Urteil des ArbG Wuppertal vom 12.05.2005

ArbG Wuppertal (unwirksamkeit der kündigung, kündigung, sinn und zweck der norm, kläger, richtlinie, entlassung, eugh, ablauf der frist, auslegung, betriebsrat)

Arbeitsgericht Wuppertal, 5 Ca 506/05
Datum:
12.05.2005
Gericht:
Arbeitsgericht Wuppertal
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 Ca 506/05
Schlagworte:
.
Normen:
KSchG §§ 17, 18; Richtlinie 98/95/EG Art. 1-4
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
1. Auch nach der Vorabentscheidung des EuGH vom 27.1.2005 (Junk ./.
Kühnel) verbleibt es dabei, dass mit dem Begriff der Entlassung i.S.d. §§
17, 18 KSchG die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses und
nicht die Kündigung oder die Kündigungserklärung gemeint ist. Eine
fehlende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige oder eine erst
nach Zugang der Kündigung erfolgte Massenentlassungsanzeige führt
daher nicht zur materiell-rechtlichen Unwirksamkeit der Kündigung.
2. Eine der Richtlinie 98/95/EG entsprechende
gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der §§ 17, 18 KSchG ist
aufgrund ihres eindeutigen Wortlautes, aufgrund ihrer
Entstehungsgeschichte sowie aufgrund ihrer Systematik nicht möglich.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Streitwert: 12.900,00
T a t b e s t a n d :
1
Der 61jährige Kläger ist seit dem 17.9.1968 bei der Beklagten als Maschinenführer
beschäftigt. Er verdiente zuletzt ca. 4.300,00 brutto monatlich. Bei der Beklagten handelt
es sich um ein Unternehmen der F.-Gruppe, die in ihrem einzigen Betrieb in S. ca. 150
Mitarbeiter beschäftigt. Ein Betriebsrat ist gebildet.
2
Unter dem 20.12.2004 schloss die Beklagte in der Einigungsstelle unter dem Vorsitz
des Direktors des Arbeitsgerichts Köln, Herrn U., mit dem bei ihr gebildeten Betriebsrat
einen Interessenausgleich, der auch von der IG-Metall mit unterzeichnet wurde. Der
Interessenausgleich enthält unter anderem
3
folgende Regelungen:
4
II.
5
2.
6
Vor dem vorstehend geschilderten Hintergrund hat die Geschäftsleitung mit
Unterzeichnung dieses Interessenausgleichs die Entscheidung für eine
vollständige Schließung des Betriebes zum 31.5.2005 getroffen. Voraussetzung für
die Umsetzung der beschlossenen Betriebsschließung ist die von der
Geschäftsleitung festzustellende gesicherte Finanzierung und die Wirtschaftlichkeit
der Maßnahme gemäß Beschluss des Aufsichtsrates vom 2.12.2004.
7
Der Betriebsrat nimmt dies zur Kenntnis und sieht keine rechtliche Möglichkeit,
diese Entscheidung zu ändern.
8
III.
9
3.
10
Vorsorglich vereinbaren F., der Betriebsrat und die mitunterzeichnende
Gewerkschaft ausdrücklich, dass diejenigen Mitarbeiter, die ein ihnen
unterbreitetes Angebot auf Übertritt in die Transfergesellschaft nicht annehmen, mit
Ablauf der Frist zur Annahme dieses Angebots über keinen besonderen
Kündigungsschutz aus den oben genannten Vereinbarungen Standortsicherung
(Tarifvertrag vom 24.4.2002, BV vom 24.4.2002) mehr verfügen. Insoweit treten die
Regelungen zum Ausschluss von ordentlichen Kündigungen in den genannten
Vereinbarungen außer Kraft. F., Betriebsrat und die unterzeichnende Gewerkschaft
sind darüber einig, dass vorstehender Regelung zu Ziffer 3 Abs. 2 die Wirkungen
eines Tarifvertrages zukommen.
