Urteil des BAG vom 28.07.2020

Freigestelltes Betriebsratsmitglied - Verhinderung

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 28. Juli 2020
Erster Senat
- 1 ABR 5/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:280720.B.1ABR5.19.0
I. Arbeitsgericht Ulm
- Kammern Ravensburg -
Beschluss vom 8. September 2017
- 6 BV 14/15 -
II. Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
- Kammern Freiburg -
Beschluss vom 5. Dezember 2018
- 10 TaBV 1/18 -
Entscheidungsstichworte:
Freigestelltes Betriebsratsmitglied - Verhinderung
Leitsatz:
Während der Dauer einer ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit ist ein
nach § 38 Abs. 1 BetrVG freigestelltes Betriebsratsmitglied an der Wahr-
nehmung seines Amts verhindert.
ECLI:DE:BAG:2020:280720.B.1ABR5.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
1 ABR 5/19
10 TaBV 1/18
Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
28. Juli 2020
BESCHLUSS
Kaufhold, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In dem Beschlussverfahren mit den Beteiligten
1.
Antragsteller, Beschwerdeführer und Rechtsbeschwerdeführer,
2. …
3.
hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
28. Juli 2020 durch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Schmidt,
die Richterinnen am Bundesarbeitsgericht K. Schmidt und Dr. Ahrendt sowie
die ehrenamtliche Richterin Schwitzer und den ehrenamtlichen Richter
Prof. Dr. Rose für Recht erkannt:
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1 ABR 5/19
ECLI:DE:BAG:2020:280720.B.1ABR5.19.0
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Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Be-
schluss des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg
vom 5. Dezember 2018 - 10 TaBV 1/18 - wird zurückgewie-
sen.
Von Rechts wegen!
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten über eine Verpflichtung der Arbeitgeberin zur Ein-
leitung von Zustimmungsersetzungsverfahren.
Die Arbeitgeberin erwarb zum 1. Januar 2016 von der D AG deren Nie-
derlassung in R. Antragsteller ist der dort errichtete Betriebsrat, der aus neun
Mitgliedern besteht.
In der Niederlassung galt seit dem Jahr 2010 eine Gesamtbetriebsver-
einbarung der D AG, die ua. Grundsätze für die Vergütung der Beschäftigten re-
gelt (GBV). Im Dezember 2014 vereinbarte die - an die Tarifverträge des Kraft-
fahrzeuggewerbes in Baden-Württemberg gebundene - Daimler AG mit dem bei
ihr gebildeten Gesamtbetriebsrat eine Rahmenbetriebsvereinbarung (RBV).
Diese bestimmt ua., dass 24 Stunden vor einem Betriebsteilübergang die GBV
für die betroffene Niederlassung aufgehoben wird. Angesichts des bevorstehen-
den Betriebsübergangs auf die - nicht tarifgebundene - Arbeitgeberin führte die
D AG mit dem Betriebsrat über mehrere Wochen Gespräche über eine Umgrup-
pierung der in der Niederlassung beschäftigten Arbeitnehmer in die in den Anla-
gen 1a und 2 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte im Kraftfahrzeuggewerbe
in Baden-Württemberg vom 15. April 2008 vorgesehenen Lohn- und Beschäfti-
gungsgruppen.
Der von seiner beruflichen Tätigkeit nach § 38 BetrVG freigestellte Vor-
sitzende des Betriebsrats war vom 13. Juli bis Anfang November 2015 arbeits-
unfähig krankgeschrieben. Am 14. August 2015 sandte das Betriebsratsmitglied
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P über den E-Mail-Account des Betriebsratsvorsitzenden sieben Betriebsrats-
bzw. Ersatzmitgliedern sowie sich selbst eine E-Mail, die auszugsweise lautete:
„Betreff: Einladung zur Betriebsratssitzung am Montag
17.08.2015 um 14.00 Uhr
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Liste der Eingruppierungen der Firma R ist überarbeitet.
Über deren Ergebnis und zum weiteren Vorgehen bitte ich
Euch alle an der Sitzung teilzunehmen.
Bitte schreibt mir kurz ob ich mit Eurer Teilnahme rechnen
darf, damit Ersatzmitglieder eingeladen werden können.
Liebe Grüße
P
An diesem Tag - einem Freitag - sowie am Montag, dem 17. August
2015, war der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende urlaubsbedingt abwe-
send.
In der Betriebsratssitzung am 17. August 2015 waren neben dem aus-
weislich des Sitzungsprotokolls lediglich als „Gast“ teilnehmenden Betriebsrats-
vorsitzenden sieben Betriebsratsmitglieder anwesend. Diese beschlossen ein-
stimmig, „nach Eingang der Aufforderung nach Zustimmung nach § 99 BetrVG“
diese abzulehnen.
