Tarifvertragspar-
teien scheiden als rechtliche Grundlage aus, da es ihnen an der erforderlichen
unmittelbaren und zwingenden - mithin normativen - Wirkung fehlt. Betriebsver-
fassungsrechtliche Regelungen iSv. § 1 Abs. 1 TVG können nach § 4 Abs. 1
Satz 2 iVm. Satz 1 TVG allerdings nur im Geltungsbereich des jeweiligen Tarif-
vertrags normativ wirken. Aus § 3 Abs. 2 TVG folgt nichts Gegenteiliges
.
bb)
Beschränken die Tarifvertragsparteien - wie hier in § 2 Abs. 1 TVPV -
im Rahmen ihrer Tarifautonomie
den Geltungsbereich des von
ihnen vereinbarten Tarifvertrags über betriebsverfassungsrechtliche Normen in
personeller Hinsicht auf eine
bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern („Kabinen-
personal“), müssen sie die von ihnen selbst gesetzte Grenze auch bei der Aus-
gestaltung derjenigen Normen beachten, die die Kompetenzen der Arbeitneh-
mervertretung und damit die rechtlichen Beziehungen zwischen dieser und dem
Arbeitgeber gestalten. Einer Interessenvertretung, die auf der Grundlage von
§ 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG durch einen Tarifvertrag errichtet ist, dessen persön-
licher Geltungsbereich nur eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern erfasst,
kann wegen § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG nicht (mit normativer Wirkung)
das Recht eingeräumt werden, Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber abzuschlie-
ßen, die einen Sachverhalt gestalten, der auch nicht vom Geltungsbereich des
Tarifvertrags erfasste Arbeitnehmer betrifft. Entsprechend kann der Arbeitgeber
nicht (wirksam) normativ verpflichtet werden, den Abschluss einer solchen Ver-
einbarung zu versuchen
.
cc)
Diese gesetzlichen Grenzen würden bei einem uneingeschränkten Ver-
ständnis der Regelungen in §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV
überschritten. Der Inhalt des mit der Personalvertretung Kabine zu verhandeln-
den - und dementsprechend von der Schuldnerin zu versuchenden - Interessen-
ausgleichs würde das „Ob“, „Wann“ und „Wie“ der Stilllegung der organisatori-
schen Einheit „Flugbetrieb“ umfassen. Ein solcher Interessenausgleich beträfe
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keinen auf das Kabinenpersonal beschränkten Sachverhalt, sondern wirkte sich
gleichermaßen auf das von der Stilllegung dieser organisatorischen Einheit eben-
falls betroffene Cockpitpersonal aus. Die inhaltliche Reichweite des in § 81 Abs. 1
Satz 1 TVPV vorgesehenen Interessenausgleichs überstiege damit die Reich-
weite der normativen Geltung des Tarifvertrags. Dementsprechend könnte die
Schuldnerin auch nicht rechtswirksam normativ verpflichtet werden, den Ab-
schluss eines solchen Interessenausgleichs mit Hilfe einer Einigungsstelle nach
§ 81 Abs. 2 Satz 2 TVPV zu versuchen
.
dd)
Angesichts dessen müssen die Regelungen in §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1
und Abs. 2 Satz 2 TVPV im Wege einer geltungserhaltenden Interpretation ein-
schränkend ausgelegt werden. Der Verhandlungsanspruch der Personalvertre-
tung Kabine, dessen Einhaltung normativ rechtswirksam gesichert und dessen
Verletzung entsprechend sanktioniert ist, bezieht sich lediglich auf solche Maß-
nahmen der Schuldnerin, die ausschließlich das vom Geltungsbereich des TVPV
erfasste Kabinenpersonal betreffen. Möglicher Inhalt des ggf. durch Anrufung der
Einigungsstelle zu versuchenden Interessenausgleichs sind nur Bestimmungen
zum „Ob“, „Wann“ und „Wie“ derartiger personenbezogener Maßnahmen
. Unionsrechtliche Vorgaben ste-
hen dieser Auslegung nicht entgegen. Eine die Grenzen des § 4 Abs. 1 Satz 2
iVm. Satz 1 TVG übersteigende Normwirkung kann den Bestimmungen des
TVPV nach dem nationalen Recht nicht beigemessen werden
.
4.
In Anwendung des eingeschränkten Verständnisses von §§ 80, 81
Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV wurde der Verhandlungsanspruch der
Personalvertretung Kabine nicht verletzt.
a)
Die Schuldnerin hat den Interessenausgleich mit der Personalvertretung
Kabine einschließlich der Anrufung der - sich mit Beschluss vom 10. Januar 2018
für unzuständig erklärenden - Einigungsstelle hinreichend versucht, bevor der
Beklagte Ende Januar 2018 ausschließlich das Kabinenpersonal betreffende un-
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umkehrbare Maßnahmen durch den Ausspruch der Kündigungen der Arbeitsver-
hältnisse dieser Beschäftigten ergriffen hat. Der Versuch, noch vor dem Aus-
spruch der Kündigungen gegenüber dem Kabinenpersonal zu einem Interessen-
ausgleich hierüber mit der Personalvertretung Kabine zu kommen, war ausrei-
chend
. Auf sonstige von
der Schuldnerin zur „Stilllegung des ganzen Flugbetriebes“ (als betriebliche Or-
ganisationseinheit) vorgenommene Maßnahmen - wie etwa die Kündigung der
Piloten, die Rückgabe geleaster Flugzeuge oder die Abgabe sog. Slots - kommt
es nach alldem nicht an.
b)
Aus der Entscheidung des Zehnten Senats des Bundesarbeitsgerichts
vom 4. Juni 2003
folgt nichts an-
deres. Der Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine betrifft nach
dem von den Tarifvertragsparteien vereinbarten persönlichen Geltungsbereich
dieses Tarifvertrags keine (flug-)betriebsstilllegenden Modalitäten, die über strikt
kabinenpersonalbezogene Maßnahmen hinausgingen. Die durch den TVPV be-
gründeten Beteiligungsrechte der Personalvertretung Kabine sind aufgrund der
tariflichen und gesetzlichen Vorgaben
be-
schäftigtengruppenbezogen. Bezugspunkt der Errichtung eines Betriebsrats und
des ihm im Rahmen von §§ 111, 112 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 BetrVG
gesetzlich vermittelten Beteiligungsrechts ist demgegenüber „der Betrieb“ als or-
ganisatorische Einheit
. Allein auf eine solche Konstellation be-
zieht sich die Entscheidung des Zehnten Senats
.
5.
Der rechtskräftige Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 21. Dezem-
ber 2017
, mit dem ein Antrag der Schuldnerin auf gerichtli-
che Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung als unzulässig abge-
wiesen worden ist, steht dem Ergebnis nicht entgegen. Wird ein Rechtsschutz-
begehren wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewie-
sen, erwächst damit die Beurteilung von Vorfragen des materiellen Rechts, aus
denen sich der konkrete Unzulässigkeitsgrund ableiten lässt, nicht in Rechtskraft
.
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III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 Halbs. 1
ZPO. Eine „Rücknahme“ der Streitverkündung war nach erfolgtem Beitritt nicht
mehr rechtswirksam möglich, da die Prozesserklärung dann unwiderruflich ist
.
Schmidt
K. Schmidt
Rinck
Stemmer
Wankel
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