Urteil des BAG vom 17.07.2012

Parallelentscheidung zum Urteil des Gerichts vom 17.07.2012, 1 AZR 563/11.

Siehe auch:
Urteil des 1. Senats vom 17.7.2012 - 1 AZR 563/11 -
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 17.7.2012, 1 AZR 566/11
Parallelentscheidung zum Urteil des Gerichts vom 17.07.2012, 1 AZR 563/11.
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Hamm vom 19. Mai 2011 - 8 Sa 41/11 - wird kostenpflichtig
zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über Annahmeverzugsansprüche während eines Arbeitskampfes.
2 Die nicht tarifgebundene Beklagte beschäftigt etwa 45 Arbeitnehmer. Ende März 2010
forderte die tarifzuständige Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) sie zur
Aufnahme von Tarifverhandlungen über den Abschluss eines Haustarifvertrags auf. Am
8. April 2010 wurde eine Tarifkommission gewählt und zeitgleich die Durchführung einer
Betriebsratswahl vorbereitet. Am Folgetag kündigte die Beklagte dem Kläger und weiteren
Mitgliedern der Tarifkommission ordentlich zum 30. Juni 2010 und stellte ihn von der Arbeit
frei. Am 12. April 2010 erteilte sie dem Kläger ein Hausverbot.
3 Der Bundesvorstand der IG BAU genehmigte am 12. April 2010 die Durchführung einer
Urabstimmung im Betrieb der Beklagten und die Durchführung von
Arbeitskampfmaßnahmen. Am folgenden Tag teilte sie der Beklagten mit, 95,5 % der
organisierten Beschäftigten hätten sich für einen Streik ausgesprochen. Sie forderte die
Beklagte deshalb auf, ihr bis 10:00 Uhr schriftlich mitzuteilen, dass sie Tarifgespräche
anbiete, ansonsten beginne um 10:01 Uhr ein unbefristeter Streik. Nachdem diese die
gesetzte Frist verstreichen ließ, rief die IG Bau die Belegschaft der Beklagten zum Streik
auf.
4 Mit Schreiben vom 22. April 2010, das dem Kläger am 24. April 2010 zuging, kündigte die
Beklagte dem Kläger sowie weiteren Arbeitnehmern fristlos. Die hiergegen sowie gegen die
zuvor erklärte ordentliche Kündigung gerichteten Kündigungsschutzklagen hatten, ebenso
wie die der anderen gekündigten Beschäftigten Erfolg. Das Arbeitsgericht stellte durch
Urteil vom 14. Juli 2010 die Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen fest. Der Streik wurde
daraufhin - ohne Tarifabschluss - beendet.
5 Mit seiner Klage hat der Kläger Annahmeverzugsvergütung für die Zeit vom 25. April 2010
bis zum 15. Juli 2010 verlangt. Er hat gemeint, er habe sich nach der fristlosen Kündigung
nicht mehr rechtswirksam am Streik beteiligen, sondern nur noch mit den Streikenden
solidarisch erklären können. Er hätte allerdings auch dann gestreikt, wenn er nicht
außerordentlich gekündigt worden wäre.
6 Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4.806,98 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von
fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 479,70 Euro seit dem 1. Mai 2010,
auf 1.730,91 Euro seit dem 1. Juni 2010, auf 1.730,91 Euro seit dem 1. Juli 2010
sowie auf 865,46 Euro seit dem 1. August 2010 abzüglich durch die Bundesagentur
für Arbeit geleisteter 2.550,75 Euro zu zahlen.
7 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
8 Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen
Zahlungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zu
Recht zurückgewiesen.
10 I. Der Kläger hat nach § 615 Satz 1 iVm. § 611 Abs. 1 BGB keinen Anspruch gegen die
Beklagte auf Vergütung wegen Annahmeverzugs.
