Urteil des BAG vom 02.07.2008

BAG: Tarifliche Eingruppierung, Beschäftigungszeiten bei Betriebsübergang, vergütung, anerkennung, gewerkschaft, tarifvertrag, begriff, einreihung, konzern, wechsel

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 2.7.2008, 4 AZR 246/07
Tarifliche Eingruppierung - Beschäftigungszeiten bei Betriebsübergang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 12. Februar 2007 - 10 Sa 1869/06 - aufgehoben, soweit
es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom
24. August 2006 - 65 Ca 9760/06 - auch insoweit zurückgewiesen hat als die
Beklagte verurteilt worden war, an die Klägerin mehr als 1.426,05 Euro nebst
den darauf entfallenden Zinsen zu zahlen.
In diesem Umfang wird das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung der
Beklagten abgeändert und die Zahlungsklage abgewiesen.
2. Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beklagte zu 93 Prozent und
die Klägerin zu 7 Prozent zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch um die sich aus der Beschäftigungszeit der
Klägerin bei der Beklagten ergebende tarifliche Vergütung.
2 Die 62jährige Klägerin, die Mitglied der Gewerkschaft ver.di ist, wurde am 1. Januar 1994 von der
Rechtsvorgängerin der Beklagten als Stationshilfe mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von
22 Stunden eingestellt. Sie ist seitdem in dem Heim in der L in Berlin beschäftigt (“Residenz L”).
Zuletzt erhielt sie eine monatliche Bruttovergütung von 806,30 Euro. Die Beklagte übernahm die
Einrichtung durch einen Betriebsübergang im August 1998.
3 Am 24. September 2004 unterzeichneten die Pro Seniore Consulting und Conception für
Senioreneinrichtungen AG (Pro Seniore AG) und die Gewerkschaft ver.di verschiedene
Tarifverträge, nämlich den Manteltarifvertrag (MTV) mit den Anlagen A und B, den Tarifvertrag über
eine Zuwendung und den Vergütungstarifvertrag Nr. 1. Der betriebliche Geltungsbereich der
Tarifverträge wurde - in teilweise voneinander abweichenden Formulierungen - auf die in der
Anlage A zum MTV auf die im Einzelnen aufgeführten 21 zum Konzern der Pro Seniore AG
gehörenden Seniorenbetriebsgesellschaften mit insgesamt ebenfalls aufgeführten 96 “Residenzen”
(Einrichtungen) erstreckt. Die Beklagte ist in der Anlage A zum Manteltarifvertrag vom
24. September 2004 angeführt.
4 Auf Grund rechtskräftig gewordener Teilentscheidungen steht fest, dass die Klägerin nach der
VergGr. X der Anlage B - Beschäftigte in der Tätigkeit von gewerblichen Arbeitnehmern - zum MTV
zu vergüten ist.
5 Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Interesse - die Auffassung vertreten, dass auch
die Zeiten vor dem Betriebsübergang als tarifliche Betriebszugehörigkeitszeiten anzurechnen seien.
Daher berechne sich die ihr zustehende Vergütung nach einer Betriebszugehörigkeitsstufe in der
Vergütungstabelle, die den Zeitraum ab dem 1. Januar 1994 berücksichtige. Sie begehrt noch die
Zahlung der Differenz zwischen der erhaltenen Vergütung und der ihrer Ansicht nach zutreffenden
tariflichen Vergütung für die Monate von September 2005 bis einschließlich Mai 2006 in rechnerisch
unstreitiger Höhe.
6 Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.627,91 Euro brutto zuzüglich Zinsen iHv.
5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB gem. § 247 BGB seit dem 6. Mai
2006 zu zahlen.
7 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat zuletzt noch die Auffassung vertreten,
dass für die Bestimmung der Betriebszugehörigkeitsstufe nicht der Beginn des Arbeitsverhältnisses
maßgeblich sei, sondern nur die bei der Beklagten seit dem Betriebsübergang bestehende
Betriebszugehörigkeit.
