Urteil des BAG vom 25.06.2013
Kapitalleistung - vorgezogene Inanspruchnahme - Abschlag
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 25.6.2013, 3 AZR 219/11
Kapitalleistung - vorgezogene Inanspruchnahme - Abschlag
Leitsätze
Die Grundsätze zur Berechnung der Betriebsrente bei vorgezogener Inanspruchnahme nach
vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis gelten auch für Versorgungszusagen, die
einmalige Kapitalleistungen vorsehen. Sofern die Versorgungsregelung nichts anderes
bestimmt, ist die Leistung nach § 2 Abs. 1 und Abs. 5 BetrAVG zeitratierlich zu berechnen und
um einen sog. untechnischen versicherungsmathematischen Abschlag zu kürzen.
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Düsseldorf vom 20. Januar 2011 - 11 Sa 1410/10 - aufgehoben.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts
Düsseldorf vom 7. September 2010 - 7 Ca 908/10 - teilweise abgeändert.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Höhe einer Ruhestandszuwendung.
2 Die Klägerin ist am 4. Dezember 1946 geboren. Sie war vom 1. Oktober 1982 bis zum
31. Oktober 2007 bei der Beklagten gegen eine monatliche Vergütung von zuletzt
5.244,00 Euro brutto beschäftigt. Seit dem 1. November 2009 bezieht die Klägerin
vorgezogene gesetzliche Altersrente und von der Beklagten eine Betriebsrente.
3 Bei der Beklagten galt seit dem 1. Juli 1977 eine Betriebsvereinbarung, die ua. die Zahlung
einer „Ruhestandszuwendung bei Pensionseintritt“ vorsah. Diese betrug nach einer
Betriebszugehörigkeit von 10 Jahren ein Monatsverdienst, von 20 Jahren zwei und von
30 Jahren drei Monatsverdienste.
4 Seit Mitte 1985 wendet die Beklagte auf ihre Mitarbeiter eine vom Vorstand der Thyssen
Handelsunion AG erlassene Richtlinie „Ruhestandszuwendung für Belegschaftsmitglieder
der Thyssen Handelsunion AG“ (im Folgenden: Richtlinie) an. Diese lautet auszugsweise:
„Mit Wirkung vom 01. Juli 1985 wird die bisherige Regelung des sogenannten
Treuegeldes bei Eintritt in den Ruhestand für Mitarbeiter der Thyssen Handelsunion
AG mit Anspruch auf Leistungen nach der Werkspensionsordnung wie folgt
geändert:
1. Höhe der Ruhestandszuwendung
Die Ruhestandszuwendung beträgt
nach 15 vollendeten Dienstjahren das 1,5 fache eines Monatsbezuges
nach 16 vollendeten Dienstjahren das 1,6 fache eines Monatsbezuges
etc.
nach 30 vollendeten Dienstjahren das 3,0 fache eines Monatsbezuges (max.)
Als Dienstjahre gelten anrechnungsfähige Dienstzeiten im Sinne des § 4 Ziffer
1 - 3 der Pensionsordnung vom 13.05.1985 mit der Maßgabe, daß nur
vollständig zurückgelegte Dienstjahre zur Anrechnung gelangen. Als
Monatsbezug gilt die arbeitsvertraglich zuletzt gezahlte Bruttomonatsvergütung.
…
2. Anrechnung anderweitiger Leistungen
Die Ruhestandszuwendung wird den Mitarbeitern der Thyssen Handelsunion
AG bei Eintritt in den Ruhestand, d.h. mit Bezug einer Alters- oder unbefristeten
Erwerbsunfähigkeitsrente gezahlt. Wird eine unbefristete
Erwerbsunfähigkeitsrente rückwirkend zuerkannt für einen Zeitraum, in dem
gleichzeitig Lohn- bzw. Gehaltszahlungen, z.B. wegen Arbeitsunfähigkeit,
geleistet worden sind, werden die Lohn- bzw. Gehaltszahlungen ab Beginn der
Rentenleistungen mit der Ruhestandszuwendung verrechnet.
