Urteil des BAG vom 08.11.2007

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BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 8.11.2007, 2 AZR 528/06
Verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung - Präklusion
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Sachsen-Anhalt vom 22. Februar 2006 - 5 Sa 668/05 - wird auf Kosten der
Beklagten zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten auf Gründe im Verhalten des
Klägers gestützten außerordentlichen Kündigung.
2 Der 1962 geborene Kläger trat im Jahre 1987 als Angestellter in die Dienste der
Rechtsvorgängerin der Beklagten. Auf Grund einer tarifvertraglichen Regelung ist gegenüber dem
Kläger die ordentliche Kündigung ausgeschlossen.
3 Mit Schreiben vom 12. Mai 2004 hatte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich und
fristlos, hilfsweise zum 31. Dezember 2004 gekündigt. Zur Begründung hatte sie vorgetragen, vom
Computer des Klägers seien in der Zeit vom 16. April bis zum 29. April 2004 insgesamt 313
Minuten lang Internetseiten mit überwiegend pornografischem Inhalt aufgerufen worden. Das
Arbeitsgericht hatte der vom Kläger erhobenen Kündigungsschutzklage durch Urteil vom
29. September 2004 stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hatte die Berufung der Beklagten
durch Urteil vom 12. April 2005 (- 11 Sa 752/04 -) zurückgewiesen und zur Begründung
ausgeführt, es liege zwar ein wichtiger Grund an sich vor, die Wirksamkeit der fristlosen
Kündigung scheitere aber daran, dass die Beklagte den Kläger nicht abgemahnt habe und auch
abgesehen davon die Interessenabwägung zu Gunsten des Klägers ausgehe. Was die hilfsweise
mit Auslauffrist ausgesprochene Kündigung betreffe, so neige das Gericht zwar zur Annahme,
dass ein wichtiger Grund - einschließlich der Interessenabwägung - gegeben sei, die Kündigung
sei aber wegen Verstoßes gegen personalvertretungsrechtliche Vorschriften unwirksam.
4 Im Prozess hatte der Kläger mit Schriftsätzen vom 7. September 2004 und vom 21. Februar 2005
(der Beklagten zugestellt am 2. März 2005) vorgetragen, er bestreite nicht den von der Beklagten
behaupteten Vorgang der Einwahl des Rechners ins Internet, wohl aber bestreite er, bewusst
Internetseiten mit pornografischem Inhalt aufgerufen zu haben. Die Seiten hätten sich vielmehr
selbständig geöffnet. Im Berufungstermin am 12. April 2005 erklärte der Kläger:
“Ich bleibe bei meinem Vorbringen, ich habe pornografische Internetseiten nicht aufgerufen.
Damit meine ich, dass ich diese Seiten nicht bewusst mit meinem Rechner angewählt habe.”
5 Das Landesarbeitsgericht hatte - entgegen dieser Erklärung des Klägers - zugunsten der
Beklagten unterstellt, der Kläger habe bewusst gehandelt.
6 Nach Anhörung des Personalrats kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis am 26. April 2005
erneut außerordentlich und fristlos mit der Begründung, der Kläger habe im Berufungstermin am
12. April 2005 die Unwahrheit gesagt und damit einen versuchten Prozessbetrug begangen.
7 Der Kläger hat geltend gemacht, die Kündigung vom 26. April 2005 sei unwirksam. Die Beklagte
habe die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB versäumt. Einen versuchten
Prozessbetrug habe er nicht begangen. Seine Erklärung vom 12. April 2005 habe den Ausgang
des Vorprozesses nicht beeinflusst und im Übrigen der Wahrnehmung berechtigter Interessen
gedient.
8 Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die
außerordentliche Kündigung vom 26. April 2005 nicht aufgelöst wird, sondern zu
unveränderten Bedingungen fortbesteht,
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu den bisherigen Bedingungen als
Sachbearbeiter Rechtsprüfung/Hilfsmittel in der Vergütungsgruppe 6 BAT/AOK-O bis
zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens weiter zu
beschäftigen.