11
Ebenfalls am 20.12.2004 schlossen die Betriebsparteien einen Sozialplan. Nach
Vortrag der Beklagten steht dem Kläger hiernach eine Sozialplanabfindung von ca.
17.000,00 zu.
12
Ausweislich des Ergebnisprotokolls der Vorstandssitzung der
Konzernmuttergesellschaft F. AG vom 22.12.2004 fasste der Vorstand in seiner Sitzung
den in Nummer II Ziffer 2 des Interessenausgleichs erwähnten Beschluss zur
gesicherten Finanzierung und Wirtschaftlichkeit der Maßnahme.
13
Mit Anhörungsschreiben vom 20.1.2005 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten
Betriebsrat zu der beabsichtigten Kündigung des Klägers an. Wegen des zweiseitigen
Anhörungsschreibens, dem als Anlage eine Liste aller zu kündigenden Mitarbeiter mit
Geburtsdatum, Eintrittsdatum, Familienstand, Unterhaltsverpflichtungen,
Schwerbehinderung, Kündigungsfrist sowie Kündigungstermin beigefügt war, wird auf
Blatt 33 ff der Akte Bezug genommen.
14
Mit Schreiben vom 28.1.2005 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers
zum 31.8.2005.
15
Mit seiner am 4.2.2005 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger die
Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung, die er für sozial ungerechtfertigt hält.
16
Er bestreitet, dass allen Arbeitnehmern der Beklagten gekündigt worden sei. Einige
Mitarbeiter seien zudem in die F.-AG übernommen worden. Im Übrigen liege ein
Betriebsübergang vor, da in den Betriebsräumen der Beklagten die Tätigkeit fortgesetzt
werde. Es sei die Rede von einer Firma B., einer Firma E. sowie einer Firma B., die sich
ebenfalls mit der Herstellung von Autoteilen befassten. Kundenstamm und Maschinen
der Firma F. sollen übernommen worden sein.
17
Schließlich rügt der Kläger, dass die Beklagte nicht vor Ausspruch der Kündigung eine
entsprechende Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG bei der Agentur für Arbeit
vorgenommen habe.
18
Mit einem am 3.5.2005 und somit nach Schluss der mündlichen Verhandlung bei
Gericht eingegangenen Schriftsatz ergänzt der Kläger seine Ausführungen
dahingehend, dass die Firma E. in den Geschäftsräumen der Beklagten mit zum Teil
auch früheren Mitarbeitern der Beklagten Autoteile für die Firmen W., W. und Q.
herstelle. Nicht alle Produktionsmaschinen in S. seien entfernt worden.
19
Der Kläger beantragt,
20
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin bei der Beklagten durch die
Kündigung der Beklagten vom 28.1.2005 nicht aufgelöst ist.
21
Die Beklagte beantragt,
22
die Klage abzuweisen.
23
Die Beklagte trägt vor, dass wie in dem Interessenausgleich vereinbart der Betrieb zum
31.5.2005 stillgelegt werde und sämtlichen Arbeitnehmern gekündigt worden sei.
Soweit einzelne Aufträge fortgesetzt werden müssten, würden diese von verschiedenen
anderen Unternehmen, die sich zum Teil auch im Ausland befänden, in deren eigener
Betriebsstätte und Organisation abgearbeitet.
24
Im Hinblick auf das Fehlen der ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige trägt die
Beklagte vor, dass der Betriebsrat nicht erst vor der Entlassung, sondern konform mit der
Rechtsprechung EuGH zur Massenentlassung bereits vor Ausspruch der Kündigung
umfassend gemäß § 17 f KSchG einbezogen worden sei. Dies werde sogar urkundlich
belegt durch Ziffer V des Interessenausgleichs.
25
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
wechselseitigen Schriftsätze sowie auf den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.
26
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
27
Die Klage ist unbegründet.
28
I.