3. Übergangsregelung
Mitarbeiter, die am 01. Juli 1985 mindestens 10 Dienstjahre im Sinne der
Ziffer 1 dieser Richtlinie zurückgelegt haben und vor Vollendung von 15
Dienstjahren in den Ruhestand treten, erhalten die Ruhestandszuwendung
nach der bisherigen Regelung (1 Monatsbezug).“
5 Die Beklagte zahlte der Klägerin eine Ruhestandszuwendung in Höhe von 12.173,74 Euro.
Mit Schreiben vom 1. Dezember 2009 teilte sie der Klägerin mit, dass sie diese wegen der
vorgezogenen Inanspruchnahme der Altersrente gekürzt habe.
6 Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr stehe eine ungekürzte
Ruhestandszuwendung für 25 vollendete Dienstjahre iHv. 13.110,00 Euro zu. Bei der
Zuwendung handele es sich nicht um betriebliche Altersversorgung. Jedenfalls sehe die
Richtlinie eine Kürzungsmöglichkeit bei vorgezogener Inanspruchnahme der Altersrente
nach vorzeitigem Ausscheiden nicht vor. Anknüpfungspunkt für die Zahlung sei der Eintritt
in den Ruhestand und nicht das Erreichen der Regelaltersgrenze. Auch ein sog.
untechnischer versicherungsmathematischer Abschlag dürfe nicht vorgenommen werden.
7 Die Klägerin hat - soweit für die Revision von Interesse - beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 936,26 Euro nebst Zinsen in Höhe von
fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. November 2009 zu zahlen.
8 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
9 Das Arbeitsgericht hat der Klage, soweit sie in die Revision gelangt ist, stattgegeben. Das
Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision
erstrebt die Beklagte die vollständige Klageabweisung. Die Klägerin beantragt die
Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, zur
teilweisen Abänderung des arbeitsgerichtlichen Urteils, soweit es der Klage stattgegeben
hat, und zur vollständigen Abweisung der Klage. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin
hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung einer ungekürzten
Ruhestandszuwendung. Bei der Ruhestandszuwendung handelt es sich um betriebliche
Altersversorgung iSd. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG. Die Beklagte war berechtigt, die
Ruhestandszuwendung der Klägerin nach § 2 Abs. 1 und Abs. 5 BetrAVG zeitratierlich zu
berechnen und wegen der vorgezogenen Inanspruchnahme vor Erreichen der
Regelaltersgrenze um einen sog. untechnischen versicherungsmathematischen Abschlag
zu kürzen. Den sich danach ergebenden Anspruch iHv. 12.144,36 Euro hat die Beklagte
erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).
11 I. Die Klägerin hat nach §§ 1b, 6 BetrAVG iVm. der Richtlinie einen Anspruch auf Zahlung
einer Ruhestandszuwendung.
12 1. Die Ruhestandszuwendung ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts
keine Sonderzahlung, sondern eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung und
unterfällt als solche den Bestimmungen des BetrAVG.
13 a) Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG handelt es sich um betriebliche Altersversorgung,
wenn dem Arbeitnehmer aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber
Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung zugesagt sind. Die
Zusage muss einem Versorgungszweck dienen und die Leistungspflicht muss nach dem
Inhalt der Zusage durch ein im Gesetz genanntes biologisches Ereignis, nämlich Alter,
Invalidität oder Tod ausgelöst werden. Erforderlich und ausreichend ist, dass durch die
vorgesehene Leistung ein im Betriebsrentengesetz genanntes biometrisches Risiko
teilweise übernommen wird. Die Altersversorgung deckt einen Teil der
„Langlebigkeitsrisiken“, die Hinterbliebenenversorgung einen Teil der Todesfallrisiken und
die Invaliditätssicherung einen Teil der Invaliditätsrisiken ab. Die Risikoübernahme muss
in einer Versorgung bestehen. Dabei ist der Begriff der Versorgung weit auszulegen.