Die D AG bat den Betriebsrat mit Schreiben vom 18. August 2015 um
Zustimmung zur
„Eingruppierung“ der Mitarbeiter zum 1. Januar 2016 in den „Ta-
rifvertrag des Kfz-Handwerks in Baden-
Württemberg“. Dem Schreiben war eine
tabellarische Anlage beigefügt, die ua. neben den Namen der betroffenen Arbeit-
nehmer auch die Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit, die jeweilige Tätigkeit, die
Entgeltgruppen „Stand 04/15 und 06/15“ sowie die beabsichtigte Entgeltgruppe
enthielt. Das Schreiben nebst Anlage wurde dem Betriebsratsmitglied P am
Abend desselben Tags ausgehändigt.
Mit einem ua. durch den stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden un-
terzeichneten Schreiben vom 20. August 2015 teilte der Betriebsrat der D AG mit,
er verweigere die Zustimmung zu den Umgruppierungen. Weder die D AG noch
die Arbeitgeberin leiteten in der Folgezeit Zustimmungsersetzungsverfahren ein.
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Der Betriebsrat hat geltend gemacht, die Arbeitgeberin sei gehalten, we-
gen der Umgruppierungen der Arbeitnehmer Verfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG
einzuleiten. Er habe die Zustimmung hierzu fristgerecht verweigert. Das Zustim-
mungsverfahren sei von der Arbeitgeberin nicht ordnungsgemäß eingeleitet wor-
den. Die Beschlussfassung am 17. August 2015 sei nicht zu beanstanden, jeden-
falls seien etwaige Mängel bei der Ladung zur Sitzung geheilt.
Der Betriebsrat hat zuletzt beantragt,
der Arbeitgeberin aufzugeben, das Zustimmungserset-
zungsverfahren gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG bezogen auf
die Umgruppierungen der in Anlage A 4 mit Stand 18. Au-
gust 2017 mit Vor- und Nachnamen benannten Arbeitneh-
mer einzuleiten und zwar bezüglich der Umgruppierung die-
ser Arbeitnehmer in den Manteltarifvertrag Kfz-Handwerk in
Baden-Württemberg mit Wirkung zum 1. Januar 2016.
Die Arbeitgeberin hat Antragsabweisung begehrt.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag abgewiesen. Das Landesarbeitsge-
richt hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbe-
schwerde verfolgt der Betriebsrat seinen Antrag weiter.
B.
Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat
die Beschwerde des Betriebsrats gegen die antragsabweisende Entscheidung im
Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Der auf eine Verpflichtung zur Durchführung
von Zustimmungsersetzungsverfahren gerichtete Antrag des Betriebsrats bleibt
erfolglos.
I.
Der - auszulegende - Antrag ist zulässig.
1.
Nach dem Vorbringen des Betriebsrats soll die Arbeitgeberin zur Einlei-
tung und Durchführung von Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 99 Abs. 4
BetrVG für die Umgruppierungen der in der Anlage 4 mit Stand vom 18. August
2017 namentlich aufgeführten Arbeitnehmer in die dort bezeichneten Lohn- und
Beschäftigungsgruppen verpflichtet werden. Abweichend von der sprachlichen
Fassung des Antrags ergeben sich diese Entgeltgruppen für die in der Niederlas-
sung beschäftigten Arbeiter aus der Anlage 1 und für die Angestellten aus der
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Anlage 2 zum Manteltarifvertrag für Beschäftigte im Kraftfahrzeuggewerbe in
Baden-Württemberg vom 15. April 2008 (MTV). Da von den tarifvertragschlie-
ßenden Parteien des MTV bislang kein Rahmentarifvertrag vereinbart wurde, der
einheitliche Entgeltgruppen für die Beschäftigten vorsieht, wirken die für die Ein-
gruppierung jeweils maßgeblichen Bestimmungen sowohl des Manteltarifver-
trags für Arbeiter im Kraftfahrzeuggewerbe in Nordwürttemberg/Nordbaden und
Südwürttemberg - Hohenzollern vom 6. November 1969 idF vom 12. Januar
1973 als auch des Rahmentarifvertrags für Angestellte im Kraftfahrzeuggewerbe
in der Bundesrepublik Deutschland vom 31. Dezember 1971 nach § 31
Nr. 31.2.1 und Nr. 31.2.2 MTV weiter nach.
2.
Der Antrag genügt den Bestimmtheitserfordernissen des § 253 Abs. 2
Nr. 2 ZPO. Die Bezugnahme auf die Anlage 4 begegnet keinen Bedenken, da die
- auch datumsmäßig konkretisierte - Anlage eindeutig gekennzeichnet ist und der
Verfahrensgegenstand dadurch ausreichend individualisiert wird
. Für die Arbeitgeberin ist damit
erkennbar, hinsichtlich welcher Arbeitnehmer und bezüglich welcher Umgruppie-
rungen das Verfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG durchgeführt werden soll.