8 Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der
Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision rügt die
Beklagte nach einer Teilrücknahme, mit der sie in der Sache die Verpflichtung zur Zahlung von
monatlich 964,75 Euro brutto anerkennt, nur noch die nach ihrer Ansicht fehlerhafte
Berücksichtigung der Beschäftigungsjahre der Klägerin vor dem Betriebsübergang im August 1998.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision der Beklagten ist im zuletzt noch aufrechterhaltenen Umfang begründet. Der Klägerin
steht keine höhere als die zuletzt von der Beklagten anerkannte Vergütung zu. Das
Landesarbeitsgericht hat die Beschäftigungsjahre der Klägerin vor dem Betriebsübergang bei der
Berechnung der tariflichen Betriebszugehörigkeitszeiten zu Unrecht berücksichtigt.
10 I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Auffassung zu dem in der Revision noch streitigen Teil des
umfassenden Rechtsstreites der Parteien damit begründet, dass bei der Einstufung der Klägerin in
der Betriebszugehörigkeitsstufe, die nach dem MTV neben der Vergütungsgruppe die der Klägerin
zustehende Vergütung bestimmt, auch die Jahre vor dem Betriebsübergang auf die Beklagte zu
berücksichtigen seien.
11 II. Dies ist rechtsfehlerhaft. Die Klägerin kann die Berücksichtigung der Beschäftigungsjahre vor
August 1998 nicht verlangen.
12 1. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der MTV kraft beiderseitiger Tarifbindung
Anwendung. Die Beklagte ist als tarifvertragsschließende Partei beim Abschluss des
Tarifvertrages von der Konzernmuttergesellschaft wirksam vertreten worden (vgl. dazu Senat
17. Oktober 2007 - 4 AZR 1005/06 - NZA 2008, 713, 715) . Die Klägerin ist Mitglied der
tarifschließenden Gewerkschaft ver.di.
13 2. Ferner hat das Landesarbeitsgericht rechtskräftig festgestellt, dass die Klägerin in der VergGr. X
der Anlage B zum MTV eingruppiert ist und die ihr zu zahlende Vergütung deshalb der
Vergütungstabelle zu dieser Vergütungsgruppe zu entnehmen ist. Dies wird in der Revision von
der Beklagten zuletzt nicht mehr angegriffen.
14 3. Die Revision der Beklagten ist begründet, soweit sie nur noch rügt, das Landesarbeitsgericht
gehe zu Unrecht davon aus, dass die Klägerin Vergütung nach Stufe 5 bzw. 6 der
Vergütungstabelle zur VergGr. X beanspruchen kann. Die bei der Rechtsvorgängerin der
Beklagten vor dem 1. August 1998 zurückgelegten Beschäftigungszeiten bleiben entgegen der
Auffassung des Landesarbeitsgerichts bei der Ermittlung der zutreffenden Stufe außer Betracht.
Das ergibt die Auslegung der maßgebenden Regelungen des Tarifvertrages.
15 a) Die Anlagen 1 und 2 zum VTV Nr. 1 weisen zu jeder Vergütungsgruppe eine in mehrere
“Stufen” gestaffelte Vergütung aus. Die hier maßgebende Vergütungstabelle der Angestellten
“West” ist in insgesamt 15 Stufen aufgeteilt, diejenige der Angestellten im “Pflegebereich West” in
neun Stufen usw. Zu der jeweiligen Zuordnung eines Arbeitnehmers zu einer Stufe enthält der
MTV folgende Regelung:
§ 11
Beschäftigungszeit
1. Beschäftigungszeit ist die Zeit, die der Arbeitnehmer nach vollendetem 18. Lebensjahr
bei demselben Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis verbracht hat.
2. Als Beschäftigungszeit im Sinne des Absatz 1 gilt auch der Wechsel eines
Arbeitnehmers innerhalb der im Geltungsbereich genannten Einrichtungen (Anlage A).
3. Eine Verpflichtung zur Anrechnung früherer Beschäftigungszeiten besteht nicht, wenn
der Arbeitnehmer auf eigenen Wunsch ausgeschieden ist und wieder eingestellt wird,
es sei denn, dass er
a) wegen Ableistung des Wehrdienstes oder eines ihn ersetzenden anderen
öffentlichen Dienstes,
b) wegen Elternzeit,
c) wegen Arbeitsunfall oder Krankheit,
d) wegen beruflicher Fortbildung
das Arbeitsverhältnis unterbrochen hat.