Versorgung sind alle Leistungen, die den Lebensstandard des Arbeitnehmers oder seiner
Hinterbliebenen im Versorgungsfall verbessern sollen (vgl. BAG 14. Dezember 2010 -
3 AZR 799/08 - Rn. 23; 16. März 2010 - 3 AZR 594/09 - Rn. 23 mwN, BAGE 133, 289;
18. März 2003 - 3 AZR 315/02 - zu I 3 a der Gründe). Außer Zusagen auf rentenförmige
Leistungen können auch einmalige Kapitalzuwendungen die Merkmale der betrieblichen
Altersversorgung erfüllen (BAG 18. März 2003 - 3 AZR 315/02 - aaO; 30. September 1986
- 3 AZR 22/85 - zu I 1 der Gründe, BAGE 53, 131; 28. Januar 1986 - 3 AZR 312/84 -
zu II 2 a der Gründe, BAGE 51, 51). Es genügt, dass der Versorgungszweck die Leistung
und deren Regelung prägt.
14 b) Danach ist die Ruhestandszuwendung eine Leistung der betrieblichen
Altersversorgung. Es handelt sich um eine aus Anlass des Arbeitsverhältnisses
versprochene Leistung, die nach Wortlaut, Zweck und Systematik der Richtlinie der
Versorgung im Alter und bei Invalidität dienen soll. Nach Ziff. 2 der Richtlinie wird die
Gewährung der Zuwendung durch die im Betriebsrentengesetz genannten biometrischen
Ereignisse Alter und Invalidität ausgelöst. Die Zuwendung dient der Versorgung des
Arbeitnehmers bei Eintritt in den Ruhestand. Dies zeigt schon die in der Präambel der
Richtlinie enthaltene Regelung, nach der nur Mitarbeiter bezugsberechtigt sind, die einen
Anspruch auf Gewährung einer Betriebsrente nach der Werkspensionsordnung haben.
Die Höhe der Zuwendung ist auch geeignet, den Lebensstandard des Arbeitnehmers bei
Eintritt des Versorgungsfalls zumindest vorübergehend zu verbessern. Dass die
Ruhestandszuwendung von den Beschäftigten der Beklagten allgemein als „Treuegeld“
bezeichnet wird, ist unerheblich. Ob eine in Aussicht gestellte Leistung dem
Betriebsrentengesetz und der hierzu entwickelten Rechtsprechung unterfällt, hängt nicht
von ihrer Bezeichnung ab (BAG 18. Februar 2003 - 3 AZR 81/02 - zu I 1 c bb der Gründe;
3. November 1998 - 3 AZR 454/97 - zu B I der Gründe, BAGE 90, 120; 28. Januar 1986 -
3 AZR 312/84 - zu II 2 a der Gründe, BAGE 51, 51). Entscheidend ist allein, ob die
Leistung - wie vorliegend - die Begriffsmerkmale des § 1 BetrAVG erfüllt.
15 2. Die Klägerin ist am 31. Oktober 2007 nach § 1b Abs. 1, § 30f Abs. 1 Satz 1 BetrAVG mit
einer unverfallbaren Anwartschaft auf eine Ruhestandszuwendung aus dem
Arbeitsverhältnis mit der Beklagten ausgeschieden, da ihr Arbeitsverhältnis vor dem
Eintritt des Versorgungsfalls am 1. November 2009 geendet hat und die Zusage auf
Gewährung der Ruhestandszuwendung im Zeitpunkt des Ausscheidens länger als zehn
Jahre bestand.
16 3. Die Klägerin konnte die Zahlung der Ruhestandszuwendung nach § 6 BetrAVG am
1. November 2009 verlangen, da sie seit diesem Zeitpunkt vorgezogene Altersrente aus
der gesetzlichen Rentenversicherung als Vollrente in Anspruch nimmt.
