Urteil des BAG vom 13.03.2017

BAG (kündigung, kläger, abmahnung, verhalten, betriebsrat, arbeitnehmer, arbeitsverhältnis, bundespolizei, personalakte, arbeitgeber)

Siehe auch:
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 23.6.2009, 2 AZR 283/08
Abmahnung - Warnfunktion
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Niedersachsen vom 18. Dezember 2007 - 11 Sa 372/07 - wird auf Kosten der
Beklagten zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten auf verhaltensbedingte Gründe
gestützten ordentlichen Kündigung.
2 Der 1944 geborene Kläger trat 1965 in die Dienste der beklagten Presseagentur. Er war als
Fotograf, lange Zeit auch als Leiter eines Bildbüros beschäftigt.
3 Die Beklagte sprach gegenüber dem Kläger am 23. September 2004 eine Abmahnung aus, mit der
sie ihm vorwarf, ein Fernsehinterview gestört zu haben. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen
verurteilte die Beklagte zur Herausnahme dieser Abmahnung aus der Personalakte, weil der gegen
den Kläger erhobene Vorwurf nicht klar und bestimmt genug in der Abmahnung beschrieben sei
(4. September 2006 - 11 Sa 1318/05 -). Eine weitere Abmahnung sprach die Beklagte am
15. September 2005 aus, weil der Kläger sich bei einem Empfang der Stadt G gegenüber mehreren
Personen unangemessen geäußert habe. Die Beklagte wurde vom Landesarbeitsgericht
Niedersachsen rechtskräftig zur Herausnahme auch dieser Abmahnung aus der Personalakte
verurteilt (18. Dezember 2007 - 11 Sa 384/07 -).
4 Der hier streitigen Kündigung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 22. November 2005 war in
der Nähe des Bahnhofs H eine Lokomotive entgleist. Der Kläger suchte die Unfallstelle auf, um
Fotos zu machen. An dem auf freier Strecke gelegenen Unglücksort anwesende Polizisten
forderten den Kläger auf sich auszuweisen. Er gab sich mündlich als Fotojournalist zu erkennen,
zeigte seinen Presseausweis jedoch nicht vor. Die Polizisten forderten ihn daraufhin auf, den
Gleisbereich zu verlassen, was der Kläger auch tat. Seine Aufnahmen hatte er zu diesem Zeitpunkt
schon gemacht; sie wurden auch veröffentlicht. Mit E-Mail vom 28. Februar 2006 teilte die
Pressestelle des zuständigen Bundespolizeiamtes der Beklagten den Sachverhalt mit. Da der
Kläger den Ort zunächst nicht freiwillig verlassen habe, sei ein Platzverweis ausgesprochen
worden, dem er nachgekommen sei. Die E-Mail schließt mit dem Satz: „Mit Verlassen der
Unfallstelle war der Vorgang für uns erledigt.“
5 Mit Schreiben vom 23. März 2006 bat die Beklagte den Betriebsrat um Zustimmung zur
beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Klägers. Dabei teilte sie den Vorfall „Eisenbahnunglück“
mit, nicht jedoch den Abschlusssatz aus der E-Mail des Bundespolizeiamtes. Der Betriebsrat
erklärte am 27. März 2006 seine Zustimmung. Daraufhin sprach die Beklagte mit Schreiben vom
27. März 2006 die streitgegenständliche Kündigung aus.
6 Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört
worden, weil die Beklagte ihm den letzten Satz aus der E-Mail der Bundespolizei vorenthalten habe.
Er habe sich nicht vertragswidrig, sondern allenfalls ungebührlich verhalten. Das rechtfertige umso
weniger eine Kündigung, als er seit 1965 beschäftigt sei, in seinem Alter keine adäquate neue
Beschäftigung finden könne und wirksame Abmahnungen nicht ausgesprochen worden seien.
7 Der Kläger hat beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 27. März
2006, dem Kläger zugestellt am 30. März 2006, nicht beendet worden ist.
8 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, der Betriebsrat sei
ordnungsgemäß angehört worden. Durch sein Verhalten bei dem Eisenbahnunglück habe der
Kläger seine Vertragspflichten verletzt. Er sei auch zweimal einschlägig abgemahnt worden. Zwar
sei rechtskräftig festgestellt, dass die Abmahnungen vom 23. September 2004 und vom
15. September 2005 aus der Personalakte zu entfernen seien. Doch habe die Beklagte zweimal
wegen Verletzungen desselben Pflichtenkreises gegenüber dem Kläger Abmahnungen
ausgesprochen. Auch eine in ihrer Berechtigung bestrittene Abmahnung könne die erforderliche
Warnfunktion erfüllen.