...
§ 12b
Grundvergütung
1. Von Beginn des Monats an, in dem ein Angestellter seine Tätigkeit bei der Pro Seniore
AG oder deren Tochtergesellschaften beginnt oder begonnen hat, erhält er die
Anfangsgrundvergütung (erste Stufe) seiner Vergütungsgruppe.
2. Die Einstufung erfolgt nach Beschäftigungsjahren. Beschäftigungszeiten bei anderen
Arbeitgebern können dabei angerechnet werden.
3. Nach je zwei Beschäftigungsjahren erhält der Angestellte bis zum Erreichen der
Endgrundvergütung (letzte Stufe) die Grundvergütung der nächsthöheren Stufe seiner
Vergütungsgruppe.
4. Wird der Angestellte höhergruppiert, erhält er vom Beginn des Monats an, in dem die
Höhergruppierung wirksam wird, in der Aufrückungsgruppe die Grundvergütung der
Stufe, in der er sich in der bisherigen Vergütungsgruppe befand.”
16 b) Die Anwendung dieser Regelungen führt mit Inkrafttreten des MTV zu der Einreihung der
Klägerin in die Stufe 4, da hierfür die Zeit seit dem Betriebsübergang im August 1998 maßgebend
ist. Davor liegende Beschäftigungszeiten bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten können nach
dem MTV nicht berücksichtigt werden.
17 aa) Die Auslegung eines Tarifvertrages durch das Berufungsgericht ist in der Revisionsinstanz in
vollem Umfang nachzuprüfen (st. Rspr., vgl. nur Senat 7. Juni 2006 - 4 AZR 316/05 - BAGE 118,
232, 237 mwN) .
18 bb) Danach schließt der Wortlaut des MTV Pro Seniore, der bei der Auslegung eines
Tarifvertrages als Normenwerk vorrangige Bedeutung hat, die Berücksichtigung von
Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern aus. Hierzu gehört auch die Rechtsvorgängerin
der Beklagten; dies hat der Senat für eine Parallelkonstellation hinsichtlich einer vergleichbaren
Konzerntochtergesellschaft und deren Rechtsvorgängerin am 17. Oktober 2007 (- 4 AZR
1005/06 - Rn. 51 bis 62, NZA 2008, 713, 718 f.) bereits entschieden. Hieran hält der Senat auch
nach erneuter Überprüfung fest.
19 (1) Der MTV weist drei verschiedene Arten von Beschäftigungszeiten aus, nämlich die
Beschäftigungszeiten bei demselben Arbeitgeber (§ 11 Ziff. 1 MTV), die Tätigkeit bei der Pro
Seniore AG oder deren Tochtergesellschaften (§ 12b Ziff. 1 MTV) - dem entspricht sinngemäß
“der Wechsel” eines Arbeitnehmers innerhalb der im Geltungsbereich genannten Einrichtungen
(§ 11 Ziff. 2 MTV) -, und Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern (§ 12b Ziff. 2 Satz 2
MTV).
20 (2) Die Einreihung in die Stufe der Vergütungsgruppe richtet sich entsprechend § 12b Ziff. 1 MTV
in der Grundregel nach der Dauer der Tätigkeit bei der Pro Seniore AG oder deren
Tochtergesellschaften. Damit haben die Tarifvertragsparteien zunächst nicht den Bestand eines
Arbeitsverhältnisses als solchen, sondern die Tätigkeit für einen bestimmten Arbeitgeber zum
Ausgangspunkt der Berechnung tariflich relevanter Beschäftigungszeiten gemacht. Dies wird
dadurch unterstrichen, dass der Begriff der Beschäftigungszeit im Sinne einer Legaldefinition für
diesen Tarifvertrag in § 11 Ziff. 1 MTV an “denselben Arbeitgeber” anknüpft.
