Urteil des BAG vom 13.03.2017

BAG (Wiedereinsetzung in den Vorigen Stand, ZPO, Eigenes Verschulden, Kläger, Vertretung der Partei, Partei, Berufungsfrist, Verschulden, Zustellung, Wiedereinsetzung)

Siehe auch:
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 18.7.2007, 5 AZR 848/06
Vorläufiges Berufsverbot eines Rechtsanwalts
Leitsätze
Das Verschulden eines Rechtsanwalts, dessen Zulassung zur Rechtsanwaltschaft mit sofortiger
Wirkung widerrufen worden ist, kann der von ihm vertretenen Partei nicht gem. § 85 Abs. 2 ZPO
zugerechnet werden.
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Düsseldorf vom 24. April 2006 - 14 Sa 57/06 - aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die
Kosten der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über restliche Vergütungsansprüche des Klägers und in diesem
Zusammenhang über die Zulässigkeit seiner Berufung.
2 Der Kläger war bis Januar 2005 bei der Beklagten angestellt. Mit seiner im Juni 2005 erhobenen
Klage fordert er restliche Vergütung für die Monate Januar bis Juni 2004 in Höhe von 9.543,96 Euro
nebst Zinsen. Das Arbeitsgericht hat die Klage am 7. November 2005 abgewiesen. Das Urteil
wurde dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers, Rechtsanwalt T, am 26. November
2005 zugestellt. Am 1. Dezember 2005 verfügte die Rechtsanwaltskammer Düsseldorf den
Widerruf der Zulassung von Rechtsanwalt T zur Rechtsanwaltschaft und ordnete im überwiegenden
öffentlichen Interesse die sofortige Vollziehung der Verfügung an. Gemäß den §§ 16, 155 BRAO
kam dem die Wirkung eines vorläufigen Berufsverbots zu. Rechtsanwalt T wurde nicht mehr tätig
und unterrichtete den Kläger weder über die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils noch über das
Berufsausübungsverbot.
3 Mit Schreiben vom 14. Dezember 2005 übersandte die Gerichtskasse Düsseldorf eine
Kostenrechnung an den Kläger. Dieser wandte sich daraufhin an seinen damaligen
Prozessbevollmächtigten, den er aber trotz wiederholter Versuche nicht erreichen konnte. Ein
Telefonanruf des Klägers am 17. Dezember 2005 auf der Geschäftsstelle des Arbeitsgerichts
ergab, dass am 7. November 2005 ein Urteil ergangen und dem Prozessbevollmächtigten am
26. November 2005 zugestellt worden sei. Von dem Inhalt des Urteils erfuhr der Kläger erst am
4. Januar 2006, nachdem er die Geschäftsstelle des Arbeitsgerichts am 22. Dezember 2005
telefonisch um Übersendung gebeten und die Geschäftsstelle das Urteil mit Schreiben vom
2. Januar 2006 übersandt hatte.
4 Am 18. Januar 2006 legten die jetzigen Prozessbevollmächtigten des Klägers Berufung beim
Landesarbeitsgericht ein und beantragten zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
wegen der Versäumung der Berufungsfrist.
5 Der Kläger hat eidesstattlich versichert, er sei davon ausgegangen, dass Rechtsanwalt T ihn, wie
anlässlich des Kammertermins am 7. November 2005 vereinbart, über die Zustellung des Urteils
unterrichten und im Falle der Klageabweisung Berufung einlegen werde.
6 Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers unter Zurückweisung des
Wiedereinsetzungsantrags als unzulässig verworfen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision
verfolgt der Kläger seinen Zahlungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
7 Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Die Berufung ist entgegen der
Auffassung des Landesarbeitsgerichts zulässig, da dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren ist. Eine Entscheidung in der
Sache selbst ist ausgeschlossen, denn es fehlt an tatsächlichen Feststellungen zu den geltend
gemachten Vergütungsansprüchen.