17 II. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung einer ungekürzten
Ruhestandszuwendung. Vielmehr war die Beklagte berechtigt, die
Ruhestandszuwendung nach § 2 Abs. 1 und Abs. 5 BetrAVG zeitratierlich zu berechnen
und wegen der vorgezogenen Inanspruchnahme um einen sog. untechnischen
versicherungsmathematischen Abschlag zu kürzen. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar
aus der Richtlinie, aber aus den allgemeinen Grundsätzen des Betriebsrentenrechts. Den
sich daraus ergebenden Anspruch hat die Beklagte erfüllt.
18 1. Die Richtlinie enthält keine Bestimmungen darüber, wie die Ruhestandszuwendung bei
einer vorgezogenen Inanspruchnahme vor der Regelaltersgrenze (§ 6 BetrAVG) nach
vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalls zu
berechnen ist. Dies ergibt die Auslegung.
19 a) Die Auslegung der Richtlinie als einseitig vom Vorstand der Thyssen Handelsunion AG
aufgestelltem und von der Beklagten auf ihre Mitarbeiter angewendetem Regelungswerk
erfolgt nach den Grundsätzen für die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen.
Diese sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie
sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der
normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden. Dabei sind nicht die
Verständnismöglichkeiten des konkreten, sondern die des durchschnittlichen
Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen. Die Auslegung Allgemeiner
Geschäftsbedingungen obliegt auch dem Revisionsgericht (vgl. BAG 23. August 2011 -
3 AZR 627/09 - Rn. 18; 15. Februar 2011 - 3 AZR 54/09 - Rn. 33).
20 b) Danach regelt Ziff. 1 der Richtlinie lediglich die Höhe der Zuwendung, die von dem
Arbeitnehmer beansprucht werden kann, der mit Eintritt des Versorgungsfalls aus dem
Arbeitsverhältnis mit der Beklagten ausscheidet, nicht jedoch die Höhe der Zuwendung
bei deren vorgezogener Inanspruchnahme nach vorzeitigem Ausscheiden.
21 aa) Dies zeigt schon der Wortlaut der Richtlinie. Nach Ziff. 2 wird die
Ruhestandszuwendung „den Mitarbeitern“ bei Eintritt in den Ruhestand gewährt. Die
Regelung geht ersichtlich davon aus, dass der Arbeitnehmer bis zum Eintritt des
Versorgungsfalls im Unternehmen verblieben ist. Auch die Präambel der Richtlinie („… bei
Eintritt in den Ruhestand für Mitarbeiter …“) sowie ihre Überschrift („… für
Belegschaftsmitglieder“) bestätigen dies.
22 bb) Der Regelungszusammenhang spricht ebenfalls für dieses Verständnis. Der in Ziff. 2
Satz 2 der Richtlinie vorgesehenen Verrechnungsbestimmung bei Invalidität liegt die
Vorstellung zugrunde, dass der Arbeitnehmer erst mit dem Eintritt des Versorgungsfalls
Invalidität aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Die Beklagte soll, wenn die
„Erwerbsunfähigkeitsrente“ rückwirkend zuerkannt wird und über diesen Zeitpunkt hinaus
noch Gehaltszahlungen erfolgt sind, befugt sein, diese mit der Ruhestandszuwendung zu
verrechnen. Auch die Übergangsbestimmung in Ziff. 3 der Richtlinie stellt darauf ab, dass
der Mitarbeiter noch vor der Vollendung von 15 Dienstjahren aus dem Arbeitsverhältnis mit
der Beklagten in den Ruhestand tritt.
23 2. Mangels anderweitiger Regelung in der Versorgungszusage war die Beklagte
berechtigt, die Ruhestandszuwendung der Klägerin nach den Grundsätzen des
Betriebsrentenrechts zu berechnen. Dies führt im Streitfall dazu, dass die fiktive, für den
Fall des Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis bei Erreichen der Regelaltersgrenze
zugesagte Ruhestandszuwendung nach § 2 Abs. 1 und Abs. 5 BetrAVG zeitratierlich
entsprechend dem Verhältnis der tatsächlichen zu der bis zum Erreichen der
Regelaltersgrenze möglichen Betriebszugehörigkeit gekürzt werden darf. Darüber hinaus
ist die Beklagte berechtigt, einen sog. untechnischen versicherungsmathematischen
Abschlag in Form einer weiteren zeitratierlichen Kürzung vorzunehmen.