21 Der Begriff “derselbe Arbeitgeber” umfasst eine identische (juristische oder natürliche) Person, hier
jeweils nur eine der in Anlage A aufgeführten Betriebsgesellschaften oder die Pro Seniore AG. Aus
dem Begriff selbst heraus ist eine Erstreckung auf andere juristische oder natürliche Personen
nicht möglich, wie sich darin zeigt, dass selbst für andere Konzern-Tochtergesellschaften der
Anlage A sowie für die Pro Seniore AG eine ausdrückliche Sonderregelung vereinbart wurde.
Nach § 11 Ziff. 2 MTV werden Beschäftigungszeiten, die nicht bei “demselben Arbeitgeber”, aber
bei einer anderen der in der Anlage A zum MTV genannten Betriebsgesellschaften verbracht
worden sind, den in § 11 Ziff. 1 MTV genannten Beschäftigungszeiten bei “demselben Arbeitgeber”
gleichgestellt.
22 (3) Die von der Klägerin bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten geleistete Dienstzeit ist bei der
Berechnung der Beschäftigungszeit für die tarifliche Einreihung in der Vergütungstabelle außer
Betracht zu lassen. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten ist ein anderer Arbeitgeber, und der
Wortlaut des MTV geht davon aus, dass Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern nicht
automatisch der Beschäftigungszeit bei dem aktuellen Arbeitgeber, hier: der Beklagten,
gleichzustellen sind. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten ist auch keine der in Anlage A zum
MTV genannten Betriebsgesellschaften, so dass auch eine Anrechnung nach § 11 Ziff. 2 MTV
ausscheidet.
23 cc) Die entgegengesetzte Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist unzutreffend.
24 (1) Dies gilt zunächst, soweit das Landesarbeitsgericht sich darauf beruft, dass der
Rechtsvorgänger und frühere Betriebsinhaber mit Rücksicht auf § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht
als “anderer Arbeitgeber” im Sinne des MTV anzusehen sei. Denn die Auslegung des MTV ergibt,
dass auch § 613a Abs. 1 BGB nicht zu einer Berücksichtigung der vor dem Betriebsübergang
absolvierten Beschäftigungszeiten führen kann.
25 (a) Bei der gemeinsamen Schaffung und Ausgestaltung von Normen, in denen Bestandteile der
Vergütung eines Arbeitnehmers geregelt werden, sind die Tarifvertragsparteien weitgehend frei. Es
ist ihnen insbesondere nicht verwehrt, bei der Festlegung von Kriterien für die Bemessung von
Vergütungsbestandteilen den in der Vergangenheit absolvierten Beschäftigungszeiten eines
Arbeitnehmers, die dieser unmittelbar bei seinem Arbeitgeber erbracht hat, größere Bedeutung
beizumessen als denjenigen, die er bei einem anderen Arbeitgeber erbracht hat, auch wenn das
Arbeitsverhältnis von dem anderen Arbeitgeber auf den aktuellen Arbeitgeber nach § 613a Abs. 1
BGB übergegangen ist. § 613a BGB gewährt Bestandsschutz. Die Vorschrift schützt die
Arbeitnehmer gegen den durch den Betriebsübergang bewirkten Verlust von Rechtspositionen, die
sie bei ihrem bisherigen Arbeitgeber gehabt haben. Soweit diese durch den Zeitraum der
bisherigen Beschäftigung beeinflusst sind, nehmen auch diese Beschäftigungszeiten an dem
durch § 613a BGB bewirkten Schutz teil.
26 (b) Dies gilt aber nur für solche Rechte, die bereits bei dem Veräußerer bestanden haben. Soweit
Rechte erst bei dem Erwerber begründet werden, die vorher nicht bestanden haben, ist der Schutz
für den Bestand einzelner Elemente des bisherigen Arbeitsverhältnisses nicht gewährleistet. Dies
gilt insbesondere, wenn die Rechte erst in einem Zeitraum nach Durchführung des
Betriebsübergangs begründet werden und vom Arbeitnehmer somit erst beim Betriebserwerber
erlangt werden können (MünchKommBGB/Müller-Glöge 4. Aufl. § 613a Rn. 98) . Das hat das
Bundesarbeitsgericht für die betriebliche Altersversorgung bereits entschieden (19. Dezember
2000 - 3 AZR 451/99 - BAGE 97, 1, 6, mwN; 19. April 2005 - 3 AZR 469/04 - AP BetrAVG § 1
Betriebsveräußerung Nr. 19 = EzA BetrAVG § 1b Nr. 3) . Es gilt jedoch auch für Leistungen, die
durch einen nach dem Betriebsübergang abgeschlossenen Tarifvertrag erstmals normiert werden.