29
Das Arbeitsverhältnis der Parteien wird durch die wirksame, streitgegenständliche
Kündigung der Beklagten vom 28.1.2005 zum 31.8.2005 aufgelöst.
30
1.
31
Die Kündigung ist durch ein dringendes, betriebliches Erfordernis im Sinne des § 1 Abs.
2 KSchG, welches aufgrund der Größe des Betriebes und der Betriebszugehörigkeit des
Klägers unzweifelhaft auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet, sozial gerechtfertigt.
Der Arbeitsplatz des Klägers ist infolge der unternehmerischen Entscheidung der
Beklagten, den Betrieb in S. vollständig stillzulegen, ersatzlos entfallen. Entscheidet
sich ein Arbeitgeber, einen Betrieb stillzulegen, so handelt es sich hierbei um eine
Organisationsmaßnahme, die von den Arbeitsgerichten als Ausfluss der
unternehmerischen Betätigungsfreiheit des Artikels 12 Abs. 1 GG hinzunehmen ist und
nur auf Willkür überprüft werden kann. Die Maßnahme der Beklagten ist ohne weiteres
nachvollziehbar und die Entscheidung weder offensichtlich unsachlich, noch willkürlich.
32
Die Kammer hatte auch keinerlei Zweifel an der Ernsthaftigkeit des
Stilllegungsentschlusses der Beklagten. Der Stilllegungsentschluss ist in dem
Interessenausgleich vom 20.12.2004, der unter dem Vorsitz des
Einigungsstellenvorsitzenden, des Direktors des Arbeitsgerichts Köln, Herrn U.,
zustande gekommen ist, urkundlich belegt. Dass die Beklagte auch sämtlichen
Arbeitnehmern gekündigt hat, ist durch die zahlreichen beim Arbeitsgericht Wuppertal
anhängigen Kündigungsschutzverfahren gerichtsbekannt. Der Kläger konnte in der
mündlichen Verhandlung den Vortrag der Beklagten, dass bereits bis zur Freistellung
des Klägers wesentliche Teile der Maschinen abtransportiert worden seien, nicht
bestreiten.
33
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass für die Frage der Ernsthaftigkeit des
Stilllegungsentschlusses auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung abzustellen ist.
Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte am 28.1.2005 nicht entschlossen war, ihren
Betrieb in S. stillzulegen, waren für die Kammer nicht ersichtlich.
34
2.
35
Eine Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG war entbehrlich, da die Beklagte allen
Arbeitnehmern im Betrieb S., die nicht in die Transfergesellschaft gewechselt waren,
gekündigt hat bzw. entsprechende Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt
eingeleitet hat. Der Kläger hat keinen Mitarbeiter benennen können, der mit ihm
vergleichbar ist und der keine Kündigung erhalten hat.
36
3.
37
Die Kündigung ist auch nicht wegen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 b KSchG
unwirksam. Andere Arbeitsplätze in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb
des Unternehmens, auf denen der Kläger weiterbeschäftigt werden könnte, sind nicht
vorhanden. Gerichtsbekannt betreibt die Beklagte lediglich die Betriebsstätte in S..
Sofern der Kläger meint, man habe ihm eine Beschäftigung bei anderen Unternehmen
der F.-Gruppe anbieten müssen, so verkennt der Kläger, dass die Prüfung freier
Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1b zwar
unternehmensbezogen, nicht hingegen konzernbezogen zu erfolgen hat.
38
4.
39
Die Beklagte hat auch den bei ihr gebildeten Betriebsrat ordnungsgemäß im Sinne des
40
§ 102 BetrVG angehört. Der Kläger hat die Ordnungsgemäßheit der
Betriebsratsanhörung nach den Darlegungen der Beklagten auch nicht weiter bestritten.
5.
