Urteil des BAG vom 22.05.2012

Parallelentscheidung zum Urteil des Gerichts vom 22.05.2012, 1 AZR 103/11.

Siehe auch:
Urteil des 1. Senats vom 22.5.2012 - 1 AZR 103/11 -
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 22.5.2012, 1 AZR 105/11
Parallelentscheidung zum Urteil des Gerichts vom 22.05.2012, 1 AZR 103/11.
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen
Landesarbeitsgerichts vom 16. September 2010 - 14 Sa 273/10 - wird auf
seine Kosten zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über eine Tariflohnerhöhung.
2 Der Kläger ist bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängern seit 1995 als Arbeitnehmer
beschäftigt. Die Beklagte ist OT-Mitglied im Verband der hessischen Metall- und
Elektrounternehmen; in ihren Betrieben sind Betriebsräte gebildet.
3 Nach dem zwischen der IG Metall und dem Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen
Hessen e.V. abgeschlossenen Tarifvertrag über Löhne, Gehälter und
Ausbildungsvergütungen vom 17. November 2008 (LTV 2008) erhöhte sich der Grundlohn
für die Zeit-, Akkord- und Prämienlohnarbeiter ab dem 1. Februar 2009 um 2,1 % und um
weitere 2,1 % ab dem 1. Mai 2009 (§ 2 Nr. 1 Buchst. a, b LTV 2008). § 5 LTV 2008 lautet:
„Verschiebbarkeit der Entgelterhöhung ab 1. Mai 2009
Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kann der Beginn der Tarifperiode gem. § 2
Ziff. 1 b) bzw. § 3 Ziff. 1 b) und § 8 Ziff. 1, 3. Abs. entsprechend der wirtschaftlichen
Lage des Betriebes vom 1. Mai 2009 längstens bis zum 1. Dezember 2009
verschoben werden. In diesem Fall gelten die Lohn- und Gehaltstabellen sowie die
Ausbildungsvergütungen vom 1. Februar 2009 bis zu dem in der
Betriebsvereinbarung festgelegten Termin weiter. ...“
4 Die Beklagte hatte Tariferhöhungen jedenfalls in der Vergangenheit an ihre Arbeitnehmer
weitergegeben. Ende April 2009 gab sie allerdings durch Aushang bekannt, dass
Entscheidungen über mögliche Erhöhungen der Löhne und Gehälter für das Jahr 2009 bis
Mitte/Ende Juni 2009 ausgesetzt werden. In einer Mitarbeiterinformation von Ende Juni
2009 kündigte sie an, aufgrund des gegenwärtigen schwierigen wirtschaftlichen
Gesamtumfeldes eine Entscheidung über die Lohnerhöhungen nicht vor Ende September
2009 treffen zu können.
5 Die Beklagte schloss mit ihrem Gesamtbetriebsrat am 9. November 2009 eine
Gesamtbetriebsvereinbarung zur Entgeltanpassung (GBV 2009) ab, wonach die zweite
Stufe der Gehaltserhöhung erst ab dem 1. Oktober 2009 wirksam werden sollte.
6 Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger die Zahlung der 2,1%igen Lohnerhöhung für die
Monate Mai bis September 2009 verlangt. Er hat gemeint, die Beklagte sei nach den
vertraglichen Vereinbarungen sowie aufgrund betrieblicher Übung zur Weitergabe der
tariflich vereinbarten Lohnerhöhungen verpflichtet. Durch die erst am 9. November 2009
abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung könne der Zeitpunkt der vorgesehenen
Lohnerhöhung nicht mehr verschoben werden.
7 Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 283,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 56,76 Euro seit dem
1. Juni 2009, 1. Juli 2009, 1. August 2009, 1. September 2009 und 1. Oktober 2009
zu zahlen.
8 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
9 Das Arbeitsgericht hat der Klage entsprochen, das Landesarbeitsgericht hat sie auf die
Berufung der Beklagten abgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger die
Wiederherstellung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht
abgewiesen. Ob der Kläger auch aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung oder
aufgrund betrieblicher Übung eine Lohnerhöhung entsprechend § 2 Nr. 1 b) LTV 2008
verlangen kann, bedarf keiner Entscheidung. Die GBV 2009 hat den Zeitpunkt für die
zweite Stufe der Tariferhöhung wirksam auf den 1. Oktober 2009 hinausgeschoben.