Der Bestandsschutz der bisherigen Arbeitsbedingungen der Klägerin war dabei nicht nur in Bezug
auf den vorhergegangenen Betriebsübergang nach § 613a Abs. 1 BGB gewährleistet, sondern
auch über die Besitzstandsklausel in § 24 MTV. Den für die Erhöhung der bisherigen Vergütungen
und deren Berechnungsregeln bestehenden Spielraum der Tarifvertragsparteien haben die Pro
Seniore AG und die Gewerkschaft ver.di mit der neuen Vergütungsordnung im MTV und den dort
vereinbarten Anrechnungsregeln nicht überschritten (Senat 17. Oktober 2007 - 4 AZR 1005/06 -
NZA 2008, 713, 716) .
27 (2) Die Klägerin kann sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch nicht auf die
in § 12b Ziff. 2 Satz 2 MTV erwähnte Möglichkeit einer “Anerkennung” von Beschäftigungszeiten
bei einem anderen Arbeitgeber berufen.
28 (a) Das Landesarbeitsgericht ist im Sinne einer selbständig tragenden Zweitbegründung davon
ausgegangen, dass die Klägerin sich auch darauf stützen kann, dass die früheren
Beschäftigungszeiten bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten als von dieser anerkannt zu gelten
haben und deshalb bei der Bestimmung der Vergütungsstufe innerhalb der Tabelle zu
berücksichtigen sind. Das Gericht sei befugt, eine ersetzende Entscheidung zu treffen, weil die
Beklagte die Ausübung des ihr zustehenden Leistungsbestimmungsrechts verzögert habe oder
wenn man von einer negativen Entscheidung der Beklagten ausgehe, diese jedenfalls unbillig sei.
Insofern sei allein die Entscheidung für die Anerkennung der früheren Beschäftigungsjahre
ermessensfehlerfrei im Sinne von § 315 Abs. 3 Satz 2 1. Alt. BGB.
29 (b) Dies ist rechtsfehlerhaft. Die Ersetzung einer von der Beklagten nach Auffassung des
Landesarbeitsgerichts nicht getroffenen Anerkennungsentscheidung durch eine gerichtliche
Entscheidung nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB ist genauso wenig möglich wie die Korrektur einer
von der Beklagten getroffenen ablehnenden Entscheidung.
30 (aa) Es ist bereits sehr fraglich, ob der Tarifvertrag mit dieser Formulierung den Arbeitnehmern
einen subjektiven Anspruch darauf gewährt, dass Vorbeschäftigungszeiten, die nach der
differenzierten tariflichen Regelung nicht zu berücksichtigen sind, dennoch zu berücksichtigen
sind, oder ob es sich nicht lediglich um eine deklaratorische Angabe darüber handelt, dass dem
Arbeitgeber im Einzelfall freisteht, über die tariflichen Vorgaben hinaus auch Beschäftigungszeiten
zu berücksichtigen und sie bei der Bemessung des Tariflohns wirksam werden zu lassen. Dafür
spricht, dass die Tarifvertragsparteien mit der Anerkennungsmöglichkeit zwar in Erwägung
gezogen haben, dass es (weitere) andere Arbeitgeber geben kann, hinsichtlich derer sich die
Frage der Anrechnung von Beschäftigungszeiten mit tariflicher Relevanz stellen kann. Sie haben
aber diese Frage nur gestellt und nicht mit einer im Einzelnen bestimmten und zwingenden
Regelung beantwortet. Insbesondere ist weder ein Verfahren noch sind inhaltliche Kriterien für die
“Anerkennung” von Beschäftigungszeiten in diesem Sinne geregelt worden.