8 I. Die Berufung des Klägers ist zulässig.
9 1. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass der Kläger die Frist für die
Einlegung der Berufung versäumt hat.
10 a) Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG beträgt die Frist für die Einlegung der Berufung einen Monat.
Sie beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit
Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Das am 7. November 2005 verkündete Urteil des
Arbeitsgerichts ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 26. November 2005 in
vollständiger Form zugestellt worden. Die Wirksamkeit der Zustellung wird durch den
nachfolgenden Widerruf der Anwaltszulassung nebst Berufsausübungsverbot nicht infrage gestellt.
Die Berufungsfrist endete deshalb mit Ablauf des 27. Dezember 2005 (§ 222 Abs. 1 und 2 ZPO in
Verb. mit § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Die Berufung des Klägers ging erst am 18. Januar
2006 beim Landesarbeitsgericht ein.
11 b) Der Lauf der Berufungsfrist hat nicht am 1. Dezember 2005 gem. § 244 Abs. 1, § 249 Abs. 1
ZPO aufgehört. Das Verfahren ist nicht unterbrochen worden.
12 Der Rechtsanwalt wird zwar durch ein gegen ihn verhängtes Berufsausübungsverbot unfähig, die
Vertretung der Partei fortzuführen. Die Wirksamkeit von gleichwohl vorgenommenen anwaltlichen
Rechtshandlungen (§ 155 Abs. 5 BRAO) ändert daran nichts (BGH 29. März 1990 - III ZB 39/89 -
BGHZ 111, 104, 106; Hüßtege in Thomas/Putzo ZPO 28. Aufl. § 244 Rn. 12;
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 65. Aufl. § 244 Rn. 5, 9; Zöller/
Greger ZPO 26. Aufl. § 244 Rn. 3; Musielak/Stadler ZPO 5. Aufl. § 244 Rn. 3; Stein/Jonas/Roth
ZPO 22. Aufl. § 244 Rn. 7; Feuerich/Weyland BRAO 6. Aufl. § 155 Rn. 2) . Doch kann eine
Unterbrechung durch Anwaltsverlust nur in einem Anwaltsprozess (§ 244 Abs. 1, § 78 ZPO)
eintreten. Ein Anwaltsprozess lag nicht vor. Vor dem Arbeitsgericht besteht kein
Vertretungszwang (§ 11 Abs. 1 ArbGG). Das arbeitsgerichtliche Verfahren erster Instanz war am
1. Dezember 2005 noch nicht abgeschlossen, da das Urteil des Arbeitsgerichts zwar zugestellt
war, die Berufungsfrist aber noch lief und die Berufung noch nicht eingelegt war. Der Rechtszug
endet erst mit Einlegung des Rechtsmittels oder Eintritt der formellen Rechtskraft (BAG 18. März
1976 - 3 AZR 161/75 - BAGE 28, 46, 50 ff.; BGH 23. September 1976 - GmS OGB 1/76 - BAGE
28, 46, 53 f.; BGH 1. Februar 1995 - VIII ZB 53/94 - NJW 1995, 1095, 1096; Hüßtege in
Thomas/Putzo § 244 Rn. 4; Zöller/Greger § 244 Rn. 2; Musielak/Stadler § 244 Rn. 2;
Stein/Jonas/Roth § 244 Rn. 3) . Besteht Vertretungszwang lediglich im Berufungsverfahren, tritt
die Unterbrechung deshalb nur ein, wenn beim Wegfall des Anwalts bereits Berufung eingelegt
war. Es kommt nicht darauf an, ob der Rechtsanwalt schon als Prozessbevollmächtigter für die
Berufungsinstanz bestellt war (BGH 18. September 1991 - XII ZB 51/91 - FamRZ 1992, 48, 49;
Zöller/Greger § 244 Rn. 1) . Eine analoge Anwendung des § 244 ZPO auf den Parteiprozess
scheidet aus, weil die Partei anstelle des Anwalts selbst handeln kann. Das gilt auch, wenn der
nächste Schritt die Beauftragung eines postulationsfähigen Vertreters zwecks Einlegung der
Berufung oder die Berufungseinlegung selbst ist. Bei Fristversäumung ist die Partei dann auf die
Wiedereinsetzung nach den §§ 233 ff. ZPO angewiesen.
