Urteil des ArbG Ulm vom 15.04.2014

ordentliche kündigung, zeitliche kongruenz, vergütung, arbeitsentgelt

ArbG Ulm Urteil vom 15.4.2014, 5 Ca 296/13
Bedarfszeitraum - berücksichtigungsfähiges Einkommen - SGB II - Vermögen -
Zuflussprinzip - § 115 SGB X
Leitsätze
1. Nicht rechtzeitig angefochtene Bewilligungs- oder Widerspruchsbescheide
bezüglich ALG II stellen für das mit der Entgeltstreitigkeit befasste Gericht die
Grundsicherungsleistungen bindend fest.
2. Nach dem im SGB II geltenden Zuflussprinzip ist der Bedarfszeitraum, in Bezug auf
den Hilfe zu berechnen und innerhalb dessen Einkommen zu berücksichtigen ist, der
jeweilige Kalendermonat. Dies gilt auch für Entgelt, das regelmäßig erst zum Ende
eines Monats zufließt; auch dieses Entgelt wird nicht dem Folgemonat, sondern dem
Monat zugerechnet, in welchem es tatsächlich gezahlt wurde. In einem auf die
tatsächliche Leistung folgenden Monat kann dieses Entgelt nach den Vorgaben des
SGB II nicht mehr als Entgelt angerechnet werden, sondern nur noch als Vermögen,
bei dem wiederum die sozialversicherungsrechtlichen Freibeträge zu berücksichtigen
sind.
3. Sind Entgeltzahlungen tatsächlich erfolgt, sind sie dem Monat zuzurechnen, in dem
die Zahlung erfolgte. Soweit Entgelt nicht gezahlt wurde, ist dieses dem Zeitraum
zuzurechnen, in welchem es - auf der Grundlage einer bestehenden Üblichkeit -
tatsächlich gezahlt worden wäre oder mangels einer bestehenden Üblichkeit hätte
gezahlt werden müssen.
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 3.445,00 nebst 5 % Zinsen über
dem Basiszinssatz hieraus seit dem 17.08.2012 zu zahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf EUR 3.445,00 festgesetzt.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1 Das klagende Jobcenter fordert von der Beklagten die Zahlung von insgesamt
EUR 3.445,00 (zzgl. Zinsen) aus gemäß § 115 SGB X übergegangenen
Entgeltansprüchen eines früheren Arbeitnehmers (L.) der Beklagten.
2 Zwischen der Beklagten und Herrn L. bestand ein Arbeitsverhältnis, das die
Beklagte mit Schreiben vom 10.06.2011 (Abl. 4) außerordentlich fristlos, hilfsweise
ordentlich fristgemäß, kündigte. Die Beklagte rechnete das Arbeitsverhältnis
ordnungsgemäß bis zu dem außerordentlichen Kündigungszeitpunkt ab und
zahlte Ende Juni 2011 an Herrn L. als anteiliges Entgelt für den Monat Juni EUR
862,56 netto. Als Entgelt für den Monat Mai 2011 hatte die Beklagte zuvor am
27.05.2011 an Herrn L. EUR 1.765,76 netto gezahlt.
3 Am 29.06.2011 stellte Herr L. bei der Klägerin einen Antrag auf sog.
Arbeitslosengeld II (Abl. 5), welches mit Bescheid vom 14.07.2011 bewilligt (Abl.
12) und für die Zeit vom 11.06.2011 bis zum Ablauf des 30.06.2011 in Höhe von
EUR 209,00 sowie ab dem Monat Juli 2011 in Höhe von monatlich EUR 809,00
jeweils zu Monatsanfang gezahlt wurde. Insgesamt erhielt Herr L. im Zeitraum vom
11.06.2011 bis zum 31.10.2011 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von EUR
3.445,00. Mit Schreiben vom 21.07.2011 (Abl. 16) erfolgte gegenüber der
Beklagten die Anzeige des Anspruchsübergangs gemäß § 115 SGB X.