31 (bb) Eine gerichtliche Ermessensentscheidung nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB scheidet aber
vorliegend im Einzelfall schon deshalb aus, weil es dafür an den materiellrechtlichen
Voraussetzungen fehlt. Denn die Beklagte hat die Entscheidung der Nichtanrechnung getroffen
und diese ist auch nicht unbillig.
32 Dabei spielt es entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts keine Rolle, ob die Beklagte
den MTV für anwendbar gehalten hat oder nicht. Fest steht, dass nach dem Willen der Beklagten
die Beschäftigungszeiten der Klägerin bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten keine
Berücksichtigung bei der Berechnung der ihr zustehenden Vergütung finden sollten und sollen. Ob
diese Entscheidung unter Heranziehung der Kriterien billigen Ermessens und deren sorgfältiger
Abwägung getroffen worden ist oder ob sie auf der (konkret fehlsamen) Annahme der
Nichtanwendbarkeit des MTV beruht, spielt für die Frage ihrer Rechtmäßigkeit keine Rolle. Die
dadurch jedenfalls im Ergebnis durch die Beklagte vorgenommene “einseitige
Leistungsbestimmung” ist vom Gericht nicht auf ihr ordnungsgemäßes Zustandekommen zu
überprüfen, sondern auf ihre Billigkeit; es findet keine Verfahrenskontrolle, sondern eine
Ergebniskontrolle statt. Dem Gericht wäre deshalb eine eigene Ermessensentscheidung nach
§ 315 Abs. 3 Satz 2 2. Alt. BGB, wie sie das Landesarbeitsgericht vorgenommen hat, auch dann
verwehrt, wenn der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung von einer Nichtgeltung der
ermächtigenden Norm ausgegangen wäre oder die danach maßgebenden Kriterien nicht nur
falsch gewichtet, sondern gar nicht herangezogen hätte.
33 (cc) Die Entscheidung der Beklagten ist nicht unbillig. Wenn man überhaupt von einer
(Ermessens-)Bindung der Beklagten ausgehen will, entspricht die Entscheidung der
Nichtberücksichtigung im Ergebnis den tariflichen Wertungen. Die Gegenargumente des
Landesarbeitsgerichts dagegen widersprechen den erkennbaren Gewichtungen, die in dem von
den Tarifvertragsparteien gewählten Wortlaut der Tarifnormen zum Ausdruck kommen.
34 Die Tarifvertragsparteien haben - wie dargelegt - ein differenziertes System der Berücksichtigung
von Vorbeschäftigungszeiten für die Einstufung in der Vergütungstabelle vereinbart. Für die
Konstellation eines Betriebsübergangs haben die Tarifvertragsparteien des MTV eindeutig
festgelegt, dass die beim Rechtsvorgänger zurückgelegten Zeiten generell unberücksichtigt
bleiben sollen. Entscheidend ist danach allein die Beschäftigungszeit bei einem bestimmten
Arbeitgeber (§ 11 Ziff. 1, § 11 Ziff. 2, § 12b Ziff. 1 MTV), nicht in einem bestimmten Betrieb. Diese
allgemeine Wertung des Tarifvertrages schließt es aus, im Wege der gerichtlichen
Billigkeitsbestimmung den Arbeitgeber dazu zu zwingen, in einer genauso allgemeinen
gegenteiligen Wertung Beschäftigungszeiten bei einem Betriebsveräußerer anzuerkennen, wie es
das Landesarbeitsgericht im Streitfall ohne jeden Bezug auf eine konkrete Besonderheit des
Arbeitsverhältnisses getan hat.
35 (dd) Es kommt hinzu, dass das Landesarbeitsgericht nicht ein einziges Kriterium einbezogen oder
auch nur genannt hat, das gegen eine Anerkennung derartiger Beschäftigungszeiten spricht.