13 2. Das Landesarbeitsgericht hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht versagt.
14 a) Der Wiedereinsetzungsantrag ist statthaft (§§ 233, 517 ZPO) und auch im Übrigen zulässig.
Insbesondere hat der Kläger die Wiedereinsetzung am 18. Januar 2006 und damit innerhalb von
zwei Wochen ab der am 4. Januar 2006 erlangten Kenntnis von der Fristversäumung beantragt (§
234 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO) sowie die Förmlichkeiten des § 236 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO
eingehalten.
15 b) Der Wiedereinsetzungsantrag ist begründet. Den Kläger trifft an der Fristversäumung weder ein
eigenes Verschulden noch ist ihm ein fremdes Verschulden zuzurechnen (§ 233 ZPO).
16 aa) Das Landesarbeitsgericht hat ein Verschulden des prozessbevollmächtigten Rechtsanwalts T
angenommen, das gem. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden des Klägers gleichstehe. Dem
vermag der Senat nicht zu folgen.
17 § 85 Abs. 2 ZPO setzt eine wirksame Vollmacht oder die Genehmigung des vollmachtlosen
Handelns (§ 89 Abs. 2 ZPO) voraus (vgl. nur Hüßtege in Thomas/Putzo § 85 Rn. 9;
Stein/Jonas/Bork § 85 Rn. 12, jeweils mwN) . Ob der Verlust der Zulassung zur
Rechtsanwaltschaft die dem Rechtsanwalt erteilte Vollmacht entfallen lässt, ist umstritten (vgl.
BGH 26. Januar 2006 - III ZB 63/05 - BGHZ 166, 117, 123) . Der Bundesgerichtshof neigt dazu,
den Fortbestand der Prozessvollmacht zu verneinen. Es bestehe ein Bedürfnis, die Mandanten
vor ungeeigneten Rechtsvertretern zu schützen. Dementsprechend sei auch die zur Ausführung
einer nach dem Rechtsberatungsgesetz unzulässigen Rechtsbesorgung erteilte Vollmacht nichtig
(BGH 26. Januar 2006 - III ZB 63/05 - BGHZ 166, 117, 123 f. mwN) . Im Falle des wirksam
gewordenen Berufsausübungsverbots gilt Entsprechendes. Daran ändert § 155 Abs. 5 BRAO
nichts, der die Wirksamkeit verbotswidriger Handlungen bestimmt (vgl. Henssler/Prütting/Dittmann
BRAO 2. Aufl. § 155 Rn. 7; Feuerich/Weyland § 155 Rn. 9 ff.; Kleine-Cosack BRAO 4. Aufl. § 155
Rn. 3 f.) . Es handelt sich hierbei um eine Ausnahmebestimmung im Interesse der
Rechtssicherheit, derer es überhaupt nicht bedürfte, ginge das Gesetz vom Fortbestand der
Vollmacht aus. Dies folgt auch aus § 244 ZPO, der nach einhelliger Auffassung auf das
Berufsausübungsverbot Anwendung findet. Einer abschließenden Entscheidung dieser
Rechtsfrage bedarf es nicht, denn Rechtsanwalt T war seit dem 1. Dezember 2005 keine Person
mehr, deren Verschulden der Partei gem. § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet wird.