41
Der Kläger genoss auch keinen besonderen Kündigungsschutz nach dem
Firmentarifvertrag Vereinbarung Standortsicherung vom 24.4.2002 mehr. Die Beklagte
und die den Interessenausgleich mitunterzeichnende IG Metall haben vereinbart, dass
die dortigen Regelungen zum Ausschluss ordentlicher Kündigungen außer Kraft treten
und diese Vereinbarung die Wirkung eines Tarifvertrages hat. Somit haben die
ursprünglichen Tarifvertragsparteien die Regelungen über den Ausschluss von
ordentlichen, betriebsbedingten Kündigungen wirksam aufgehoben.
42
6.
43
Die Kündigung erfolgte auch nicht wegen des Betriebsüberganges und ist aus diesem
Grunde nicht nach § 613a Abs. 4 BGB unwirksam.
44
Der Kläger, den die Darlegungs- und Beweislast des Unwirksamkeitsgrundes des §
613a Abs. 4 BGB trifft, das Vorliegen eines Betriebsüberganges nicht hinreichend
substantiiert dargelegt. Da die Beklagte nicht vorgetragen hat, dass das
Betriebsgebäude abgerissen werden soll, ist es nicht ungewöhnlich und für die Frage
der Wirksamkeit der Kündigung unerheblich, dass in dem Betriebsgebäude nunmehr
andere Unternehmen produzieren. Ein Betriebsübergang würde voraussetzen, dass die
Firmen wesentliche materielle oder immaterielle Betriebsmittel der Beklagten
übernommen hätten. Dass die Maschinen der Beklagten aber im wesentlichen
abtransportiert wurden, konnte der Kläger nicht bestreiten und ist darüber hinaus durch
den übereinstimmenden Vortrag anderer Arbeitnehmer, wonach die Maschinen nach
Tschechien und Süddeutschland verbracht worden sind auch gerichtsbekannt. Auch für
die Behauptung, dass wesentliche Kundenbeziehungen der Beklagten durch die Firma
E. übernommen wurden, ist der Kläger beweisfällig geblieben. Seine Behauptungen
gehen ins Blaue hinein. Schließlich hat der Kläger auch nicht hinreichend substantiiert
dargelegt, dass wesentliche Teile der Hauptbelegschaft sofern man dies überhaupt bei
einem Produktionsbetrieb für einen Betriebsübergang ausreichen lässt übernommen
wurden. Der Kläger vermochte zum einen nicht vorzutragen wie viele der früheren
Mitarbeiter der Beklagten übernommen sein sollen, noch konnte er entsprechende
Namen benennen. Für eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bestand
daher keine Veranlassung.
45
Schließlich ist für die Frage der Wirksamkeit der Kündigung auch auf den Zeitpunkt
ihres Zuganges abzustellen. Findet sich erst nach Zugang der Kündigung ein Erwerber,
der den Betrieb fortführt, kann dies allenfalls einen Wiedereinstellungsanspruch
gegenüber dem Erwerber begründen (vgl. Elz, Der Wiedereinstellungsanspruch des
Arbeitnehmers nach Wegfall des Kündigungsgrundes, Köln 2002, S. 22 ff. mit weiteren
Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum).
46
7.
47
Die Kündigung ist schließlich auch nicht wegen Verstoßes gegen §§ 17, 18 KSchG
unwirksam.
48
a.)
49
Für die Kammer steht in tatsächlicher Hinsicht fest, dass die Beklagte der ihr
obliegenden Anzeigepflicht nach § 17 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 KSchG jedenfalls nicht vor
Ausspruch der Kündigung am 28.1.2005 nachgekommen ist. Zwar trägt die Beklagte mit
Schriftsatz vom 18.4.2005 vor, dass der Interessenausgleich urkundlich belege, dass
der Betriebsrat bereits vor Ausspruch der Kündigung umfassend einbezogen wurde.
Aufgrund dieser Ausführungen kann jedoch allenfalls davon ausgegangen werden,
dass die Beklagte das vorgeschriebene Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat vor
Ausspruch der Kündigung durchgeführt hat. Zur Frage der Anzeige bei der Agentur für
Arbeit trägt die Beklagte hingegen trotz der ausdrücklichen Rüge der Klägerin nicht
weiter vor. Die Kammer musste daher davon ausgehen, dass der klägerische Vortrag
insoweit nicht bestritten wird.