II.
Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die Arbeitgeberin ist nicht verpflich-
tet, Zustimmungsersetzungsverfahren für die Umgruppierungen der in der An-
lage 4 genannten Arbeitnehmer einzuleiten. Der Betriebsrat hat die von der
D AG erbetene Zustimmung zu den beabsichtigten Umgruppierungen nicht wirk-
sam fristgerecht verweigert. Damit gilt seine Zustimmung zu den Umgruppierun-
gen nach § 99 Abs. 3 Satz 2 BetrVG als erteilt.
1.
Nach § 101 BetrVG kann der Betriebsrat, wenn der Arbeitgeber eine per-
sonelle Maßnahme iSd. § 99 BetrVG ohne seine Zustimmung durchführt, beim
Arbeitsgericht beantragen, dem Arbeitgeber aufzugeben, die personelle Maß-
nahme aufzuheben. Bei Ein- oder Umgruppierungen ist eine
„Aufhebung“ im
wörtlichen Sinne nicht möglich, da es sich hierbei nicht um konstitutive Akte des
Arbeitgebers, sondern jeweils um einen mit der Kundgabe einer Rechtsansicht
verbundenen Akt der Rechtsanwendung handelt. Aus diesem Grund geht der
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Anspruch des Betriebsrats aus § 101 BetrVG bei Ein- und Umgruppierungen da-
hin, dem Arbeitgeber die Einleitung eines Zustimmungsverfahrens nach § 99
Abs. 1 Satz 1 BetrVG oder - falls ein solches bereits abgeschlossen ist - die
Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens nach § 99 Abs. 4
BetrVG aufzugeben. Letzteres setzt voraus, dass der Betriebsrat trotz ordnungs-
gemäßer Einleitung eines Zustimmungsverfahrens nach § 99 Abs. 1 Satz 1
BetrVG durch den Arbeitgeber die Zustimmung form- und fristgerecht verweigert
hat, da andernfalls seine Zustimmung nach § 99 Abs. 3 Satz 2 BetrVG als erteilt
gilt
.
2.
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Zwar hat die D AG das Zu-
stimmungsverfahren ordnungsgemäß gegenüber dem Betriebsrat eingeleitet, so
dass die Frist zur Verweigerung der Zustimmung nach § 99 Abs. 3 Satz 1 BetrVG
spätestens am 20. August 2015 zu laufen begann. Der Betriebsrat hat jedoch
innerhalb der einwöchigen Frist die Zustimmung nicht rechtswirksam verweigert.
Die mit Schreiben vom selben Tag gegenüber der Arbeitgeberin erklärte Zustim-
mungsverweigerung war unbeachtlich; der ihr zugrunde liegende Beschluss des
Betriebsrats vom 17. August 2015 ist unwirksam.
a)
Die D AG hat mit Schreiben vom 18. August 2015 das Zustimmungsver-
fahren nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG wirksam beim Betriebsrat eingeleitet und
diesen ordnungsgemäß iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG unterrichtet.
aa)
Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG hat der Arbeitgeber in Unternehmen
ie Zustimmung des Betriebsrats
zur geplanten Umgruppierung einzuholen. Da mit dem vom Betriebsverfassungs-
gesetz verwandten Begriff des Arbeitgebers der jeweilige Inhaber des Betriebs
als Organ der Betriebsverfassung bezeichnet wird
, ist es unerheblich, dass das Zu-
stimmungsverfahren von der D AG eingeleitet wurde, obwohl die geplanten Um-
gruppierungen erst mit Wirksamwerden des Betriebsübergangs zum 1. Januar
2016 von der Arbeitgeberin als Betriebserwerberin und damit als neue Betriebs-
inhaberin umgesetzt werden sollten. Nach den Vorgaben des § 99 Abs. 1 Satz 1
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BetrVG ist das Zustimmungsverfahren
der beabsichtigten („geplanten“) Um-
gruppierung einzuleiten. Zu diesem Zeitpunkt war die D AG noch Inhaberin der
Niederlassung
und damit „Arbeitgeberin“ iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG.
bb)
Der Betriebsrat wurde - anders als die Rechtsbeschwerde meint - über
die beabsichtigten Umgruppierungen auch ordnungsgemäß unterrichtet.
(1)
Nachhat der Arbeitgeber den Betriebsrat
über die geplante personelle Einzelmaßnahme unter Vorlage der erforderlichen
Urkunden zu unterrichten. Erforderlich, aber auch ausreichend ist eine Unterrich-
tung, die es dem Betriebsrat ermöglicht, aufgrund der mitgeteilten Tatsachen zu
prüfen, ob einer der ingenannten Zustimmungsverweige-
rungsgründe gegeben ist
-
.