Hierzu hat die Beklagte in der Revision noch einmal darauf hingewiesen, dass mangels anderer
Bestimmungen im MTV alle sachlichen Gründe, insbesondere auch solche finanzieller und
arbeitsmarktpolitischer Art, vom Arbeitgeber herangezogen werden können. Dazu gehörte zB die
Möglichkeit, bei Fachkräftemangel gegenüber Konkurrenten bei Abwerbung von Pflegekräften
diesen marktgerechte Bedingungen anzubieten. Die Beklagte habe jedoch entschieden, derzeit
grundsätzlich keine Anerkennung anderweitiger als der tariflich vorgesehenen
Beschäftigungszeiten vorzunehmen.
36 Auf der anderen Seite hat das Landesarbeitsgericht Gesichtspunkte einbezogen, die an anderer
Stelle im MTV abschließend gewertet worden sind. So geht das Landesarbeitsgericht davon aus,
dass auch der Sinn und Zweck von Beschäftigungsstufen als Erfahrungsstufen für die
Anerkennung der früheren Zeiten spreche, insbesondere wenn auch bis zum Inkrafttreten des
MTV eine nach Beschäftigungsjahren gestaffelte Vergütungstabelle das Gehalt des Arbeitnehmers
bestimmt hatte. Gerade hinsichtlich der Beschäftigungsstufen aber haben die Parteien des MTV in
§ 24 eine ausdrückliche Übergangsregelung zur Besitzstandswahrung getroffen, wonach bei
einem nach Inkrafttreten des MTV niedrigeren Gesamteinkommen des tarifunterworfenen
Arbeitnehmers, dessen Vergütung vorher nach einer solchen Stufung erfolgte, diese bisherige
Stufung auch bei der Berechnung der Vergütung nach dem neuen MTV bestehen bleiben sollte.
Daraus ergibt sich, dass die Tarifvertragsparteien zunächst grundsätzlich davon ausgegangen
sind, dass eine solche Stufung gerade nicht erhalten bleiben sollte, und dass ferner für eine
bestimmte Konstellation, nämlich eine dadurch bewirkte Schlechterstellung als bisher, ein
konkreter Besitzstandsschutz eingreifen soll. Haben die Tarifvertragsparteien dies aber geregelt,
so scheidet es aus, eine Nichtberücksichtigung von Vorbeschäftigungszeiten, die diese
Regelungen wortgetreu exekutiert, als unbillig anzusehen und als allein rechtsfehlerfrei die gegen
den MTV erfolgte Anrechnung.
37 c) Daraus ergibt sich für den Streitzeitraum ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer
monatlichen Grundvergütung von 1.022,32 Euro, ein in der Höhe von der Vergütungsstufe
unabhängigen Anspruch auf einen Ortszuschlag von 575,03 Euro sowie auf eine allgemeine
Zulage in Höhe von 90,97 Euro. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin nur mit
22 Stunden wöchentlich beschäftigt ist und die Grundvergütung auf der Basis von
38,5 Wochenstunden nach Maßgabe von § 13 Abs. 2 MTV Pro Seniore zu berechnen ist, ergibt
sich daraus eine Gesamtvergütung von 964,75 Euro. Dem steht ein von der Beklagten gezahltes
Gehalt von monatlich 806,30 Euro gegenüber. Im neunmonatigen Streitzeitraum hat die Klägerin
daher einen Anspruch auf eine Vergütungsdifferenz von insgesamt 1.426,05 Euro brutto. Die
darüber hinausgehende Forderung der Klägerin ist unbegründet.
38 III. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind unter Berücksichtigung der Teilrücknahme der
Revision anteilig nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens in der Revision zu
verteilen, § 97 Abs. 1, § 92 Abs. 1, § 565, § 516 Abs. 3 Satz 1 ZPO. Gleiches gilt für die durch die
Revisionsentscheidung geänderten Entscheidungen der Vorinstanzen und deren danach neu zu
bewertenden Kostenverteilungen.
Bepler
Der Richter am
Bundesarbeitsgericht Dr.
Wolter ist wegen Eintritts
in den Ruhestand an der
Unterschrift gehindert.
Bepler
Creutzfeldt
v. Dassel
Dierßen