24 a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ergibt sich im Fall der vorgezogenen
Inanspruchnahme einer Betriebsrente nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis
vor Eintritt des Versorgungsfalls in der Regel eine Berechtigung zur Kürzung der
Betriebsrente unter zwei Gesichtspunkten:
25 Zum einen wird in das Gegenseitigkeitsverhältnis, das der Berechnung der Vollrente
zugrunde liegt, dadurch eingegriffen, dass der Arbeitnehmer die Betriebszugehörigkeit
nicht bis zum Zeitpunkt der nach der Versorgungszusage maßgeblichen Altersgrenze
erbracht hat. Zum anderen erfolgt eine Verschiebung des der Versorgungszusage
zugrunde liegenden Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung dadurch, dass er die
Betriebsrente mit höherer Wahrscheinlichkeit, früher und länger als mit der
Versorgungszusage versprochen in Anspruch nimmt (vgl. etwa BAG 19. Juni 2012 - 3 AZR
289/10 - Rn. 24; 15. November 2011 - 3 AZR 778/09 - Rn. 34; 19. April 2011 - 3 AZR
318/09 - Rn. 26 mwN).
26 Der Senat hat dem ersten Gedanken dadurch Rechnung getragen, dass die bei voller
Betriebszugehörigkeit bis zu der nach der Versorgungszusage maßgeblichen
Altersgrenze erreichbare - fiktive - Vollrente nach § 2 Abs. 1 und Abs. 5 BetrAVG
zeitratierlich entsprechend dem Verhältnis der tatsächlichen zu der bis zum Erreichen der
in der Versorgungszusage bestimmten festen Altersgrenze oder - bei Fehlen einer
solchen - bis zu der Regelaltersgrenze möglichen Betriebszugehörigkeit zu kürzen ist. Der
zweite Gesichtspunkt kann entsprechend den Wertungen in der Versorgungsordnung
berücksichtigt werden. Wenn und soweit diesem Gesichtspunkt in der
Versorgungsordnung Rechnung getragen wird, zB indem ein
versicherungsmathematischer Abschlag vorgesehen ist, verbleibt es dabei. Enthält die
Versorgungsordnung hingegen keine Wertung, hat der Senat als „Auffangregelung“ für die
Fälle, in denen die Versorgungsordnung keinen versicherungsmathematischen Abschlag
vorsieht, ohne ihn ihrerseits auszuschließen, einen sog. untechnischen
versicherungsmathematischen Abschlag entwickelt. Dieser erfolgt durch eine weitere
zeitratierliche Kürzung der bereits in einem ersten Schritt gekürzten Betriebsrente. Dies
geschieht in der Weise, dass die Zeit zwischen dem Beginn der Betriebszugehörigkeit und
der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente in das Verhältnis gesetzt wird zu
der Zeit vom Beginn der Betriebszugehörigkeit bis zum Erreichen der nach der
Versorgungszusage maßgeblichen Altersgrenze (vgl. etwa BAG 19. Juni 2012 - 3 AZR
289/10 - Rn. 25; 15. November 2011 - 3 AZR 778/09 - Rn. 35; 19. April 2011 - 3 AZR
318/09 - Rn. 27 mwN).
