Urteil des BAG vom 14.05.2013

Überstundenzuschlag für Mehrarbeit nach streikbedingtem Arbeitsausfall

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 14.5.2013, 1 AZR 178/12
Überstundenzuschlag für Mehrarbeit nach streikbedingtem Arbeitsausfall
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Niedersachsen vom 8. Dezember 2011 - 5 Sa 983/11 - wird
zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung eines
Überstundenzuschlags.
2 Die Klägerin ist bei der beklagten Stadt als Arbeiterin vollzeitbeschäftigt. Auf ihr
Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) Anwendung.
Danach beträgt die regelmäßige Arbeitszeit der Beschäftigten der Mitglieder der
Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände im Tarifgebiet West 39 Stunden (§ 6
Abs. 1 Buchst. b TVöD). Weiter ist dort bestimmt:
„§ 7 Sonderformen der Arbeit
(7) Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten
Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von
Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) für die Woche dienstplanmäßig bzw.
betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum
Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.
§ 8 Ausgleich für Sonderformen der Arbeit
(1)
1
Der/Die Beschäftigte erhält neben dem Entgelt für die tatsächliche
Arbeitsleistung Zeitzuschläge.
2
Die Zeitzuschläge betragen - … - je Stunde
a)
für Überstunden
in den Entgeltgruppen 1 bis 9
30 v.H.,
des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts der Stufe 3
der jeweiligen Entgeltgruppe.“
3 In der Arbeitswoche vom 8. bis zum 14. Februar 2010 hatte die Klägerin eine
dienstplanmäßige Arbeitszeit von 38,5 Stunden. Am Montag, dem 8. Februar 2010, nahm
sie an einem von ver.di organisierten Warnstreik teil. An diesem Tag betrug ihre Arbeitszeit
nach dem Dienstplan 8,5 Stunden. An den weiteren vier Arbeitstagen von Dienstag bis
Freitag arbeitete die Klägerin insgesamt 34 Stunden. Ein Zeitausgleich für die am Montag
ausgefallene Arbeitszeit ist in der nachfolgenden Woche nicht erfolgt. Die Beklagte
vergütete die in der Woche vom 8. bis zum 14. Februar 2010 tatsächlich geleisteten
34 Arbeitsstunden.
4 Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin Zahlung von Überstundenzuschlägen für vier Stunden.
Sie hat geltend gemacht, Überstunden iSd. § 7 Abs. 7 TVöD lägen im Falle eines
streikbedingten Arbeitsausfalls an einzelnen Wochentagen nicht nur vor, wenn in der
Streikwoche insgesamt mehr als im Dienstplan vorgesehen gearbeitet werde, sondern auch
dann, wenn an verbleibenden Wochentagen zusätzlich zur dienstplanmäßig festgesetzten
Arbeitszeit weitere Arbeitsstunden anfielen. Daher sei die individuelle Wochenarbeitszeit
entweder um die Zeit der Streikteilnahme zu reduzieren oder aber die dienstplanmäßige
Arbeitszeit am Streiktag fiktiv hinzuzurechnen.
5 Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 13,88 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. März 2010 zu zahlen.
6 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, ein Überstundenzuschlag sei nur
dann zu zahlen, wenn in einer Woche tatsächlich mehr als dienstplanmäßig festgesetzt
gearbeitet werde. Nur dann würden Überstunden „geleistet“.
7 Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin
ihren Zahlungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
8 Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung des begehrten Zeitzuschlags für
Überstunden aus § 8 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Buchst. a TVöD, da sie in der Woche vom
8. bis zum 14. Februar 2010 keine Überstunden geleistet hat.
9 1. Die Klage ist bereits unschlüssig. Die Klägerin hat nicht behauptet, die Beklagte habe
sie angewiesen, nach dem Streik vom Montag, dem 8. Februar 2010, an den
verbleibenden Arbeitstagen dieser Woche über eine dienstplanmäßig festgesetzte
Arbeitszeit hinaus zu arbeiten. Sie hat damit nicht dargetan, dass die von ihr erbrachte
Mehrarbeit, wie von § 7 Abs. 7 TVöD verlangt, auf Anordnung der Arbeitgeberin erfolgt ist,
von dieser geduldet wurde oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit
notwendig war (zu dieser Anforderung BAG 25. Mai 2005 - 5 AZR 319/04 - zu II 1 a der
Gründe). Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob eine solche Anordnung aus
arbeitskampfrechtlichen Gründen überhaupt zulässig wäre.
10 2. Die Klage ist auch unbegründet, weil die Klägerin die dienstplanmäßig festgesetzte
Arbeitszeit nicht überschritten hat. Sie hat in der Streikwoche insgesamt 34 Stunden
gearbeitet, während nach dem Dienstplan die Arbeitszeit 38,5 Stunden betrug. Die am
Streiktag ausgefallene Arbeitszeit von 8,5 Stunden ist den tatsächlich geleisteten
Arbeitsstunden nicht fiktiv hinzuzurechnen. Dies ergibt die Auslegung des Tarifvertrags.
11 a) Tarifliche Inhaltsnormen sind wie Gesetze auszulegen. Auszugehen ist vom Wortlaut
der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei
unbestimmtem Wortsinn sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der von
ihnen beabsichtigte Zweck der tariflichen Regelung zu berücksichtigen, sofern und soweit
sie im Regelungswerk ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den
Gesamtzusammenhang der Regelung, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen
der Tarifvertragsparteien liefern kann. Bleiben im Einzelfall gleichwohl Zweifel, können die
Gerichte ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien zurückgreifen,
wie etwa auf die Entstehungsgeschichte und die bisherige Anwendung der Regelung in
der Praxis. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu
berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einer
vernünftigen, sachgerechten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung
führt (BAG 30. Oktober 2012 - 1 AZR 794/11 - Rn. 10).