Bei Umgruppierungen ist die Mitteilung der bisherigen und vor-
gesehenen Vergütungsgruppe erforderlich sowie die Erläuterung der Gründe,
weshalb der Arbeitnehmer anders als bisher einzureihen ist. Dazu bedarf es re-
gelmäßig der Angabe der auszuübenden Tätigkeit, da die Zuordnung zu den Tä-
tigkeitsmerkmalen einer Vergütungsgruppe aufgrund der dem Arbeitnehmer zu-
gewiesenen Arbeitsaufgaben erfolgt. Sind diese dem Betriebsrat zum Zeitpunkt
der Unterrichtung bereits bekannt, ist eine erneute Unterrichtung hierüber ent-
behrlich
-
.
(2)
In der Anlage zum Schreiben der D AG vom 18. August 2015 sind sowohl
die Namen der einzelnen Arbeitnehmer und deren Tätigkeit als auch jeweils die
bisherige und die neue Lohn- bzw. Beschäftigungsgruppe angegeben. Dass es
sich bei den personellen Einzelmaßnahmen nicht - wie im Schreiben angege-
ben - um Eingruppierungen, sondern um Umgruppierungen handelt
, ist
unschädlich. Für den Betriebsrat war ersichtlich, dass die Arbeitgeberin die Ar-
beitnehmer nicht erstmals in Entgeltgruppen einreihen wollte, sondern dass de-
ren Zuordnung zur bislang in der Niederlassung geltenden Vergütungsordnung
infolge des Betriebsübergangs und der dadurch - nach Ansicht der Arbeitgebe-
rin - bedingten Aufhebung der GBV geändert werden und eine Einreihung in die
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Lohn- und Beschäftigungsgruppen des MTV erfolgen sollte. Der Ordnungsge-
mäßheit der Unterrichtung steht auch nicht entgegen, dass die Daimler AG den
MTV als
„Tarifvertrag des Kfz-Handwerks“ bezeichnet hat. Nach den Feststellun-
gen des Landesarbeitsgerichts werden die
Begriffe „Gewerbe“ und „Handwerk“
von den Tarifvertragsparteien synonym verwendet. Im Übrigen wusste der Be-
triebsrat aus den zahlreichen Gesprächen mit der damaligen und der neuen Ar-
beitgeberin, um welches Tarifwerk es sich handelte. Weitergehende Ausführun-
gen, warum die in der Niederlassung beschäftigten Arbeitnehmer künftig nicht
mehr in der Vergütungsordnung der GBV eingereiht waren, bedurfte es nicht. Die
hierfür maßgebenden Umstände waren dem Betriebsrat bekannt. Er wusste,
dass die Niederlassung zum 1. Januar 2016 durch Betriebsübergang auf einen
neuen Erwerber - die Arbeitgeberin - übergehen würde. Die - nach Ansicht der
Arbeitgeberin - hiermit einhergehende Änderung der Vergütungsordnung im Be-
trieb ergab sich aus den Bestimmungen der RBV. Eine weitergehende Erläute-
rung derselben war nicht erforderlich. Aus den Gesprächen mit der damaligen
und der neuen Arbeitgeberin hatte der Betriebsrat auch Kenntnis darüber, dass
beide davon ausgingen, in der Niederlassung würden nach dem Betriebsüber-
gang die Tarifverträge des Kraftfahrzeuggewerbes und nicht die der Metallindust-
rie und damit der Entgeltrahmentarifvertrag Anwendung finden. Entgegen der An-
sicht der Rechtsbeschwerde musste die Arbeitgeberin weder darlegen, aus wel-
chen Gründen dieser nicht zur Anwendung gelangen würde, noch war sie gehal-
ten, nähere Angaben zum bisherigen betrieblichen Vergütungssystem zu ma-
chen.
(3)
Zumindest durfte die D AG angesichts dieser Sachlage davon ausgehen,
den Betriebsrat vollständig unterrichtet zu haben. Daher wäre es Sache des Be-
triebsrats gewesen, innerhalb der einwöchigen Frist um eine weitere Vervollstän-
digung der Auskünfte zu bitten
. Da dies nicht erfolgt ist, verfangen die insoweit von der
Rechtsbeschwerde erhobenen Sachrügen nicht.
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cc)
Das Schreiben der D AG ist dem Betriebsrat spätestens am 20. August
2015 zugegangen. Damit begann die Frist zur Verweigerung der Zustimmung
nach § 99 Abs. 3 Satz 1 BetrVG jedenfalls an diesem Tag zu laufen.