50
b.)
51
Diese Tatsache führt allerdings nicht zur materiell-rechtlichen Unwirksamkeit der
Kündigung
52
Die ganz herrschende Meinung in der Literatur ging bislang im Einklang mit der
ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes davon aus, dass zum einen mit
dem Begriff Entlassung die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnis zu sehen ist
und zum anderen ein Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Anzeigepflicht nach § 17
KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führt, da § 18 Abs. 1 KSchG seinem
klaren Wortlaut nach nur die Wirksamkeit der anzeigepflichtigen Entlassung, nicht
hingegen die Wirksamkeit der Kündigung betrifft (vgl. BAG vom 18.9.2003, Az.: 2 AZR
79/02, DB 2004, 2817; BAG vom 24.10.1996, Az.: 2 AZR 895/95, BAGE 84, 267; BAG
vom 11.3.1999, 2 AZR 461/98, BAGE 91, 107; BAG vom 13.4.2000, Az.: 2 AZR 215/99,
AP Nr. 13 zu § 17 KSchG 1969; KR-Weigand, 7. Auflage 2004, § 17 KSchG, Randziffer
32 m.w.N.; Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 2. Auflage 2004, § 17 KSchG
Randziffer 26 m.w.N.).
53
An diesem Verständnis ist auch nach dem Urteil des EuGH vom 27.1.2005 (Rs. C-
188/03 Junk/Kühnel, NZA 2005, 213 ff.) festzuhalten.
54
Der EuGH hat auf den Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30.4.2003 (Az.:
36 Ca 19726/02, ZIP 2003, 1265) entschieden, dass die Artikel 2 bis 4 der Richtlinie
98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen dahingehend auszulegen seien, dass die
Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt und das
der Arbeitgeber Massenentlassungen erst nach Ende des Konsultationsverfahrens im
Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 98/59/EG und nach der Anzeige der beabsichtigen
Massenentlassung im Sinne der Artikel 3 und 4 der Richtlinie vornehmen darf (vgl.
EuGH a.a.O.).
55
Der EuGH hat sich in diesem Verfahren jedoch lediglich mit der Auslegung der
Richtlinie 98/59/EG und nicht mit der Auslegung der nationalen Vorschriften der §§ 17 ff
KSchG befasst. Gemäß Artikel 249 Abs. 3 EGV richten sich Richtlinien an die
Mitgliedsstaaten und haben daher grundsätzlich im Verhältnis von Privatrechtsubjekten
keine unmittelbare Wirkung. Dies wird auch durch Artikel 10 der Richtlinie 98/59/EG des
Rates vom 20.7.1998 bestätigt, wonach diese Richtlinie an die Mitgliedsstaaten
56
gerichtet ist. Auch der EuGH lehnt eine horizontale Direktwirkung zwischen Privaten ab
(vgl. EuGH v. 14.7.1994 Rs 91/92, Slg. 1994, 3325, 3355 f. Faccini Dori). Zwar haben
die nationalen Gerichte wegen des sich aus Artikel 10 EGV in Verbindung mit Artikel
249 Abs. 3 EGV ergebenden Gebote der richtlinienkonformen Auslegung das
innerstaatliche Recht möglichst so auszulegen, dass es mit der Richtlinie in Einklang
steht. Das nationale Gericht muss daher unter Berücksichtigung des gesamten
nationalen Rechts alles tun, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie zu gewährleisten
(vgl. EuGH vom 5.10.2004, Rs. 397/01, DB 2004, 2270; EuGH vom 27.6.2000, Rs.