12 b) Der Begriff „Arbeit leisten“ wird ebenso wie der Begriff „arbeiten“ ausschließlich für das
aktive Tun verwandt. Dies entspricht auch dem allgemeinen Sprachgebrauch. Zeiten, in
denen der Arbeitnehmer von der Arbeitsleistung befreit ist, fallen regelmäßig nicht
hierunter (vgl. BAG 27. August 2008 - 5 AZR 647/07 - Rn. 9). Für ein solches Verständnis
spricht auch der tarifliche Gesamtzusammenhang. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 TVöD erhält der
Beschäftigte neben dem Entgelt nur für die „tatsächliche Arbeitsleistung“ Zeitzuschläge.
Damit wird von den Tarifvertragsparteien ersichtlich das Ziel verfolgt, nur eine tatsächlich
eingetretene besondere Arbeitsbelastung durch ein zusätzliches Entgelt auszugleichen
(vgl. BAG 14. September 2011 - 10 AZR 358/10 - Rn. 26). Dieses Auslegungsergebnis
wird schließlich durch die Tarifgeschichte bestätigt. Nach § 17 Abs. 3 BAT waren
abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch bei der Überstundenberechnung für jeden
im Berechnungszeitraum liegenden Urlaubstag, Krankheitstag sowie für jeden sonstigen
Tag einschließlich eines Wochenfeiertags, an dem der Angestellte von der Arbeit
freigestellt war, die Stunden mitzuzählen, die der Angestellte ohne diese Ausfallgründe
innerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit dienstplanmäßig geleistet hätte. Diese besondere
Berücksichtigung von Ausfalltagen ist in den TVöD nicht übernommen worden. Es bleibt
damit bei den allgemeinen Grundsätzen.
13 c) Hiernach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Überstundenzuschläge aus § 8 Abs. 1
Satz 2 Buchst. a TVöD, da sie in der Arbeitswoche vom 8. bis zum 14. Februar 2010 keine
über ihre dienstplanmäßig festgesetzten Arbeitsstunden von 38,5 Stunden hinausgehende
Arbeitsleistung erbracht, sondern tatsächlich nur 34 Stunden gearbeitet hat. Die Zeit der
Teilnahme am Warnstreik ist bei der Berechnung des Überstundenzuschlags nicht als
zuschlagspflichtige Arbeitszeit zu bewerten, da sie in dieser Zeit keine Arbeitsstunden
„geleistet“ hat.
14 3. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die dienstplanmäßige Arbeitszeit in der
Woche vom 8. bis zum 14. Februar 2010 nicht um die durch den Streik ausgefallene
Arbeitszeit von 8,5 Stunden zu reduzieren.
15 a) Eine solche Reduzierung ist tariflich nicht vorgesehen. Sie kann auch nicht aus einer
analogen Anwendung des § 6 Abs. 3 Satz 3 TVöD hergeleitet werden. Nach dieser
Bestimmung vermindert sich die regelmäßige Arbeitszeit für jeden gesetzlichen Feiertag
sowie für den 24. und 31. Dezember, sofern sie auf einen Werktag fallen, um die
dienstplanmäßig ausgefallenen Stunden. Für den Fall des Streiks sieht der TVöD
hingegen eine Verringerung der Wochenarbeitszeit nicht vor. Anhaltspunkte für eine
planwidrige Regelungslücke sind nicht ersichtlich. Es ist vielmehr im Hinblick auf die
Abweichung von der Vorgängerregelung in § 17 Abs. 3 BAT davon auszugehen, dass die
Tarifvertragsparteien bei Abschluss des TVöD bewusst davon abgesehen haben, bei der
Regelung der Überstunden Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung einzubeziehen.
16 b) Ein anderes Auslegungsergebnis folgt auch nicht aus dem Senatsurteil vom 26. Juli
2005 (- 1 AZR 133/04 - BAGE 115, 247). In jenem Fall hatte sich ein Arbeitnehmer, bevor
er an einer Streikkundgebung teilnahm, in zulässiger Weise aus dem betrieblichen
Zeiterfassungssystem abgemeldet. Dies führte dazu, dass dem Arbeitszeitkonto für diese
Zeitdauer keine Zeitgutschrift zugeführt wurde. Der Arbeitgeber konnte ihm deshalb für die
Dauer der Teilnahme an der Streikkundgebung die vertragliche Sollarbeitszeit nicht -
nochmals - vermindern. Hierum geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht. Die Klägerin
hatte vielmehr während der dienstplanmäßigen Arbeitszeit gestreikt. Der Entscheidung
vom 26. Juli 2005 (- 1 AZR 133/04 - aaO) ist offenkundig nicht zu entnehmen, dass bei der
Berechnung von Überstundenzuschlägen abweichend von der jeweiligen
tarifvertraglichen Regelung eine Reduzierung der dienstplanmäßigen Arbeitszeit um die
Dauer der Streikteilnahme zu erfolgen hat. Dies richtet sich vielmehr allein nach dem
einschlägigen Tarifvertrag.
Schmidt
Koch
Linck
Schäferkord
N. Schuster