(1)
Das Gesuch des Arbeitgebers auf Erteilung der Zustimmung muss dem
Betriebsrat zugehen, um die Frist des § 99 Abs. 3 Satz 1 BetrVG in Gang zu set-
zen. Nach § 26 Abs. 2 Satz 2 BetrVG setzt dies grundsätzlich einen Zugang beim
Betriebsratsvorsitzenden oder - im Fall seiner Verhinderung - bei seinem Stell-
vertreter voraus. Die Norm gilt nicht nur für rechtsgeschäftliche Willenserklärun-
gen, sondern für Erklärungen und Mitteilungen aller Art
.
Die übrigen Betriebsratsmitglieder sind nur dann zur Ent-
gegennahme von Erklärungen des Arbeitgebers für den Betriebsrat ermächtigt,
wenn alle nach § 26 Abs. 2 Satz 2 BetrVG Befugten verhindert sind. Fehlt es
hieran, kann das Betriebsratsmitglied lediglich Erklärungsbote des Arbeitgebers
sein. In diesem Fall ist ein fristauslösender Zugang beim Betriebsrat erst dann
gegeben, wenn das Betriebsratsmitglied die ihm vom Arbeitgeber übergebene
Erklärung an den Vorsitzenden des Betriebsrats oder - im Verhinderungs-
fall - dessen Stellvertreter weiterleitet
.
(2)
Selbst wenn zugunsten des Betriebsrats unterstellt wird, das Betriebs-
ratsmitglied P - dem das Zustimmungsgesuch der D AG am Abend des 18. Au-
gust 2015 übergeben wurde - sei mangels Empfangsberechtigung lediglich Er-
klärungsbote der Arbeitgeberin gewesen, wurde der Zugang dieses Schreibens
beim Betriebsrat bewirkt. Nach dem Inhalt des vom stellvertretenden Betriebs-
ratsvorsitzenden unterzeichneten Zustimmungsverweigerungsschreibens vom
20. August 2015 hat dieser das Zustimmungsgesuch der D AG spätestens an
diesem Tag erhalten
(„den … Antrag haben wir erhalten“). Da der nach § 38
BetrVG freigestellte Betriebsratsvorsitzende in der Zeit vom 13. Juli bis Anfang
November 2015 krankheitsbedingt verhindert war, war sein Stellvertreter nach
§ 26 Abs. 2 Satz 2 BetrVG zum Empfang ermächtigt.
(a)
Eine Verhinderung im Sinne dieser Norm liegt vor, wenn der Betriebs-
ratsvorsitzende aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in der Lage ist,
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sein Amt auszuüben
. Insoweit gilt dasselbe wie für die in § 25 Abs. 1
Satz 2 BetrVG geregelte Verhinderung. Die Arbeitsunfähigkeit eines Betriebs-
ratsmitglieds stellt danach nicht notwendigerweise eine Verhinderung dar. Es
kann Fälle geben, in denen die Erkrankung den Arbeitnehmer zwar außerstande
setzt, seine Arbeitspflichten zu erfüllen, nicht aber sein Betriebsratsamt wahrzu-
nehmen
. Anders ist dies jedoch bei einem nach § 38 Abs. 1 BetrVG frei-
gestellten Betriebsratsmitglied. Eine in diesem Fall vom Arzt attestierte Arbeits-
unfähigkeit hat zur Folge, dass das Betriebsratsmitglied stets verhindert ist, da
es ihm krankheitsbedingt unmöglich ist, seine Amtspflichten auszuüben. Ob und
in welchem Umfang er sich (subjektiv) zur Wahrnehmung derselben in der Lage
sieht, ist unerheblich.
(aa)
Für den Begriff der „Arbeitsunfähigkeit“ ist eine vom Arzt nach objektiven
Maßstäben vorzunehmende Bewertung des Gesundheitszustands maßgebend.
Die Arbeitsfähigkeit beurteilt sich grundsätzlich nach der vom Arbeitnehmer ar-
beitsvertraglich geschuldeten Leistung, wie sie der Arbeitgeber ohne die Arbeits-
unfähigkeit als vertragsgemäß annehmen muss. Arbeitsunfähigkeit liegt danach
vor, wenn der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr
ausüben kann oder nicht mehr ausüben sollte, weil die Heilung der Krankheit
nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert würde
.