4 Herr L., der gegen die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 10.06.2011
Kündigungsschutzklage erhoben hatte, einigte sich mit der Beklagten
dahingehend, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 10.06.2011 mit Ablauf des
31.12.2011 endet. Das Zustandekommen dieses Vergleichs wurde durch
gerichtlichen Beschluss vom 11.10.2011 (Abl. 3) festgestellt. Herr L. sollte gemäß
Nr. 2 dieses Vergleichs bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses von der Erbringung
seiner Arbeitsleistung unter Fortgewährung der vertragsgemäßen Vergütung
freigestellt bleiben. Die Beklagte zahlte auf der Grundlage dieses Vergleichs
jedenfalls das Entgelt für den Monat Oktober 2011 an Herrn L.. Die Entgeltzahlung
war gemäß § 614 BGB nach der Leistung der Dienste bzw. nach dem Ablauf der
einzelnen Zeitabschnitte zu erbringen.
5 Mit Schreiben vom 13.08.2012 (Abl. 17) forderte die Klägerin von der Beklagten
unter Bezugnahme auf die Überleitungsanzeige die Zahlung übergegangener
Lohnansprüche für den Zeitraum vom 01.06.2011 bis zum 31.10.2011. Die
Beklagte erklärte bereits mit Schriftsatz vom 07.08.2013 die Bereitschaft, sich auf
die Zahlung der Beträge vom 01.08.2011 bis 31.08.2011 und vom 01.09.2011 bis
zum 30.09.2011, mithin auf die Zahlung von EUR 1.618,00, zu einigen. Im
Kammertermin erklärte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten unter Verweis
auf einen Rechenfehler auf Beklagtenseite überdies die grundsätzliche
Bereitschaft der Beklagten, auch den Betrag für die Zeit vom 01.07.2011 bis zum
31.07.2011, mithin weitere EUR 809,00 und damit insgesamt EUR 2.427,00, zu
zahlen.
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Die Klägerin trägt vor bzw. ist der Ansicht
, Entgeltansprüche von Herrn L.
gegenüber der Beklagten seien für den Zeitraum vom 11.06.2011 bis
einschließlich zum 31.10.2011 in Höhe von insgesamt EUR 3.445,00 auf sie
übergangen.
7 Auch die von der Beklagten beanstandete Leistungsgewährung für den Monat
Juni 2011 sei rechtmäßig erfolgt. Der von Herrn L. am 29.06.2011 gestellte Antrag
auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wirke gemäß §37 Abs. 2 Satz
2 SGB II auf den Monatsersten zurück. Der für den Zeitraum vom 01.06.2011 bis
einschließlich zum 10.06.2011 ausbezahlte Nettoverdienst von EUR 862,56 sei als
Einkommen auf den Bedarf für den Lebensunterhalt angerechnet worden. Der
Arbeitsverdienst sei jedoch nach Maßgabe von § 11b Abs. 2 und Abs. 3 SGB II um
Einkommensfreibeträge zu bereinigen, so dass sich auch unter Berücksichtigung
des im Monat Juni von Herrn L. bezogenen Einkommens noch ein Bedarf für den
Lebensunterhalt in Höhe von EUR 209,00 ergeben habe. Im Übrigen liege auch für
den Monat Juni 2011 das Tatbestandsmerkmal der zeitlichen Kongruenz vor, weil
für die Zeit ab dem 11.06.2011 durch die Beklagte tatsächlich keine
Lohnzahlungen mehr erbracht worden seien. Zudem sei der Lebensunterhalt im
Juni 2011 auch durch die vorangegangene Lohnzahlung im Mai 2011 nicht
gedeckt. Denn laufende Einnahmen wie Arbeitsverdienst dürften nach § 11 Abs. 2
SGB II nur im Zuflussmonat als Einkommen berücksichtigt werden. Hiergegen
spreche auch nicht die von der Beklagten zitierte Entscheidung des BAG vom
26.05.1993, da das Zuflussprinzip im Bereich des ALG II erst durch § 11 Abs. 2
SGB II verankert worden sei und zum Zeitpunkt der BAG-Entscheidung die
maßgebenden Sozialhilferichtlinien explizit die vom BAG übernommene
Berücksichtigung von (ggf. nicht erfolgten) Zahlungen in einem Monat auf die
Bedürftigkeit im Folgemonat vorgesehen hätten.