9 Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung
der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt
die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision ist unbegründet. Die Kündigung der Beklagten hat das Arbeitsverhältnis der Parteien
nicht aufgelöst.
11 I. Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 KSchG, weil sie nicht durch Gründe iSd. § 1
Abs. 2 Satz 1 KSchG bedingt ist. Die von der Beklagten vorgetragenen Tatsachen rechtfertigen
nicht den Schluss, es lägen verhaltensbedingte Kündigungsgründe iSd. § 1 Abs. 2 KSchG vor.
12 1. Eine Kündigung aus Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers iSv. § 1 Abs. 2 KSchG ist sozial
gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten eine Vertragspflicht -
idR schuldhaft - erheblich verletzt, das Arbeitsverhältnis konkret beeinträchtigt wird, eine
zumutbare Möglichkeit anderer Beschäftigung nicht besteht und die Lösung des
Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und
angemessen erscheint (st. Rspr., vgl. Senat 13. Dezember 2007 - 2 AZR 818/06 - Rn. 37, AP
KSchG 1969 § 4 Nr. 64 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 82; 31. Mai 2007 - 2 AZR 200/06 - zu B II 1 der
Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 57 = EzA KSchG § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71).
13 a) Auch die schwerwiegende Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten, wie sie hier in Rede
steht, kann einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund darstellen und den Arbeitgeber im
Einzelfall sogar zur außerordentlichen Kündigung berechtigen (Senat 12. März 2009 - 2 ABR
24/08 -; 19. April 2007 - 2 AZR 78/06 - AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 77; 2. März 2006 -
2 AZR 53/05 - AP BGB § 626 Krankheit Nr. 14 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 16; BAG 15. Januar
1986 - 7 AZR 128/83 - AP BGB § 626 Nr. 93 = EzA BGB § 626 nF Nr. 100).
14 b) Für eine verhaltensbedingte Kündigung gilt das Prognoseprinzip. Der Zweck der Kündigung ist
nicht eine Sanktion für eine begangene Vertragspflichtverletzung, sondern die Vermeidung des
Risikos weiterer erheblicher Pflichtverletzungen. Die vergangene Pflichtverletzung muss sich
deshalb noch für die Zukunft belastend auswirken (st. Rspr., vgl. Senat 13. Dezember 2007 -
2 AZR 818/06 - Rn. 38, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 64 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 82; 31. Mai 2007 -
2 AZR 200/06 - zu B II 1 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 57 =
EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71). Eine negative Prognose liegt vor, wenn
aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung
geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde auch zukünftig den Arbeitsvertrag nach einer
Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen (Senat 13. Dezember
2007 - 2 AZR 818/06 - aaO). Deshalb setzt eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung
regelmäßig eine vorausgegangene einschlägige Abmahnung voraus. Diese dient der
Objektivierung der negativen Prognose. Liegt eine ordnungsgemäße Abmahnung vor und verletzt
der Arbeitnehmer erneut seine vertraglichen Pflichten, kann regelmäßig davon ausgegangen
werden, es werde auch zukünftig zu weiteren Vertragsstörungen kommen (Senat 13. Dezember
2007 - 2 AZR 818/06 - aaO). Außerdem ist die Abmahnung als milderes Mittel in Anwendung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. zum zivilrechtlichen Übermaßverbot: v. Hoyningen-
Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 1 Rn. 479; zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Eichenhofer NJW
2008, 2828) einer Kündigung vorzuziehen, wenn durch ihren Ausspruch das Ziel -
ordnungsgemäße Vertragserfüllung - erreicht werden kann (vgl. HaKo/Fiebig 3. Aufl. § 1 Rn. 312).
15 2. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass die vorstehend bezeichneten Voraussetzungen
nicht vollständig gegeben sind, ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
16 a) Gut nachvollziehbar ist die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass der Kläger mit seinem
Verhalten bei dem Eisenbahnunglück im November 2005 gegen seine dienstlichen Pflichten
verstoßen hat. Dass das an den Kläger gerichtete Verlangen der Polizeikräfte, er möge seinen
Presseausweis vorzeigen, rechtswidrig oder auch nur irgendwie unangemessen in der Sache oder
in der Form gewesen wäre, macht der Kläger selbst nicht geltend. Auch die Rechtmäßigkeit des
ihm gegenüber ausgesprochenen Platzverweises stellt der Kläger nicht in Abrede. Wenn die
Beklagte im Übrigen auf ein höfliches und korrektes Verhalten ihrer Bildberichterstatter Wert legt,
so steht dies im Einklang mit dem Pressekodex des deutschen Presserats.