(bb)
Nach § 38 Abs. 1 BetrVG vollständig freigestellte Betriebsratsmitglieder
sind allerdings von ihrer Pflicht zur vertraglichen Arbeitsleistung befreit
. Bei ihnen tritt an die Stelle der Ar-
beitspflicht die Verpflichtung, sich während der arbeitsvertraglichen Arbeitszeit im
Betrieb am Sitz des Betriebsrats, dem sie angehören, anwesend zu sein und sich
dort für anfallende Betriebsratsarbeit bereitzuhalten
-
. Der Norm des § 38 Abs. 1 BetrVG liegt die An-
nahme des Gesetzgebers zugrunde, dass in Betrieben der dort genannten Grö-
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ßenordnung erforderliche Betriebsratstätigkeit iSv. § 37 Abs. 2 BetrVG regelmä-
ßig in einem solchen Umfang anfällt, dass sie die Arbeitszeit eines oder mehrerer
Betriebsratsmitglieder voll in Anspruch nimmt
.
(cc)
Infolgedessen beurteilt sich bei einem vollständig freigestellten Betriebs-
ratsmitglied die Arbeitsunfähigkeit nach der von ihm auszuübenden Betriebs-
ratstätigkeit. Nach § 2 Abs. 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesauschus-
ses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufen-
weisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V vom 14. No-
vember 2013
kommt es darauf an, ob das Betriebsratsmitglied die zuletzt vor
der Arbeitsunfähigkeit
„ausgeübte Tätigkeit“ nicht mehr oder nur unter Gefahr der
Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. Attestiert ein Arzt einem voll-
ständig freigestellten Betriebsratsmitglied arbeitsunfähig erkrankt zu sein, steht
damit fest, dass diesem eine Erfüllung der ihm während seiner Freistellung nach
§ 38 Abs. 1 BetrVG obliegenden Pflichten krankheitsbedingt nicht möglich und
es an der Wahrnehmung seiner Betriebsratstätigkeit gehindert ist. Dass es sich
bei der Erfüllung von Betriebsratsaufgaben um die Wahrnehmung eines Ehren-
amts handelt
, ist insoweit unerheblich.
(b)
Ausgehend hiervon war der Vorsitzende des Betriebsrats am 20. August
2015 an der Wahrnehmung seiner Amtspflichten gehindert. Ausweislich der zur
Akte gereichten ärztlichen Bescheinigung war er vom 13. Juli bis zum 1. Novem-
ber 2015 arbeitsunfähig erkrankt. Auf die Behauptung des Betriebsrats, wonach
der Arzt ihm erlaubt habe, bis zu 45 Minuten an Erörterungen des Betriebsrats
teilzunehmen, kommt es nicht an. Eine
„Teilarbeitsunfähigkeit“ im Sinne einer nur
partiellen Unmöglichkeit zur Ausübung von Betriebsratsaufgaben gibt es bei ei-
nem vollständig freigestellten Betriebsratsmitglied nicht
. Hiergegen
sprechen vor allem Gründe der Praktikabilität und der Rechts-sicherheit. Hinge
der Verhinderungsfall eines arbeitsunfähig erkrankten (freigestellten) Betriebs-
ratsmitglieds von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, würde dies die
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Feststellung einer Verhinderung erheblich erschweren und damit die Funktions-
fähigkeit des Betriebsrats beeinträchtigen. Es bestünde die Gefahr, dass Be-
triebsratsbeschlüsse, die
während der Zeit der partiellen „Amtsunfähigkeit“ des
Betriebsratsmitglieds gefasst werden, mit dem Makel der Unwirksamkeit behaftet
sind.
dd)
Der Betriebsrat hat die Zustimmung binnen der Frist von einer Woche
nach Zugang des Schreibens vom 18. August 2015 nicht wirksam verweigert.
Der mit Schreiben vom 20. August 2015 erklärten Zustimmungsverweigerung
liegt kein wirksamer Beschluss des Betriebsrats zugrunde. Das Landesarbeits-
gericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der vom Betriebsrat in seiner
Sitzung am 17. August 2015 gefasste Beschluss nichtig ist. Ob sich dies schon
aus dem Umstand ergibt, dass der Beschluss noch vor Einleitung des Zustim-
mungsverfahrens nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG durch die D AG getroffen
wurde, kann dahinstehen. Jedenfalls ist der Beschluss deshalb unwirksam, weil
es an einer ordnungsgemäßen Einberufung der Betriebsratssitzung und Ladung
hierzu nach § 29 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 BetrVG fehlt.