11 1. Nach § 5 Satz 1 LTV 2008 kann der Beginn der Tarifperiode für das Wirksamwerden der
zweiten Stufe der Lohnerhöhung entsprechend der wirtschaftlichen Lage des Betriebs
durch freiwillige Betriebsvereinbarung vom 1. Mai 2009 bis längstens zum 1. Dezember
2009 verschoben werden. Entgegen der Auffassung des Klägers konnte diese
Betriebsvereinbarung auch noch nach dem 1. Mai 2009 abgeschlossen werden. Dies
ergibt die Auslegung des LTV 2008.
12 a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags erfolgt nach den für die
Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut.
Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften.
Dabei ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen verfolgte
Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit dies in den tariflichen
Normen Niederschlag gefunden hat. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist
abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie die
Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags oder die praktische Tarifübung ohne Bindung an
eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu
wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch
brauchbaren Lösung führt (BAG 5. Juli 2011 - 1 AZR 868/09 - Rn. 14).
13 b) Eine Tariföffnungsklausel, die den Betriebsparteien die abweichende Ausgestaltung der
Tarifnormen durch eine nicht erzwingbare Betriebsvereinbarung ermöglicht, ist ohne
Hinzutreten besonderer Umstände dahingehend auszulegen, dass diese entsprechend
den für tarifliche Normen geltenden Grundsätzen auch rückwirkende Regelungen treffen
können. Ein solches Verständnis belässt den Betriebsparteien in zeitlicher Hinsicht den
ihnen durch eine Tariföffnungsklausel geschaffenen Freiraum. Wollen die
Tarifvertragsparteien diesen begrenzen, muss das im Tarifvertrag deutlich zum Ausdruck
kommen.
14 c) Anhaltspunkte dafür, dass der Abschluss der in § 5 Satz 1 LTV 2008 vorgesehenen
Betriebsvereinbarung nur bis zum 1. Mai 2009 erfolgen durfte, bestehen nicht.
15 aa) Die Tarifvertragsparteien haben den Zeitpunkt, bis zu dem die nach § 5 Satz 1 LTV
2008 mögliche freiwillige Betriebsvereinbarung abgeschlossen werden konnte, nicht
ausdrücklich bestimmt. Der Wortlaut der Tarifnorm rechtfertigt nicht die Annahme, die
betriebliche Regelung habe bis zum 1. Mai 2009 zustande gekommen sein müssen. In
zeitlicher Hinsicht bedeutet das Verb „verschieben“ ein Ereignis auf einen späteren
Zeitpunkt verlegen oder dafür einen späteren Zeitpunkt bestimmen. Das in § 5 Satz 1 LTV
2008 bezeichnete Ereignis war der Termin des Wirksamwerdens der zweiten Stufe der
Tariflohnerhöhung des Jahres 2009. Über den Zeitpunkt, bis zu dem die dafür
erforderliche Betriebsvereinbarung abgeschlossen sein musste, verhält sich die Tarifnorm
jedoch nicht.
16 bb) Auch der Regelungszweck von § 5 Satz 1 LTV 2008 spricht gegen eine
datumsmäßige Beschränkung der betrieblichen Regelungsbefugnis.
17 Mit der Möglichkeit, den Zeitpunkt für die zweite Stufe der Tariflohnerhöhung um bis zu
sieben Monate zu verschieben, sollte es den Betriebsparteien gestattet werden, den mit
der Tariflohnerhöhung verbundenen Personalkostenanstieg zu begrenzen. Dies setzt den
Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung (§ 88 BetrVG) voraus. Deren
Zustandekommen erfordert die Offenlegung der gegenwärtigen wirtschaftlichen
Verhältnisse durch den Arbeitgeber. Erst nach deren Kenntnis kann der Betriebsrat
sachgerecht beurteilen, ob er einer betrieblichen Regelung zustimmt, durch die der
Belegschaft für einen Zeitraum von bis zu sieben Monaten ein Teil der Tariflohnerhöhung
des Jahres 2009 vorenthalten wird. Die Tarifvertragsparteien konnten daher davon
ausgehen, dass die Betriebsparteien die nach § 5 Satz 1 LTV 2008 erforderliche
Betriebsvereinbarung erst abschließen, wenn sie die wirtschaftlichen Verhältnisse des
Betriebs im Zeitraum zwischen Mai und November 2009 einschätzen können. Dies spricht
gegen ein Verständnis der Tarifnorm, das einen Abschluss der Betriebsvereinbarung
bereits vor dem 1. Mai 2009 gebietet.