240/98, DB 2000, 2056). Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich das
Umsetzungsgebot gemäß Art. 249 Abs. 3, Art. 10 Abs. 1 EGV an den Mitgliedstaat
richtet und dieser darüber entscheidet, welche innerstaatlichen Organe mit der
Umsetzung der Richtlinie beauftragt sind. In Deutschland ist das Gebot der
Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) zu beachten, so dass das nationale Recht durch
den Richter nicht contra legem mit dem Ziel interpretiert werden darf, den Anforderung
der Richtlinie Genüge zu tun (vgl. Canaris, FS Bydlinski, 2002, S. 91 ff.; Strick, in:
Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 2004, Vorb. EGV, Rn. 19). Ist das
nationale Recht nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen nicht im Sinne der Richtlinie
auslegungsfähig, bleibt das europarechtswidrige nationale Recht maßgebend (vgl. BAG
vom 18.2.2003, Az.: 1 ABR 2/02, DB 2003, 1387; BAG vom 18.9.2003, Az.: 2 AZR
79/02, DB 2004, 2817; Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445). Europarechtswidrige
Normen des deutschen Rechts können nicht unangewendet bleiben, da die Gerichte
keine Verwerfungskompetenz haben (vgl. Artikel 100 GG).
Ob die §§ 17, 18 KSchG richtlinienkonform im Sinne der Entscheidung des EuGH vom
27.1.2005 ausgelegt werden können, ist seit Verkündung des Urteils im nationalen
Schrifttum umstritten (gegen eine Auslegungsfähigkeit i.S.d. EuGH-Rechtsprechung:
ArbG Krefeld vom 14.4.2005, Az.: 1 Ca 3731/04; Ferme/Lipinski, ZIP 2005, 593;
Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445; Groeger, ArbRB 2005, 75; Grimm/Brock, EWiR
2005, 213; tendenziell ebenso Nicolei, NZA 2005, 206; a.A. hingegen: Dornbusch/Wolf,
BB 2005, 885; Wolter, AuR 2005, 135; Osnabrügge, NJW 2005, 1093). Die Kammer
schließt sich der zuerst zitierten Ansicht an.
57
Die Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung richten sich nach den
allgemeinen nationalen Auslegungsregeln. Die Auslegung hat sich in erster Linie an
Wortlaut, Sinn und Zweck sowie an dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers zu
orientieren. Die Auslegung darf insbesondere nicht den erkennbaren Willen des
Gesetzgebers verändern (vgl. BVerfG vom 11.4.2000, Az.: 1 BvL 2/00, AP Nr. 2 zu § 26
ArbGG 1979; BAG vom 6.11.2002, Az.: 5 AZR 617/01, AP Nr. 1 zu § 1a AEntG;
Ferme/Lipinski, ZIP 2005, 594).
58
Gegen die Auslegungsfähigkeit spricht bereits der Wortlaut der §§ 17, 18 KSchG in
Verbindung mit der Gesetzessystematik. Zwar weist Wolter (AuR 2005, 135) zutreffend
darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber auch in verschiedenen anderen Normen den
Begriff der Entlassung wählt, obgleich er hiermit an den Ausspruch der Kündigung
anknüpft. So finden nach § 90 Abs. 2 SGB IX die Vorschriften des Kapitels zum
Kündigungsschutz keine Anwendung bei Entlassungen , die aus Witterungsgründen
vorgenommen werden. Nach § 104 BetrVG kann der Betriebsrat vom Arbeitgeber die
Entlassung eines Arbeitnehmers verlangen. Ebenso stellt § 5 Abs. 3 Satz 1 BetrVG
darauf ab, ob der leitende Angestellte unter anderem zur Entlassung von Arbeitnehmern
berechtigt ist. Auch § 2 Abs. 2 Satz 2 ArbPlSchG benutzt den Begriff der Entlassung,
obgleich hiermit die Kündigungserklärung gemeint ist. Der Wortlaut ist jedoch in
59
Zusammenhang mit der gesetzlichen Entstehungsgeschichte zu sehen. So wird im
KSchG in den §§ 1 bis 16 durchgehend vom Begriff der Kündigung ausgegangen,
während lediglich in den §§ 17 ff der Begriff der Entlassung gewählt ist. Es ist aber nicht
erkennbar, aus welchem Grunde der Gesetzgeber innerhalb desselben Gesetzes in
verschiedenen Abschnitten des Gesetzes unterschiedliche Begrifflichkeiten verwenden
sollte (vgl. auch ArbG Krefeld vom 14.4.2005, a.a.O.), wenn er damit nicht zugleich auch
einen unterschiedlichen Regelungsgehalt beschreiben wollte. Dass der Gesetzgeber
den Begriff der Entlassung in seiner engeren, juristischen Bedeutung meint, ergibt sich
insbesondere aus § 18 Abs. 1 und Abs. 4 KSchG. Soweit es dort heißt Zeitpunkt zu dem
Entlassungen wirksam werden und Durchführung von Entlassungen wären diese
Normen mehr als ungewöhnlich formuliert, wenn es sich dabei um den Ausspruch der
Kündigungen handeln sollte (vgl. Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445, 446; a.A.