27 Für die Berechnung der Betriebsrente eines vorzeitig aus dem Arbeitsverhältnis
ausgeschiedenen Arbeitnehmers ist dabei zunächst nach den Grundsätzen des § 2 Abs. 1
und Abs. 5 BetrAVG unter Berücksichtigung der dort vorgesehenen Veränderungssperre
und des Festschreibeeffektes die fiktive Vollrente zu ermitteln. Der Berechnung der fiktiven
Vollrente sind entsprechend § 2 Abs. 5 Satz 1 BetrAVG die bei Ausscheiden geltende
Versorgungsordnung und die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Bemessungsgrundlagen
zugrunde zu legen. Dabei sind die zum Zeitpunkt des Ausscheidens bestehenden
Bemessungsgrundlagen auf den Zeitpunkt der festen Altersgrenze hochzurechnen. Die so
ermittelte fiktive Vollrente ist zeitratierlich entsprechend den Grundsätzen des § 2 Abs. 1
BetrAVG im Verhältnis der tatsächlichen Betriebszugehörigkeit zu der möglichen
Betriebszugehörigkeit zu kürzen. Der so errechnete Betrag ist die Versorgungsleistung,
die dem vor Eintritt des Versorgungsfalls ausgeschiedenen Arbeitnehmer bei
Inanspruchnahme der Leistung ab der in der Versorgungsordnung vorgesehenen festen
Altersgrenze oder - bei Fehlen derselben - ab der Regelaltersgrenze zustünde. Wegen der
vorgezogenen Inanspruchnahme der Versorgungsleistung ist von diesem Betrag ggf. der
sog. untechnische versicherungsmathematische Abschlag vorzunehmen. Dabei ist die
Zeit zwischen dem Beginn der Betriebszugehörigkeit bis zur vorgezogenen
Inanspruchnahme der Betriebsrente ins Verhältnis zu setzen zur möglichen
Betriebszugehörigkeit bis zu der in der Versorgungsordnung bestimmten festen
Altersgrenze oder, wenn die Versorgungsordnung keine feste Altersgrenze vorsieht, bis
zur Regelaltersgrenze (vgl. etwa BAG 19. Juni 2012 - 3 AZR 289/10 - Rn. 26).
28 b) Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Zusage laufender Rentenleistungen, sondern
auch für Versorgungszusagen, die einmalige Kapitalzahlungen vorsehen (bislang
offengelassen von BAG 19. Juni 2012 - 3 AZR 289/10 - Rn. 27; 12. Dezember 2006 -
3 AZR 716/05 - Rn. 37; 23. Januar 2001 - 3 AZR 164/00 - zu II 2 c der Gründe).
29 Der Eingriff in das der Versorgungszusage zugrunde liegende Äquivalenzverhältnis durch
das Ausscheiden des Arbeitnehmers vor Erreichen der nach der Versorgungszusage
maßgeblichen Altersgrenze tritt unabhängig davon ein, welche Art von Leistung im
Versorgungsfall zugesagt ist. Er liegt darin, dass der Arbeitnehmer die nach der
Versorgungszusage vorausgesetzte Betriebstreue bis zum Eintritt des Versorgungsfalls
nicht erbracht hat. Die Anwendung des in § 2 Abs. 1 BetrAVG zum Ausdruck kommenden
Quotierungsprinzips ist - bei Fehlen einer anderweitigen, in der Versorgungszusage
enthaltenen Regelung - daher auch bei Versorgungszusagen geboten, die die Gewährung
einer Kapitalleistung vorsehen. Durch die zeitratierliche Berechnung wird der Umfang der
zugesagten Kapitalleistung an die Dauer der tatsächlichen Betriebszugehörigkeit
angepasst, ohne dass in die Struktur der Altersversorgung eingegriffen wird (Höfer
BetrAVG Stand März 2013 § 2 Rn. 3073).