(1)
Die Erklärung einer Zustimmungsverweigerung iSd. § 99 Abs. 3 Satz 1
BetrVG bedarf zu ihrer Wirksamkeit eines darauf gerichteten Beschlusses des
Betriebsrats. Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach die Zustim-
mungsverweigerung dem Betriebsrat obliegt. Hierfür spricht auch die Konzeption
des Betriebsverfassungsgesetzes. Der Betriebsrat handelt als Kollegialorgan,
das seinen gemeinsamen Willen durch Beschluss bildet
. Der Beschluss über eine Zustimmungsverweigerung ist beachtlich,
wenn er ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Dazu muss der Betriebsrat
beschlussfähig iSd. § 33 BetrVG sein und sich auf einer Betriebsratssitzung auf-
grund einer mit den Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes in Einklang
stehenden Ladung mit dem jeweiligen Sachverhalt befasst und durch Abstim-
mung eine einheitliche Willensbildung herbeigeführt haben. Eine ordnungsge-
mäße Sitzung setzt nach § 29 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 BetrVG voraus, dass der
Vorsitzende - im Verhinderungsfall sein Stellvertreter - die Sitzung einberuft und
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die Betriebsratsmitglieder von ihm - im Verhinderungsfall von seinem Stellvertre-
ter - rechtzeitig unter Mitteilung einer Tagesordnung zur Betriebsratssitzung ge-
laden worden sind
.
(2)
Hieran fehlt es.
(a)
Die Einberufung der Sitzung des Betriebsrats am 17. August 2015 und
die Ladung hierzu sind weder durch den Betriebsratsvorsitzenden noch durch
dessen Stellvertreter erfolgt. Vielmehr berief das Betriebsratsmitglied P mit
E-Mail vom 14. August 2015 die Sitzung ein und lud die anderen Betriebsratsmit-
glieder. Dies ergibt sich sowohl aus deren Betreffzeile als auch ihrem weiteren
Inhalt. Die E-Mail ist in der ersten Person Singular verfasst
(„bitte ich Euch …“,
„Bitte schreibt mir kurz“)
und endet mit einer Grußformel sowie dem Namen des
Betriebsratsmitglieds P und - offenbar - seiner Festnetz- und Mobilnummer. Die
anderen Betriebsratsmitglieder, denen nach dem Vortrag des Betriebsrats die Ar-
beitsunfähigkeit des Betriebsratsvorsitzenden bekannt war, mussten angesichts
dieser Formulierungen davon ausgehen, die Einberufung und Ladung zur Sit-
zung erfolge durch Herrn P. Der Umstand, dass die E-Mail aus dem passwortge-
schützten E-Mail-Account des Vorsitzenden verschickt wurde (und zwar auch an
Herrn P), ändert angesichts ihrer eindeutigen sprachlichen Fassung nichts.
Selbst der Vortrag des Betriebsrats, wonach der Betriebsratsvorsitzende persön-
lich zugegen war, als Herr P die Einladung nach dessen Vorgaben auf dem PC
„des Betriebsratsvorsitzenden“ im Büro des Betriebsrats geschrieben habe, führt
- als zutreffend unterstellt - nicht dazu, dass es sich um eine Einberufung und
Ladung durch den Betriebsratsvorsitzenden handelte. Dies scheitert schon da-
ran, dass dieser während der Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit
„amtsunfähig“ und
damit verhindert iSd. § 25 Abs. 1 Satz 1 BetrVG war.
(b)
Ob - abweichend von § 29 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 BetrVG - einem Be-
triebsrat auch ohne Einberufung einer Sitzung und Ladung durch dessen Vorsit-
zenden ein Recht zum Selbstzusammentritt zustehen kann, bedarf vorliegend
keiner Entscheidung. Soweit dies das Schrifttum für zulässig hält, wird hierfür
überwiegend verlangt, dass sowohl der Betriebsratsvorsitzende als auch dessen
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Stellvertreter verhindert sind und dringende - unaufschiebbare - Beratungsge-
genstände zu erledigen wären
.
Zum Teil wird eine Ladung zur Sitzung des
Betriebsrats schon dann für entbehrlich gehalten, wenn alle Betriebsratsmitglie-
der - erforderlichenfalls unter Hinzuziehung von Ersatzmitgliedern - zusammen-
treten und einstimmig erklären, mit Zeit und Ort der Betriebsratssitzung einver-
standen zu sein
.
Im Streitfall lag
keine dieser Voraussetzungen vor. Da zum Zeitpunkt der Sitzung des Betriebs-
rats am 17. August 2015 noch kein Zustimmungsgesuch der D AG zu den beab-
sichtigten Umgruppierungen beim Betriebsrat eingegangen war, bestand kein
dringender Handlungsbedarf für eine Beschlussfassung. Der Betriebsrat war in
der Sitzung am 17. August 2015 auch nicht vollständig versammelt. Selbst unge-
achtet der Verhinderung des Betriebsratsvorsitzenden nach § 25 Abs. 1 Satz 1
BetrVG waren nur insgesamt acht - und nicht neun - Betriebsratsmitglieder bzw.
Ersatzmitglieder anwesend.
(3)
Die Verfahrensverstöße haben die Unwirksamkeit des auf der Sitzung
des Betriebsrats am 17. August 2015 gefassten Beschlusses über die Zustim-
mungsverweigerung zur Folge.