Osnabrügge, NJW 2005, 1093, der eine derartige Formulierung nicht für ungewöhnlich
hält).
Auch die Entstehungsgeschichte der Norm spricht dafür, dass der Begriff der Entlassung
nicht im Sinne der Kündigungserklärung ausgelegt werden kann. Der Begriff der
Entlassung geht auf eine nationale Rechtstradition zurück. Bereits in der
Stilllegungsverordnung vom 15.10.1923 (RGBl. S. 1901) gab es Vorschriften über
Massenentlassungen in Deutschland. Die Regelungen der StilllegungsVO wurde
abgelöst durch § 20 AOG. Auch das Kündigungsschutzgesetz von 1951 enthielt
entsprechende Regelungen. Mit dem 1. Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz vom
14.8.1969 (BGBl. I, 1106) hat der Gesetzgeber durch die Abänderung der Überschrift
Kündigungsschutz bei Massenentlassungen in Anzeigepflichtige Entlassungen
schließlich auch sprachlich dokumentiert, dass die Entlassung im Sinne der §§ 17, 18
KSchG gerade keinen Kündigungsschutz im Sinne der § 1 ff KSchG gewährleistet,
sondern nur einen anders gelagerten Schutz bietet, der nicht mit Kündigungsschutz
bezeichnet werden kann (vgl. ArbG Krefeld vom 14.4.2005, a.a.O.; a.A. Osnabrügge,
NJW 2005, 1093).
60
Zuletzt stehen auch Sinn und Zweck der Vorschrift einer richtlinienkonformen
Auslegung entgehen. Für die Interpretation des Begriffs der Entlassung als tatsächliche
Beendigung des Arbeitsverhältnisses spricht die primäre arbeitsmarktpolitische
Zielsetzung (vgl. LAG Hamburg vom 21.6.2002, 3 Sa 98/01; Ferme/Lipinski, ZIP 2005,
594). Die Agentur für Arbeit soll in die Lage versetzt werden, sich rechtzeitig auf zu
erwartende Entlassungen größeren Umfangs einstellen können. Bereits in der
Begründung zum Regierungsentwurf zum KSchG 1951 (abgedruckt: RdA 1951, 65) ging
der Gesetzgeber von einem derartigen Zweck der Massenentlassungsvorschriften aus.
Dem gegenüber gewähren die §§ 17 ff gerade keinen Individualschutz (vgl.