9 Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
10 Die Beklagte hat geltend gemacht, im fraglichen Zeitraum habe der Kläger von seinem Rechner
insgesamt 313 Minuten Seiten mit pornografischem Inhalt bewusst und gewollt aufgerufen. Ein
technischer Defekt sei auszuschließen, ebenso ein zufälliges Einwählen. Damit habe der Kläger
am 12. April 2005 zumindest einen versuchten Prozessbetrug begangen. Die Zweiwochenfrist des
§ 626 Abs. 2 BGB sei gewahrt.
11 Das Arbeitsgericht hat nach den Klageanträgen erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die
Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen
Revision begehrt die Beklagte weiterhin Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
12 Die Revision ist unbegründet.
13 A. Das Landesarbeitsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt: Es könne zu Gunsten der Beklagten
unterstellt werden, dass die vom Kläger im Berufungstermin vom 12. April 2005 abgegebene
Erklärung inhaltlich unzutreffend gewesen sei. Sie habe sich im Rahmen der Wahrnehmung
berechtigter Interessen gehalten und sei jedenfalls objektiv ungeeignet gewesen, den Ausgang des
Vorprozesses zu beeinflussen, weil es nach dem seinerzeitigen Urteil des Landesarbeitsgerichts
auf die Wahrheit oder Unwahrheit der Erklärung gar nicht angekommen sei.
14 B. Dem stimmt der Senat im Ergebnis zu.
15 I. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht seine Entscheidung nicht auf eine Versäumung der
Kündigungserklärungsfrist gestützt. Das Fehlverhalten des Klägers vollzog sich in mehreren
Akten, dessen letzter am 12. April 2005 stattfand. Da die Kündigung dem Kläger am 26. April 2005
zuging, ist die Frist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt.
16 II. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, es fehle an einem wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1
BGB, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
17 1. Auch ein zu Lasten des Arbeitgebers begangener versuchter Prozessbetrug ist ein
Vermögensdelikt und kann einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB bilden (vgl. LAG Baden-
Württemberg 25. Mai 2007 - 7 Sa 103/06 -) . Ebenso können falsche Erklärungen, die in einem
Prozess abgegeben werden, an sich geeignet sein, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen (für
den Fall einer falschen eidesstattlichen Versicherung: Senat 24. November 2005 - 2 ABR 55/04 -
AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 55 = EzA BetrVG 2001 § 103 Nr. 5; 20. November 1987 - 2 AZR
266/87 - mit Verweis auf Senat 16. Oktober 1986 - 2 ABR 71/85 - BB 1987, 1952) . Dabei kommt
es letztlich auf die strafrechtliche Einordnung nicht entscheidend an, so dass die allerdings eher
zweifelhafte Frage, ob vorliegend die Voraussetzungen eines (untauglichen) Betrugsversuchs
gegeben sind, offenbleiben kann (vgl. zum Betrugsversuch: BGH 9. Juli 2003 - 5 StR 65/02 - NStZ
2003, 663 mwN) . Denn jedenfalls verletzt ein Arbeitnehmer vertragliche Nebenpflichten, nämlich
die dem Vertragspartner geschuldete Rücksichtnahme auf dessen Interessen (§ 241 Abs. 2 BGB
nF), wenn er im Rechtsstreit um eine Kündigung bewusst wahrheitswidrig vorträgt, weil er
befürchtet, mit wahrheitsgemäßen Angaben den Prozess nicht gewinnen zu können (vgl. Hess.
LAG 10. Mai 2004 - 16 Sa 1801/03 - LAGReport 2005, 120) .
18 a) Ob davon, wie das Landesarbeitsgericht offenbar meint, eine Ausnahme gemacht werden kann,
wenn der Betrugsversuch in hohem Maße untauglich war, mag dahinstehen, kann aber Zweifeln
unterliegen (vgl. zur strafrechtlichen Bewertung des untauglichen Versuchs: BGH 4. April 2006 -
3 StR 91/06 - NStZ 2007, 102) .
19 b) Ebenso dürfte im vorliegenden Fall kaum von “Wahrnehmung berechtigter Interessen”
gesprochen werden können. Immerhin handelt es sich bei dem Kündigungsvorwurf um einen
vorsätzlichen Verstoß gegen die prozessuale Wahrheitspflicht.