17 b) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch, dass das Landesarbeitsgericht das Vorliegen
einer einschlägigen Abmahnung für erforderlich gehalten hat.
18 aa) Allerdings kann eine Abmahnung bei schweren Pflichtverletzungen entbehrlich sein. Bei einer
schweren Pflichtverletzung ist nämlich regelmäßig dem Arbeitnehmer die Rechtswidrigkeit seines
Handelns ohne Weiteres genauso erkennbar, wie der Umstand, dass eine Hinnahme des
Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist (st. Rspr., vgl. Senat 31. Mai
2007 - 2 AZR 200/06 - AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 57 = EzA KSchG
§ 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71; 12. Januar 2006 - 2 AZR 179/05 - AP KSchG 1969 § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 54 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 68).
19 bb) Ein solcher Fall lag jedoch nicht vor. Zum einen handelte es sich um eine vertragliche
Nebenpflicht. Das Arbeitsverhältnis als Austauschverhältnis war nicht beeinträchtigt: Der Kläger
hat seine Arbeit getan. Die Beklagte hat die Ergebnisse dieser Arbeit, im konkreten Fall die Bilder
vom Unfallort, nutzen können und auch tatsächlich genutzt. Zum andern ist die von der Revision
ins Feld geführte „grundsätzliche“ Eignung des Verhaltens zur Rufschädigung und langfristigen
Geschäftsbeeinträchtigung nicht ausreichend. Dass die Beziehung der Beklagten zur
Bundespolizei konkret Schaden genommen hätte, trägt die Beklagte selbst nicht vor. Dagegen
spricht auch der Schlusssatz der E-Mail vom 28. Februar 2006, nach dem der Vorgang für die
Bundespolizei erledigt war.
20 c) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die beiden Abmahnungen von 2004 und 2005 hätten
die Erfordernisse einer kündigungsrechtlich verwertbaren Abmahnung nicht erfüllt, ist im Ergebnis
nicht zu beanstanden.
21 aa) Ob eine Abmahnung ausnahmsweise auch dann die kündigungsrechtliche Warnfunktion
erfüllen kann, wenn sie in der Sache nicht gerechtfertigt ist, braucht der Senat nicht zu
entscheiden. Voraussetzung wäre jedenfalls, dass der Arbeitnehmer aus der unberechtigten
Abmahnung erkennen kann, welches Verhalten der Arbeitgeber erwartet und welches
Fehlverhalten er als so schwerwiegend ansieht, dass es ihm aus seiner Sicht Anlass zur
Beendigung des Arbeitsverhältnisses geben werde (KR/Fischermeier 8. Aufl. § 626 BGB Rn. 275;
Schunck NZA 1993, 828; LAG Köln 5. Februar 1999 - 11 Sa 565/98 - MDR 1999, 877; LAG
Nürnberg 16. Oktober 2007 - 7 Sa 233/07 - LAGE BGB 2002 § 626 Nr. 14).
22 bb) Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Die Abmahnung von September 2004
benennt bereits kein konkret als Pflichtverletzung abgrenzbares Geschehen. Die Abmahnung von
September 2005 beschreibt zwar den Tatsachenstoff, den die Beklagte als Vertragsverstoß
wertet, teilt aber den Inhalt der von der Beklagten als verletzt angesehenen Vertragspflicht nicht
hinreichend deutlich mit. Jedenfalls konnte der Kläger der Abmahnung nicht - anwendbar auf den
Kündigungssachverhalt - entnehmen, was er nach Meinung der Beklagen „tun und lassen“ sollte.
23 II. Ob, wie das Landesarbeitsgericht angedeutet hat, die Kündigung auch nach § 102 BetrVG
unwirksam war, weil die Beklagte dem Betriebsrat den Schlusssatz aus der E-Mail der
Bundespolizei vorenthalten hat, kann somit dahinstehen.
24 III. Die Kosten der erfolglos bleibenden Revision fallen der Beklagten nach § 97 Abs. 1 ZPO zur
Last.
Fischermeier
Berger
Schmitz-Scholemann
Söller
Löllgen