11 1. Aufgrund der rechtskräftig festgestellten Unwirksamkeit der gegenüber dem Kläger
erklärten Kündigungen steht fest, dass zwischen den Parteien im streitgegenständlichen
Zeitraum vom 25. April 2010 bis zum 15. Juli 2010 ein Arbeitsverhältnis bestand.
12 2. Die Beklagte kam durch den Ausspruch der unwirksamen außerordentlichen Kündigung
vom 22. April 2010 an sich in Annahmeverzug. Da in der Kündigung zugleich die
Erklärung der Beklagten lag, sie werde die Leistung nicht annehmen, bedurfte es keines
Angebots des Klägers, §§ 295, 296 Satz 1 BGB (st. Rspr., zuletzt BAG 16. Mai 2012 -
5 AZR 251/11 - Rn. 12, NZA 2012, 971).
13 3. Dem Anspruch auf Verzugslohn nach § 615 Satz 1 iVm. § 611 BGB steht jedoch
entgegen, dass der Kläger in der Zeit, für die er Annahmeverzugsvergütung verlangt, nicht
leistungswillig iSd. § 297 BGB war.
14 a) Nach dieser Bestimmung kommt der Arbeitgeber nicht in Annahmeverzug, wenn der
Arbeitnehmer außerstande ist, die Arbeitsleistung zu bewirken. Neben der (tatsächlichen
oder rechtlichen) Leistungsfähigkeit umfasst § 297 BGB auch die nicht ausdrücklich
genannte Leistungswilligkeit. Dies folgt schon daraus, dass ein leistungsunwilliger
Arbeitnehmer sich selbst außerstande setzt, die Arbeitsleistung zu bewirken. Die objektive
Leistungsfähigkeit und der subjektive Leistungswille sind von dem Leistungsangebot und
dessen Entbehrlichkeit unabhängige Voraussetzungen, die während des gesamten
Verzugszeitraums vorliegen müssen (BAG 22. Februar 2012 - 5 AZR 249/11 - Rn. 16,
NZA 2012, 858).
15 b) Danach war der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht leistungswillig. Nach
den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 559 Abs. 2 ZPO) hat er sich in der Zeit
vom 25. April 2010 bis zum 15. Juli 2010 an dem von der IG BAU geführten Streik beteiligt,
indem er sich ua. mit einer Streikweste als Streikposten vor dem Betrieb der Beklagten
aufgestellt hat. Er hat sich zudem durch die Veröffentlichung von Texten und
Redebeiträgen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Streik betätigt und hierdurch
seine fehlende Arbeitsbereitschaft unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Denn
Streik ist definitionsgemäß die kollektive Vorenthaltung der geschuldeten Arbeitsleistung,
um durch die daraus resultierenden wirtschaftlich schädlichen Folgen Druck auf die
Arbeitgeberseite dahin auszuüben, in eine gewünschte tarifvertragliche Regelung
einzuwilligen (BAG 26. Juli 2005 - 1 AZR 133/04 - zu II 2 b bb der Gründe, BAGE 115,
247). Wer streikt, ist deshalb nicht leistungswillig iSd. § 297 BGB.
16 4. Soweit der Kläger die Auffassung vertreten hat, er sei nach Ausspruch der
außerordentlichen Kündigung durch die Beklagte nicht mehr deren Arbeitnehmer
gewesen und habe deshalb nicht im Rechtssinne streiken können, verkennt er die Folgen
des aus seiner Sicht erfolgreichen Kündigungsschutzprozesses. Das Arbeitsverhältnis hat
nach der dort getroffenen Feststellung des Arbeitsgerichts durch die jeweiligen
Kündigungen nicht geendet, sondern im streitgegenständlichen Zeitraum fortbestanden.