18 2. Das Hinausschieben der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung auf einen nach dem
1. Mai 2009 liegenden Zeitpunkt verstößt nicht gegen das für Tarifnormen geltende
rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.
19 a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts tragen tarifvertragliche
Regelungen auch während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten Vorbehalt ihrer
rückwirkenden Abänderbarkeit durch Tarifvertrag in sich. Dies gilt selbst für bereits
entstandene und fällig gewordene, aber noch nicht abgewickelte Ansprüche. Die
Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zu einem rückwirkenden Eingriff in ihr
Regelwerk ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Normunterworfenen
begrenzt. Insoweit gelten die gleichen Regeln wie nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (zB BVerfG 15. Oktober
1996 - 1 BvL 44, 48/92 - zu C III 2 a der Gründe, BVerfGE 95, 64). Ob und wann die
Tarifunterworfenen mit einer rückwirkenden Regelung rechnen müssen, ist eine Frage des
Einzelfalls (BAG 11. Oktober 2006 - 4 AZR 486/05 - Rn. 26, BAGE 119, 374). Dabei ist das
Vertrauen in den Bestand des tariflichen Anspruchs unabhängig davon schutzwürdig, ob
der Tarifvertrag für das Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der
Parteien gilt oder ob dessen Anwendung vertraglich vereinbart ist (BAG 17. Oktober 2007 -
4 AZR 812/06 - Rn. 26, AP BAT § 53 Nr. 9). In der Regel müssen Arbeitnehmer nicht
damit rechnen, dass in bereits entstandene Ansprüche eingegriffen wird, auch wenn sie
noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind. Etwas anderes gilt nur dann, wenn bereits vor
der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die
Tarifvertragsparteien diesen Anspruch zuungunsten der Arbeitnehmer ändern werden.
Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur Voraussetzung, dass der einzelne
Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend
und ausreichend ist vielmehr die Kenntnis der betroffenen Kreise (BAG 22. Oktober 2003 -
10 AZR 152/03 - zu II 3 a der Gründe, BAGE 108, 176).
20 b) Die Betriebsparteien haben in der GBV 2009 die zweite Stufe der Tariflohnerhöhung
wirksam bis zum 1. Oktober 2009 hinausgeschoben.
21 Der GBV 2009 kommt keine echte Rückwirkung zu. Sie greift nicht zulasten des Klägers in
einen bereits abgeschlossenen Tatbestand ein. Die Beklagte hatte die nach § 2 Nr. 1 b)
LTV 2008 entstandenen und fällig gewordenen Ansprüche bis zum Abschluss der
GBV 2009 noch nicht erfüllt. Der von den Betriebsparteien geregelte Lebenssachverhalt
war deshalb noch nicht abgewickelt. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist nicht
verletzt. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf die Weitergabe der zweiten Stufe
der Tariflohnerhöhung bereits ab dem 1. Mai 2009 war nicht entstanden. Der Kläger
musste nach den an die Belegschaft gerichteten Mitteilungen der Beklagten von Ende
April 2009 und dessen Bestätigung durch Schreiben vom Juni 2009 damit rechnen, dass
die Betriebsparteien von der in § 5 Satz 1 LTV 2008 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch
machen und den in § 2 Nr. 1 b) LTV 2008 bestimmten Zeitpunkt bis zum 1. Dezember
2009 hinausschieben. Dazu brauchte die Beklagte auch nicht ausdrücklich auf den
Abschluss der dazu notwendigen freiwilligen Betriebsvereinbarung hinweisen.
Schmidt
Linck
Koch
Wisskirchen
N. Schuster