30 Darüber hinaus verschiebt sich das der Versorgungszusage zugrunde liegende Verhältnis
von Leistung und Gegenleistung auch durch die frühere Auszahlung der
Kapitalzuwendung. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Arbeitnehmer die Leistung erhält, ist
höher und der Arbeitgeber muss diese früher als mit der Versorgungszusage versprochen
erbringen. Dass der „Störfaktor“ der längeren Bezugsdauer bei einmaligen Leistungen -
anders als bei laufenden Betriebsrenten - keine Rolle spielt, steht einer Anwendung der
vom Senat entwickelten Grundsätze nicht entgegen. Denn die Störung des
Äquivalenzverhältnisses unter dem Aspekt der früheren Inanspruchnahme wirkt sich bei
einer Kapitalleistung stärker aus als bei dem Bezug einer monatlichen Rente. Der
Arbeitgeber muss das geschuldete Versorgungskapital im Zeitpunkt des vorgezogenen
Rentenbeginns (§ 6 BetrAVG) insgesamt früher als vereinbart zur Verfügung stellen. Bis
zur Regelaltersgrenze kann er mit diesem Betrag keinerlei Zinserträge mehr erzielen. Der
für ihn nachteilige Zinseffekt ist damit höher als bei laufenden Betriebsrenten, bei denen
das versprochene Versorgungsvolumen ratierlich gezahlt wird. Als Reaktion auf diese
Verschiebung des Äquivalenzverhältnisses kann auch in einer Versorgungsordnung, die
Kapitalleistungen vorsieht, für den Fall der vorgezogenen Inanspruchnahme ein
versicherungsmathematischer Abschlag vorgesehen werden, der neben der höheren
Erlebenswahrscheinlichkeit auch den entstehenden Zinsverlust berücksichtigt (so auch
Höfer BetrAVG Stand März 2013 § 6 Rn. 4237; Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 5. Aufl. § 6
Rn. 129 f.). Fehlt es an einer entsprechenden Regelung, so gelangt die vom Senat
gefundene „Auffangregelung“ des sog. untechnischen versicherungsmathematischen
Abschlags zur Anwendung, sofern die Wertungen der Versorgungsordnung dem nicht
entgegenstehen.
31 c) Danach war die Ruhestandszuwendung der Klägerin bei Rentenbeginn am
1. November 2009 nach § 2 Abs. 1 und Abs. 5 BetrAVG zeitratierlich zu berechnen und um
einen sog. untechnischen versicherungsmathematischen Abschlag zu kürzen.
32 aa) Die Berechnung der unverfallbaren Versorgungsanwartschaft richtet sich nach den
Grundsätzen des § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG, da die Richtlinie keine andere Berechnung
der unverfallbaren Versorgungsanwartschaft vorsieht. Der Richtlinie lässt sich weder
entnehmen, dass bei einem vorzeitigen Ausscheiden vor Erreichen der Regelaltersgrenze
eine Kürzung gänzlich unterbleiben soll, noch dass eine von § 2 Abs. 1 BetrAVG
abweichende Berechnung vorzunehmen ist. Die Zusage einer von § 2 Abs. 1 BetrAVG
abweichenden Berechnung der unverfallbaren Versorgungsanwartschaft muss deutlich
zum Ausdruck gebracht werden (vgl. BAG 15. November 2011 - 3 AZR 778/09 - Rn. 37;
4. Oktober 1994 - 3 AZR 215/94 - zu B II der Gründe; 12. März 1985 - 3 AZR 450/82 -
zu II 3 b der Gründe). Hieran fehlt es vorliegend.
33 bb) Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BetrAVG richtet sich der Wert der für die Klägerin
aufrechterhaltenen Versorgungsanwartschaft nach dem Verhältnis der Dauer ihrer
Betriebszugehörigkeit zu der Zeit vom Beginn ihrer Betriebszugehörigkeit bis zum
Erreichen der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung.
34 (1) Die Klägerin, die vor dem 1. Januar 1947 geboren ist, hätte die Regelaltersgrenze nach
§ 235 Abs. 2 Satz 1 SGB VI mit Vollendung des 65. Lebensjahres erreicht. Nach Ziff. 1
Satz 1 und Satz 2 der Richtlinie hätte der Klägerin bei einem Ausscheiden mit Vollendung
des 65. Lebensjahres (4. Dezember 2011) nach 29 vollendeten Dienstjahren (1. Oktober
1982 bis 30. September 2011) daher eine fiktive Ruhestandszuwendung in Höhe des 2,9-
fachen eines Monatsbezugs zugestanden. Gemäß § 2 Abs. 5 BetrAVG ist bei der
Ermittlung der fiktiven Zuwendung das zum Zeitpunkt des Ausscheidens der Klägerin von
ihr erzielte Bruttomonatseinkommen zugrunde zu legen. Dieses belief sich auf
5.244,00 Euro, so dass die fiktive Ruhestandszuwendung 15.207,60 Euro beträgt (2,9 x
5.244,00 Euro).