20 2. Der Klage muss indes schon deshalb Erfolg beschieden sein, weil der Beklagten die
Geltendmachung der erhobenen Kündigungsvorwürfe wegen der Rechtskraft des Urteils im
vorausgegangenen Kündigungsschutzprozess verwehrt ist.
21 a) Ist in einem Kündigungsrechtsstreit entschieden, dass das Arbeitsverhältnis durch eine
bestimmte Kündigung nicht aufgelöst worden ist, so kann der Arbeitgeber eine erneute Kündigung
nicht auf Kündigungsgründe stützen, die er schon zur Begründung der ersten Kündigung
vorgebracht hat und die in dem ersten Kündigungsschutzprozess materiell geprüft worden sind mit
dem Ergebnis, dass sie die Kündigung nicht rechtfertigen können. Der zweiten, rechtzeitig
erhobenen Klage ist ohne Weiteres stattzugeben. Das Urteil in dem ersten Prozess ist in der
Weise präjudiziell für das zweite Verfahren, dass eine erneute materielle - möglicherweise von
dem Ergebnis des ersten Prozesses abweichende - Nachprüfung des zur Stützung der ersten
Kündigung verbrauchten Kündigungsgrundes in dem zweiten Verfahren nicht erfolgen darf
(grundlegend: BAG 26. August 1993 - 2 AZR 159/93 - BAGE 74, 143; 7. März 1996 - 2 AZR
180/95 - AP KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 76 = EzA KSchG 1969 § 1
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 84; vgl. zuletzt BAG 12. Februar 2004 - 2 AZR 307/03 - AP
KSchG 1969 § 1 Nr. 75 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 129; 22. Mai 2003 -
2 AZR 485/02 - AP KSchG 1969 § 1 Nr. 71 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung
Nr. 127; KR-Friedrich 8. Aufl. § 4 KSchG Rn. 272; v. Hoyningen/Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 4
Rn. 139 ff.) .
22 b) Auch für das Verhältnis eines Verfahrens nach § 103 BetrVG zum etwa nachfolgenden
Kündigungsschutzprozess hat das Bundesarbeitsgericht eine vergleichbare, als Präklusion
bezeichnete Wirkung angenommen (vgl. 15. August 2002 - 2 AZR 214/01 - BAGE 102, 190).
Diese Wirkung (kritisch zur Terminologie: Deckers Die Präklusionswirkung rechtskräftiger
Entscheidungen im Kündigungsschutzprozeß Diss. Köln 1999 S 26 ff.) beruht letztlich auf dem
Bedürfnis, auch unabhängig vom Bestehen ausdrücklicher Präklusionsnormen und außerhalb des
vom reinen Wortlaut des § 322 Abs. 1 ZPO abgesteckten Rahmens “eine bestimmte, vom
objektiven Recht her gegebene (positive oder negative) Sinnbeziehung zwischen dem
rechtskräftig Festgestellten und der im neuen Prozess zu prüfenden Rechtsfolge zu wahren” (vgl.
Zeuner Die objektiven Grenzen der Rechtskraft im Rahmen rechtlicher Sinnzusammenhänge
Tübingen 1959 S 14). Unabhängig von Abgrenzungsfragen und terminologischen Unterschieden
im Einzelnen (vgl. Nottebom Rechtskrafterstreckung präjudizieller Entscheidungen im
arbeitsgerichtlichen Verfahren Diss. Frankfurt am Main 2001, 64 ff., 82 ff.; MünchKommZPO-
Gottwald § 322 Rn. 48 ff.; Stein/Jonas/Leipold ZPO 21. Aufl. § 322 Rn. 212) besteht weitgehend
Einigkeit, dass Grund und Grenzen der Bindungswirkungen danach zu bestimmen sind, ob der
nachfolgende Rechtsstreit “als inhaltliche Fortsetzung des rechtskräftig abgeschlossenen
Vorprozesses” erscheint (Nottebom aaO S. 87 unter Hinweis auf Zeuner aaO; vgl. zu ähnlichen
Fragen der Präklusion im Mietrecht: BGH 10. September 1997 - XII ZR 222/95 - NJW 1998, 374;
OLG Köln 4. Februar 2000 - 1 U 92/99 - ZMR 2000, 459; LG Hamburg 31. März 1978 - 11 S
27/78 - MDR 1978, 847; vgl. zum Ganzen auch: Kerstin Prange Materiell-rechtliche Sanktionen bei
Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht durch Zeugen und Parteien Diss. Berlin 1995).