8 Schließlich sei auch die Leistungsgewährung für den Monat Oktober 2011
rechtmäßig erfolgt. Die Leistungen der Grundsicherung seien zur Deckung des
Lebensunterhalts ab Monatsbeginn bestimmt und nach § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II
[wohl: § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II] regelmäßig monatlich im Voraus zu erbringen.
Zum Zeitpunkt der Hilfezahlung seien weder der gerichtliche Vergleich
abgeschlossen gewesen noch seien Lohnnachzahlungen erfolgt. Folglich sei die
ausbezahlte Leistung zum Lebensunterhalt an die Stelle des von Herrn L. zu
beanspruchenden Arbeitslohns getreten. Bis zur Höhe der gezahlten Leistungen
habe daher von der Beklagten aufgrund des Anspruchsübergangs auch keine
Lohnzahlung an Herrn L. mit schuldbefreiender Wirkung erfolgen können.
9
Die Klägerin beantragt:
10
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.445,00 EUR aus
übergegangenen Arbeitsentgeltansprüchen des Arbeitnehmers L. nebst 5 %
Zinsen hieraus seit dem 17.08.2012 gem. § 288 Abs. 1 BGB an das klagende
Jobcenter zu zahlen.
11
Die Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13 Nachdem die Beklagte schriftsätzlich zunächst noch vorgetragen hatte, es habe
für die Monate Juni, Juli und Oktober 2011 mangels zeitlicher Kongruenz kein
Anspruchsübergang nach § 115 SGB X stattgefunden,
trägt sie im
Kammertermin vom 15.04.2014 zuletzt noch vor bzw. ist zuletzt noch der
Ansicht
, Entgeltansprüche von Herrn L. für die Monate Juni und Oktober 2011
seien nicht auf die Klägerin nach § 115 SGB X übergegangen. Ein
Anspruchsübergang komme wegen des Erfordernisses der zeitlichen Kongruenz
nur für solche Monate in Betracht, in denen ein Arbeitgeber tatsächlich keine
Entgeltleistungen erbracht habe. Die Beklagte habe aber im Mai 2011 und im
Monat Juni 2011 Entgeltzahlungen an Herrn L. erbracht. Überdies führt die
Beklagte aus, Herr L. habe sein normales Arbeitsentgelt für Monat Oktober
erhalten. Dieses sei gemäß § 614 BGB nachträglich zu erbringen gewesen.
Aufgrund dieser Zahlungen sei Herr L. zudem in den Monaten Juni und Oktober
2011 nicht bedürftig gewesen in Sinne des SGB II, so dass ihm keine Leistungen
hätten gewährt werden dürfen. Im Übrigen ist die Beklagte der Ansicht, die Klägerin
habe es jederzeit in der Hand, den Bewilligungsbescheid vom 14.07.2011
aufzuheben und die gezahlten Beträge von Herrn L. zurück zu verlangen. Daher
müsse die Klägerin ihre gegenüber Herrn L. bestehenden
Rückzahlungsansprüche jedenfalls Zug um Zug gegen eventuelle Zahlungen der
Beklagten an die Beklagte abtreten.
14 Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der Akte,
namentlich auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, sowie auf den Inhalt
der mündlichen Verhandlungen verwiesen.
Entscheidungsgründe
15 Die zulässige Zahlungsklage ist begründet.
I.