18 § 85 Abs. 2 ZPO ist eine nur für den Prozess geltende, auf dessen besonderen Verhältnissen und
Bedürfnissen beruhende Sondervorschrift. Sie soll gewährleisten, dass die Partei, die ihren
Rechtsstreit durch einen Vertreter führen lässt, in jeder Weise so behandelt wird, als wenn sie den
Prozess selbst geführt hätte. Der Umstand, dass der Partei gestattet ist, sich eines
Prozessbevollmächtigten zu bedienen, darf nicht das Prozessrisiko zu Lasten des Gegners
vergrößern. Das in Rede stehende Verschulden hat den Charakter eines Verschuldens gegen sich
selbst nach dem Maßstab der für die Prozessführung jeweils zu fordernden Sorgfalt (BGH 21. Mai
1951 - IV ZR 11/51 - BGHZ 2, 205, 206 f.; Stein/Jonas/Bork § 85 Rn. 8) .
19 Der Wegfall des prozessbevollmächtigten Rechtsanwalts auf Grund eines
Berufsausübungsverbots schließt danach den Tatbestand des § 85 Abs. 2 ZPO aus. Es geht nicht
um die von § 85 Abs. 2 ZPO umfassten Handlungen oder Unterlassungen hinsichtlich einer
ordnungsgemäßen Prozessführung. Vielmehr darf der Anwalt aus Gründen der Gefahrenabwehr
überhaupt nicht mehr für die Partei tätig werden (§ 155 Abs. 2 und 4 BRAO). Im Anwaltsprozess
wird die Partei durch die Unterbrechungswirkung der §§ 244, 249 ZPO geschützt, ohne dass es
auf die Gründe für den Wegfall des Anwalts ankommt. Eine Anwendung des § 85 Abs. 2 ZPO ist
damit nicht vereinbar. Im Parteiprozess gilt nichts anderes. Lediglich der Unterbrechung bedarf es
nicht, weil die Partei selbst handeln kann. Eine Zurechnung der Gründe für das
Berufsausübungsverbot (vgl. § 14, § 16 Abs. 1, 6 und 7 BRAO) würde den Rahmen des § 85
Abs. 2 ZPO sprengen und den Schutzzweck der §§ 244, 249 ZPO, 155, 156 Abs. 2 BRAO in sein
Gegenteil verkehren.
20 bb) Den Kläger trifft an der Versäumung der Berufungsfrist kein eigenes Verschulden.
21 Bis zum Erhalt der Gerichtskostenrechnung Mitte Dezember 2005 durfte der Kläger davon
ausgehen, dass Rechtsanwalt T ihn über die Zustellung eines Urteils unterrichten werde und dass
noch keine Berufungsfrist zu laufen begonnen habe.
22 Der Kläger handelte dann sachgerecht, indem er seinen Prozessbevollmächtigten zu erreichen
versuchte und sich an die Geschäftsstelle des Arbeitsgerichts wandte. Nachdem er am
17. Dezember 2005 von der drei Wochen zurückliegenden Zustellung eines Urteils an seinen
Prozessbevollmächtigten erfahren hatte, diesen aber nicht erreichen konnte, musste er auch in
Kenntnis der Kostenrechnung nicht sofort anderweitigen anwaltlichen Rechtsrat einholen. Ihm ist
nicht vorzuwerfen, dass er das Arbeitsgericht am 22. Dezember 2005 - und damit noch
unverzüglich - telefonisch zunächst um Übersendung des Urteils bat, um den Sachstand selbst
festzustellen. Der Kläger musste auch jetzt noch nicht davon ausgehen, dass die Klage insgesamt
abgewiesen worden war, die Berufungsfrist kurz vor ihrem Ablauf stand und er sich trotz der
Beauftragung eines Rechtsanwalts selbst um die rechtzeitige Berufungseinlegung zu kümmern
hatte. Schon angesichts der bevorstehenden Feiertage durfte er bis zum Eingang des Urteils am
4. Januar 2006 abwarten. Zu diesem Zeitpunkt war die Berufungsfrist bereits abgelaufen.
23 3. Im Übrigen bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung.
24 II. Der Senat kann über die zulässige Berufung des Klägers nicht selbst entscheiden, da das
Landesarbeitsgericht keine Feststellungen zum Sachverhältnis getroffen hat (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Müller-Glöge
Mikosch
Laux
R. Rehwald
Wolf