Ascheid/Preis/Schmidt 2. Auflage 2004, vor §§ 17 ff KSchG, Randnummer 22 m.w.N.;
Ferme/Lipinski, ZIP 2005, 593, 595). Auch die Richtlinie 98/59/EG selbst enthält
keinerlei eigene Sanktionen für den Arbeitgeber. Zwar sollen nach Artikel 6 der
Richtlinie die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass den Arbeitnehmervertretern und/oder
den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren durch Durchsetzung
der Verpflichtungen gemäß dieser Richtlinie zur Verfügung stehen. Insofern ist aber zum
einen zu berücksichtigen, dass auch nach bisherigem Verständnis des Begriffs der
Entlassung die unterlassene Anzeige für den Arbeitgeber nicht sanktionslos ist. Die
Entlassung kann nicht wirksam vollzogen werden und der Arbeitgeber bleibt verpflichtet
den Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen und ihn unter dem Gesichtspunkt des
Annahmeverzuges (§ 615 BGB) auch weiterhin zu vergüten. Zum anderen ist zu
berücksichtigen, dass neben den §§ 17 ff KSchG mit den §§ 111 ff BetrVG weitere
61
nationale Vorschriften gegeben sind, die die Arbeitnehmer in Umsetzung der Richtlinie
98/59/EG vom 20.7.1998 vor Massenentlassungen schützen. Auch die §§ 111 ff BetrVG
sehen bei Massenentlassungen Unterrichtungs- und Beratungspflichten des
Arbeitgebers vor. Mit der Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs hat der Gesetzgeber
auch ein entsprechendes Druckmittel geschaffen, um die Arbeitgeberseite zur
Einhaltung der §§ 111 ff BetrVG anzuhalten (vgl. Ferme/Lipinski, ZIP 2005, 593, 595;
ArbG Krefeld vom 14.4.2005, a.a.O.; Hennings, EWiR 2005, 69).
Die Argumente der Vertreter, die eine richtliniekonforme Auslegung der §§ 17, 18
KSchG im Sinne der Rechtsprechung des EuGH vom 27.1.2005 einfordern, vermögen
dem gegenüber nicht zu überzeugen. So befürworten insbesondere Dornbusch/Wolf
(BB 2005, 885), Wolter (AuR 2005, 135) und Osnabrügge (NJW 2005, 1093) eine
richtlinienkonforme Auslegung. Sie legen jedoch lediglich dar, dass der Wortlaut der §§
17, 18 KSchG einer richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegenstehe, ohne sich mit
den Grenzen der Auslegung, die sich aus Sinn und Zweck der Norm sowie aus der
Entstehungsgeschichte ergeben, auseinander zu setzen.
62
II.
63
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO. Den Streitwert
hat das Gericht gemäß §§ 61 Abs. 1, 42 Abs. 4 GKG im Urteil festgesetzt. Er gilt zugleich
als Wertfestsetzung für die Gerichtsgebühren im Sinne des § 63 Abs. 2 GKG.
64
Rechtsmittelbelehrung
65
Gegen dieses Urteil kann von der Partei
66
B e r u f u n g
67
eingelegt werden.
68
Für die Partei ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
69
Die Berufung muss
70
innerhalb einer N o t f r i s t* von einem Monat
71
beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Ludwig-Erhard-Allee 21, 40227 Düsseldorf, Fax:
(0211) 7770 - 2199 eingegangen sein.
72
Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils,
spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung. § 9 Abs. 5 ArbGG
bleibt unberührt.
73
Die Berufungsschrift muss von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen
Rechtsanwalt eingereicht werden; an seine Stelle können Vertreter einer Gewerkschaft
oder einer Vereinigung von Arbeitgebern oder von Zusammenschlüssen solcher
Verbände treten, wenn sie kraft Satzung oder Vollmacht zur Vertretung befugt sind und
der Zusammenschluss, der Verband oder deren Mitglieder Partei sind. Die gleiche
Befugnis haben Angestellte juristischer Personen, deren Anteile sämtlich im
wirtschaftlichen Eigentum einer der zuvor genannten Organisationen stehen, solange
74
die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung der
Mitglieder der Organisation entsprechend deren Satzung durchführt.
* Eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
75
Dr. Elz
76
Ausgefertigt:
77
Reg.-Angestellte als Urkundsbeamtin
78
der Geschäftsstelle
79