16 Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG
eröffnet, da die Klägerin übergegangene Entgeltansprüche aus einem
Arbeitsverhältnis geltend macht. Die örtliche Zuständigkeit des angerufenen
Gerichts ergibt sich gemäß § 12, 17 ZPO i. V. m. § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG bereits
aus dem Sitz der Beklagten im Bezirk des Arbeitsgerichts Ulm.
II.
17 Die Klage ist vollumfänglich begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die
Beklagte auf Zahlung von EUR 3.445,00 zuzüglich 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 17.08.2012.
18
1.
Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von EUR
3.445,00 aus gemäß § 115 SGB X übergegangenen Entgeltansprüchen von Herrn
L.
19
a.
Gemäß § 115 SGB X geht der Anspruch eines Arbeitnehmers gegen seinen
Arbeitgeber auf den Sozialleistungsträger bis zur Höhe der erbrachten
Sozialleistungen über, soweit der Arbeitgeber den Anspruch des Arbeitnehmers
auf Arbeitsentgelt nicht erfüllt und deshalb ein Leistungsträger Sozialleistungen
erbracht hat. Der Anspruchsübergang nach § 115 SGB X setzt daher voraus, dass
der Arbeitgeber unberechtigterweise seiner Leistungspflicht nicht nachgekommen
und der Sozialleistungsträger berechtigterweise mit eigenen Leistungen
eingetreten ist. Voraussetzung für den Anspruchsübergang ist also eine
Kumulation von Ansprüchen in der Person des Leistungsempfängers derart, dass
für die Befriedigung eines identischen Interesses ein Sozialleistungsträger und ein
Arbeitgeber verpflichtet sind. Zweck der Vorschrift ist es vor diesem Hintergrund,
dem Sozialleistungsträger die Leistungen zurückzuerstatten, die nicht angefallen
wären, wenn der Arbeitgeber seiner Leistungspflicht rechtzeitig nachgekommen
wäre. § 115 SGB X verlangt somit eine zeitliche Kongruenz dergestalt, dass die
Sozialleistung tatsächlich an die Stelle des Arbeitsentgelts getreten ist.
20 Hiermit übereinstimmend beschreibt die aktuelle Rechtsprechung des BAG zum
Anspruchsübergang die im Rahmen von § 115 SGB X erforderliche Kausalität wie
folgt:
21 „Kausal für den Bezug von Arbeitslosengeld II und damit übergangsbegründend
kann nur solches Arbeitseinkommen sein, das im Falle pünktlicher Zahlung auf
die SGB II-Leistungen Anrechnung gefunden hätte“ (BAG 21.03.2012 – 5 AZR
61/11, NZA 2012, 729, 731).
22 Sind Entgeltzahlungen tatsächlich erfolgt, sind sie dem Monat zuzurechnen, in
dem die Zahlung erfolgte. Soweit Entgelt nicht gezahlt wurde, ist dieses dem
Zeitraum zuzurechnen, in welchem es – auf der Grundlage einer bestehenden
Üblichkeit – tatsächlich gezahlt worden wäre oder mangels einer bestehenden
Üblichkeit hätte gezahlt werden müssen (Maul-Sartori, BB 2010, 3021, 3024).
23
b.
Gemessen hieran sind die von der Klägerin im Zeitraum von Juni bis
einschließlich Oktober erbrachten Leistungen kongruent zu den ausgebliebenen
Entgeltzahlungen der Beklagten vom 11.06.2011 bis einschließlich Oktober 2011
und damit in (unstreitiger) Höhe der geleisteten Zahlungen gemäß § 115 SGB X
auf die Klägerin übergegangen. Die von der Klägerin jeweils im Voraus erbrachten
Leistungen wurden nur deswegen gezahlt, weil aufgrund der außerordentlichen
fristlosen Kündigung bereits zum Zeitpunkt der Leistungsgewährung jeweils
feststand, dass die Beklagte ihre – entsprechend der bisherigen Handhabung –
jeweils am Monatsende zu erwartenden Entgeltzahlungen nicht erbringen wird.