Hätte dagegen - wie der Kläger meint - in der Zeit vom 25. April 2010 bis zum 15. Juli 2010
kein Arbeitsverhältnis bestanden, stünde ihm ohnehin kein Anspruch auf Verzugslohn zu,
da § 615 BGB nur den vertraglichen Vergütungsanspruch aufrechterhält (BAG 19. März
2008 - 5 AZR 429/07 - Rn. 13, BAGE 126, 198). Überdies hat ein der
Kündigungsschutzklage stattgebendes Urteil lediglich feststellende und nicht
rechtsgestaltende Wirkung (KR/Friedrich 9. Aufl. § 4 KSchG Rn. 17 mwN); es wird also
hierdurch nicht rückwirkend für die Zeit nach dem Kündigungstermin bis zur Rechtskraft
des Urteils im Kündigungsschutzprozess ein Arbeitsverhältnis geschaffen, sondern nur
dessen Fortbestehen festgestellt.
17 5. Aus der vom Kläger zur Begründung seiner Rechtsauffassung angeführten
Senatsentscheidung vom 26. Juli 2005 (- 1 AZR 133/04 - BAGE 115, 247) folgt kein
anderes Ergebnis. In jenem Fall hatte sich ein Arbeitnehmer, bevor er an einer
Streikkundgebung teilnahm, in zulässiger Weise aus dem betrieblichen
Zeiterfassungssystem abgemeldet. Dies führte dazu, dass für diese Zeitdauer dem
Arbeitszeitkonto auch keine Zeitgutschrift zugeführt wurde. Der Arbeitnehmer befand sich
daher während der Teilnahme an der Streikkundgebung in Freizeit und konnte deshalb
durch die Streikteilnahme keine Arbeitspflichten aufheben. Hier hat sich der Kläger nicht in
seiner Freizeit an einem Streik beteiligt, sondern zu einer Zeit, während derer er nach
objektiver Rechtslage zur Erbringung einer Arbeitsleistung verpflichtet gewesen wäre.
18 II. Die Versagung der Annahmeverzugsvergütung begegnet keinen
arbeitskampfrechtlichen Bedenken.
19 1. Die Koalitionsbetätigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) des einzelnen Arbeitnehmers wird
hierdurch nicht verletzt. Dieser kann durch tatsächlich gezeigte oder doch wenigstens
erklärte Solidarität den Druck eines Streiks verstärken, indem er diesem hierdurch
öffentliche Aufmerksamkeit verleiht (vgl. BAG 15. Januar 1991 - 1 AZR 178/90 - zu II 7 der
Gründe, BAGE 67, 50).
20 2. Entgegen der Auffassung des Klägers wird die Kampfparität nicht dadurch
beeinträchtigt, dass ein außerordentlich gekündigter und damit nicht beschäftigter
Arbeitnehmer keinen satzungsrechtlichen Anspruch gegenüber der kampfführenden
Gewerkschaft auf Streikbeihilfe hat, sondern nur eine geringere und zudem
zurückzuzahlende Solidaritätsunterstützung verlangen kann. Hierbei handelt es sich um
eine gewerkschaftsinterne Regelung, die für die Beurteilung der Kampfparität unerheblich
ist.
21 3. Schließlich führte es zu Wertungswidersprüchen, wenn der unwirksam gekündigte
Arbeitnehmer während der aktiven Streikteilnahme Annahmeverzugsvergütung verlangen
könnte, während seine nicht gekündigten, streikenden Kollegen keinen Entgeltanspruch
haben (dazu BAG 26. Juli 2005 - 1 AZR 133/04 - Rn. 13, BAGE 115, 247). Beide
Personengruppen befinden sich in der gleichen Situation, da sie nach objektiver
Rechtslage in einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis an einem Arbeitskampf
teilnehmen. Da der ungekündigte Arbeitnehmer durch die Teilnahme an einem Streik die
gegenseitigen Hauptpflichten aufhebt und deshalb für die Zeit der Streikteilnahme seinen
Vergütungsanspruch verliert, kann für den unwirksam gekündigten nichts anderes gelten.
Schmidt
Koch
Linck
Rath
Olaf Kunz