23 3. Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Beklagte mit dem geltend gemachten
Kündigungsgrund präkludiert.
24 a) Die Beklagte wirft dem Kläger versuchten Prozessbetrug vor. Nach ihrer Behauptung hat der
Kläger wahrheitswidrig erklärt, er habe die pornografischen Dateien nicht bewusst geöffnet. Der
Vorwurf beinhaltet demnach die Behauptung, der Kläger habe die pornografischen Dateien
bewusst geöffnet. Ohne diesen Vorwurf ist, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend gesehen hat,
der jetzige Kündigungsvorwurf, die Erklärung im Berufungstermin vom 12. April 2005 sei falsch
gewesen und als versuchter Prozessbetrug zu werten, hinfällig. Die Behauptung, der Kläger habe
die pornografischen Dateien bewusst geöffnet, ist der Kern des jetzt erhobenen
Kündigungsvorwurfs. Die diesen Vorwurf bestreitende Erklärung des Klägers ist nur die -
negative - prozessuale Widerspiegelung dieses Vorwurfs. Ob der Vorwurf zutrifft, müsste also, da
der Kläger nach wie vor bestreitet, im vorliegenden Verfahren nachgeprüft werden. Genau dieser
Vorwurf ist aber von der Beklagten als Kündigungsgrund im Vorprozess vorgetragen worden und
durch Urteil des Landesarbeitsgerichts - die Richtigkeit des Vorwurfs unterstellend - rechtskräftig
als in der Sache nicht ausreichend angesehen worden. Eine Nachprüfung dieses Vorwurfs würde
dazu führen, dass ein Sachverhalt, von dem rechtskräftig feststeht, dass er keinen wichtigen
Grund zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses darstellte, nunmehr doch zur Begründung einer
Kündigung herangezogen würde.
25 b) Anders könnte es dann sein, wenn das rechtskräftige Urteil im Vorprozess auf einem vom
Kläger hervorgerufenen Irrtum des Landesarbeitsgerichts über die Sach- oder Rechtslage beruhen
würde. Selbst in solchen Fällen ist aber die Wertung der §§ 580, 581, 582 ZPO zu beachten,
welche die Rechtskraft auch solcher Urteile, die aufgrund falscher Aussagen zustande gekommen
sind, nur unter sehr engen Voraussetzungen und nur durch das besondere Verfahren der
Restitutionsklage zu beseitigen erlauben. Eine solche Klage ist, wenn sie auf Restitutionsgründe
nach § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO gestützt wird (zB Falschaussage eines Zeugen oder einer Partei), nur
zulässig, wenn deswegen eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer Straftat ergangen ist oder
wenn die Einleitung eines Strafverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis
nicht erfolgen kann. § 581 Abs. 1 ZPO bestimmt für diese Fälle eine Bedingung für eine
Fortsetzung des Prozesses in einem Wiederaufnahmeverfahren, die an eine Vorprüfung der als
Wiederaufnahmegrund behaupteten Straftat durch die dafür institutionell zuständigen Strafgerichte
und Staatsanwaltschaften anknüpft (BGH 12. Mai 2006 - V ZR 175/05 - MDR 2007, 234; BGH
21. November 1961 - VI ZR 246/60 - VersR 1962, 175) . Liegen die besonderen Voraussetzungen
der Restitutionsklage nicht vor, so ist ein Wiederaufnahmeverfahren aus diesen Gründen von
vornherein ausgeschlossen, und dem Zivilgericht ist eine eigene Beurteilung der Richtigkeit der
vorgetragenen Behauptungen versagt. Auch eine auf § 826 BGB gestützte Schadensersatzklage
hat in diesen Fällen keinen Erfolg (BGH 19. Juni 1964 - V ZR 37/63 - NJW 1964, 1672; Kerstin
Prange aaO S. 103 - 105).
26 III. Die Kosten der erfolglos bleibenden Revision fallen der Beklagten nach § 97 Abs. 1 ZPO zur
Last.
Rost
Eylert
Schmitz-Scholemann
Beckerle
Pitsch