24
aa.
Ansprüche von Herrn L. gegen die Beklagte für den
Zeitraum vom
11.06.2011 bis einschließlich zum 30.06.2011
sind auf die Klägerin in Höhe der
erbrachten Leistungen von EUR 209,00 übergegangen. Die Beklagte hat an den
Kläger für den Zeitraum vom 11.06.2011 bis einschließlich zum 30.06.2011
unstreitig keine Entgeltzahlungen geleistet. Die Klägerin hat unstreitig für diesen
Zeitraum Leistungen an Herrn L. in Höhe von EUR 209,00 erbracht. Die Zahlung
der Klägerin ist damit tatsächlich an die Stelle der Entgeltzahlung durch die
Beklagte getreten. Die Nichtzahlung der Beklagten an Herrn L. für diesen
Zeitraum war kausal für die Leistung der Klägerin, da bei rechtzeitiger Leistung
der Beklagten die Klägerin nicht mit eigenen Leistungen eingetreten wäre.
25
(1)
Soweit die Beklagte vertreten hat, ein Anspruchsübergang der durch die
Klägerin für den Zeitraum vom 11.06.2011 bis einschließlich zum 30.06.2011
erbrachten Leistungen müsse ausscheiden, weil die Beklagte an Herrn L. im
Monat Juni 2011 für den Zeitraum vom 01.06.2011 bis zum 10.06.2011 eine
Entgeltzahlung in Höhe von EUR 862,56 netto erbracht habe und Herr L. daher
nicht bedürftig gewesen sei, ist dem nicht zu folgen. Zum einen hat die Klägerin
soweit ersichtlich in zulässiger Weise Freibeträge für Herrn L. berücksichtigt und
ist auf dieser Grundlage zu dessen Hilfebedürftigkeit gekommen. Zum anderen ist
die Bindung der über den Übergang entscheidenden Gerichte an unanfechtbare
Entscheidungen bezüglich der Leistungspflicht des Leistungsträgers und ihres
Umfangs, wie sie aus dem analog auch auf § 115 SGB X anzuwendenden § 118
SGB X folgt, zu beachten. Nicht rechtzeitig angefochtene Bewilligungs- oder
Widerspruchsbescheide bezüglich ALG II stellen für das mit der Entgeltstreitigkeit
befasste Gericht die Grundsicherungsleistungen bindend fest (LAG
Niedersachsen 23.06.2011 – 4 Sa 1859/10, juris Rn. 28 mit zahlr. w. N.).
Dementsprechend ist auch das vorliegend erkennende Gericht an die
Bestandskraft des Bewilligungsbescheids der Klägerin gebunden, nachdem
keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dieser angefochten wurde.
26
(2)
Dem Übergang des Anspruchs stehen auch nicht die Aussagen in der
Entscheidung des BAG vom 26.05.1993 (5 AZR 405/92) entgegen, nach der ein
Anspruchsübergang wegen des Erfordernisses der zeitlichen Kongruenz
(jedenfalls auch) für den jeweils unmittelbar vorhergehenden vergangene Monate
in Betracht komme, wenn ein Arbeitgeber in diesem vorangegangenen Monat
tatsächlich keine Entgeltleistungen erbracht habe. Auf der Grundlage dieser
Rechtsprechung ist die Beklagte anscheinend der Ansicht (vgl. S. 2 und 3 des
Schriftsatzes vom 07.08.2013), dass die von der Beklagten an Herrn L. im Monat
Mai 2011 erbrachten Entgeltzahlungen zu dem berücksichtigungsfähigen
Einkommen von Herrn L. im Monat Juni 2011 zählen müssten und Herr L. daher
im Monat Juni 2011 tatsächlich nicht hilfebedürftig gewesen sei. Dieser
Argumentation der Beklagten steht nach Ansicht der Kammer bereits die
Bestandskraft des Bewilligungsbescheids der Klägerin entgegen, an die das