(a)
Die Rechtsfolge eines festgestellten Verfahrensverstoßes hängt grund-
sätzlich von der Bedeutung dieser formellen Anforderung für eine ordnungsge-
mäße Beschlussfassung ab. Lediglich Verstöße gegen Verfahrensvorschriften,
die für das ordnungsgemäße Zustandekommen eines Betriebsratsbeschlusses
als wesentlich anzusehen sind, können zur Unwirksamkeit des Beschlusses füh-
ren
.
Denn die Beachtung von Verfahrensvorschriften vermag nur dann Vorrang vor
dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit zu beanspruchen, wenn deren Verletzung
so schwerwiegend ist, dass der Fortbestand des Beschlusses von der Rechts-
ordnung nicht hingenommen werden kann. Anhand des Regelungszwecks der
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Verfahrensvorschrift ist zu bestimmen, ob die Verletzung der hierdurch geschütz-
ten Interessen stärker zu gewichten ist als das Interesse an der Aufrechterhaltung
des Beschlusses. Dies kommt typischerweise bei groben Verstößen gegen we-
sentliche Verfahrensvorschriften in Betracht. In anderen Fällen überwiegen die
durch die Verfahrensregelung geschützten Interessen nicht zwingend das Inte-
resse an der Aufrechterhaltung des Beschlusses
.
(b)
Bei den Regelungen in § 29 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 BetrVG handelt es
sich um wesentliche Verfahrensvorschriften. Der Gesetzgeber hat dem Betriebs-
ratsvorsitzenden in Satz 1 der Norm ausdrücklich die Pflicht zugewiesen, nach
der konstituierenden Sitzung des Betriebsrats dessen weitere Sitzungen einzu-
berufen und die anderen Betriebsratsmitglieder hierzu zu laden. Durch die Be-
schränkung nicht nur des Einberufungs-, sondern auch des Ladungsrechts auf
die Person des Vorsitzenden soll eine ordnungsgemäße Arbeit des Betriebsrats-
gremiums gewährleistet werden. Der Vorsitzende legt im Rahmen seines pflicht-
gemäßen Ermessens sowohl Zeitpunkt als auch Ort der Sitzung fest und hat
durch die Ladung der Betriebsratsmitglieder sicherzustellen, dass diese die Mög-
lichkeit haben, an der Sitzung teilzunehmen. Dadurch lenkt er die inhaltliche Ar-
beit des Betriebsrats. Könnte jedes Betriebsratsmitglied eine Sitzung einberufen
und zu dieser laden, bestünde die Gefahr, dass eine strukturierte und damit ziel-
orientierte Arbeit des Betriebsratsgremiums nicht mehr gewährleistet wäre. Auch
§ 29 Abs. 3 BetrVG zeigt, dass den Verfahrensvorschriften in § 29 Abs. 2 Satz 1
und Satz 3 BetrVG eine besondere Bedeutung zukommt. Danach kann grund-
sätzlich nicht das einzelne Betriebsratsmitglied die Einberufung einer Sitzung er-
zwingen, sondern nur ein an der Gesamtgröße des Betriebsrats orientiertes Quo-
rum.
(4)
Ob die Verstöße nachträglich geheilt werden können, kann dahinstehen.
Nach dem Zweck der verletzten Verfahrensvorschriften käme eine nach-
trägliche Heilung allenfalls dann in Betracht, wenn - was vorliegend nicht der Fall
war - alle (ggf. durch Ersatzmitglieder vertretene) Betriebsratsmitglieder zur Sit-
zung des Betriebsrats am 17. August 2015 erschienen wären. Anders als im Fall
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einer fehlenden oder fehlerhaften Tagesordnung bei einer durch den Vorsitzen-
den erfolgten Einberufung einer Sitzung des Betriebsrats und der Ladung hierzu
reicht
es nicht aus, dass nur die beschlussfähig Erschienenen einen einstimmigen Be-
schluss fassen. Da nach den gesetzlichen Vorgaben nur der Vorsitzende und - im
Verhinderungsfall - sein Stellvertreter eine Sitzung einberufen und hierzu laden
können, sind die Betriebsratsmitglieder nicht gehalten, dem nachzukommen. Sie
müssen nicht damit rechnen, dass auf einem solchen Zusammentreffen Be-
schlüsse für den Betriebsrat gefasst werden. Um die ordnungsmäße Willensbil-
dung des Betriebsratsgremiums und die Teilnahme an den Entscheidungen des
Gremiums durch das einzelne gewählte Mitglied zu gewährleisten, könnte eine
Heilung dieses Fehlers daher nur dann erfolgen, wenn das Betriebsratsgremium
bei der Sitzung vollzählig wäre.
Schmidt
K. Schmidt
Ahrendt
H. Schwitzer
Rose