35 (2) Die fiktive Vollleistung iHv. 15.207,60 Euro ist wegen des vorzeitigen Ausscheidens
der Klägerin zum 31. Oktober 2007 im Verhältnis der tatsächlichen Betriebszugehörigkeit
vom 1. Oktober 1982 bis zum 31. Oktober 2007 (301 Kalendermonate) zur Zeit der
möglichen Betriebszugehörigkeit bis zur Regelaltersgrenze mit Vollendung des
65. Lebensjahres und damit vom 1. Oktober 1982 bis zum 4. Dezember 2011 (350 volle
Kalendermonate; 1. Oktober 1982 bis 30. November 2011) zeitratierlich zu kürzen. Dies
ergibt einen Betrag iHv. 13.078,54 Euro (15.207,60 Euro x 301 : 350).
36 cc) Dieser Betrag ist um den sog. untechnischen versicherungsmathematischen Abschlag
wegen der vorgezogenen Inanspruchnahme der Ruhegehaltszuwendung zu kürzen.
37 (1) Die Richtlinie sieht Abschläge bei vorgezogener Auszahlung der Zuwendung zwar
nicht ausdrücklich vor, schließt diese aber auch nicht aus. Ziff. 2 der Richtlinie lässt sich
nicht entnehmen, dass auch bei einer vorgezogenen Inanspruchnahme der Altersrente vor
Erreichen der Regelaltersgrenze die Zuwendung in der sich aus Ziff. 1 der Richtlinie
ergebenden Höhe gezahlt wird. Der Wille des Versorgungsschuldners, auch bei einer
vorgezogenen Inanspruchnahme vor Erreichen der Regelaltersgrenze die
Altersversorgungsleistung in voller Höhe zu erbringen, muss klar und eindeutig zum
Ausdruck kommen (vgl. Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber BetrAVG 5. Aufl. § 6
Rn. 55). Hieran fehlt es. Der Einwand der Klägerin, dass nach Ziff. 2 der Richtlinie die
Ruhestandszuwendung bei Bezug einer unbefristeten Erwerbsunfähigkeitsrente in
ungekürzter Höhe gezahlt werden müsse, verfängt nicht. Denn eine Störung des
Äquivalenzverhältnisses durch die vorgezogene Inanspruchnahme einer betrieblichen
Altersversorgungsleistung nach § 6 BetrAVG kann nur bei der Altersrente auftreten.
38 (2) Der sog. untechnische versicherungsmathematische Abschlag errechnet sich aus dem
Verhältnis der Anzahl der vollen Kalendermonate vom Beginn der Betriebszugehörigkeit
am 1. Oktober 1982 bis zur vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente am
1. November 2009 (325 volle Kalendermonate: 1. Oktober 1982 bis 31. Oktober 2009) zu
der möglichen Betriebszugehörigkeit vom 1. Oktober 1982 bis zur Vollendung des
65. Lebensjahres am 4. Dezember 2011 (350 volle Kalendermonate: 1. Oktober 1982 bis
30. November 2011). In diesem Verhältnis ist die ermittelte Anwartschaft auf
Ruhestandszuwendung iHv. 13.078,54 Euro zu mindern. Daraus ergibt sich ein Anspruch
der Klägerin auf Zahlung von 12.144,36 Euro brutto (13.078,54 x 325 : 350). Diesen
Anspruch hat die Beklagte erfüllt, da sie der Klägerin eine Ruhestandszuwendung iHv.
12.173,74 Euro gezahlt hat.
39 III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Gräfl
Schlewing
Ahrendt
Silke Nötzel
Blömeke