erkennende Gericht gebunden ist. Sie ist zudem mit sozialrechtlichen
Grundsätzen nicht vereinbar, da sie das im Anwendungsbereich des SGB II
(zumindest seit Einführung des § 11 Abs. 2 SGB II im Jahr 2011) geltende
Zuflussprinzip außer Acht lässt. Das von der Beklagten an Herrn L. im Monat Mai
2011 gezahlte Entgelt kann nicht einkommenserhöhend im Monat Juni
berücksichtigt werden. Denn nach dem im SGB II geltenden Zuflussprinzip ist der
Bedarfszeitraum, in Bezug auf den Hilfe zu berechnen und innerhalb dessen
Einkommen zu berücksichtigen ist, der jeweilige Kalendermonat. Dies gilt auch für
Entgelt, das regelmäßig erst zum Ende eines Monats zufließt; auch dieses Entgelt
wird nicht dem Folgemonat, sondern dem Monat zugerechnet, in welchem es
tatsächlich gezahlt wurde (Beck-OK/Fahlbusch, Sozialrecht, Stand 01.12.2013, §
11 SGB II Rn. 11). In einem auf die tatsächliche Leistung folgenden Monat kann
dieses Entgelt nach den Vorgaben des SGB II nicht mehr als Entgelt angerechnet
werden, sondern nur noch als Vermögen, bei dem wiederum die
sozialversicherungsrechtlichen Freibeträge zu berücksichtigen sind.
27
bb.
Für den Zeitraum von
Juli bis September 2011
hat die Beklagte über ihren
Prozessbevollmächtigten in der letzten mündlichen Verhandlung keine
Einwendungen mehr erhoben und dadurch den Anspruch der Klägerin unstreitig
gestellt. Danach sind die Entgeltansprüche von Herrn L. in unstreitiger Höhe von
EUR 809,00 monatlich, mithin insgesamt EUR 2.427,00, auf die Beklagte
übergegangen.
28
cc.
Schließlich sind auch die Entgeltansprüche von Herrn L. für den Monat
Oktober 2011
gegen die Beklagte in Höhe von EUR 809,00, d. h. dem Betrag der
von der Klägerin für den Monat Oktober 2011 erbrachten Sozialleistungen, auf die
Klägerin übergegangen. Die Klägerin hat unstreitig für den Monat Oktober 2011
Leistungen an Herrn L. in Höhe von EUR 809,00 erbracht. Diese Zahlung ist auch
tatsächlich an die Stelle des von der Beklagten geschuldeten Arbeitsentgelts
getreten und damit zeitlich kongruent zum Entgeltanspruch von Herrn L. gegen
die Beklagte für den Monat Oktober 2011. Soweit die Beklagte der Ansicht ist, die
Voraussetzung der zeitlichen Kongruenz liege nicht vor, weil die Beklagte
unstreitig das Entgelt für den Monat Oktober 2011 an Herrn L. gezahlt habe, greift
sie zu kurz. Zum einen könnte die tatsächliche Zahlung der Beklagten einem
Anspruchsübergang nur entgegenstehen, wenn sie tatsächlich noch im Monat
Oktober 2011 erfolgt wäre. Das ist jedoch auf der Grundlage des Vortrags der
beklagten Partei nicht ersichtlich. Die Beklagte nennt – im Gegensatz zu den
Zahlungen im Mai und im Juni 2011 – keine Datum der tatsächlichen Auszahlung,
sondern verweist ohne nähere Darlegung auf § 614 BGB, wonach die Vergütung
nach der Leistung der Dienste, bzw. nach dem Ablauf der Zeitabschnitte, zu
erbringen ist. Zum anderen würden aus Sicht der Kammer – selbst bei einer
tatsächlichen Leistung noch zum Ende des Monats Oktober 2011 – gleichwohl
die besseren Argumente für einen Anspruchsübergang sprechen. Denn steht
zum Zeitpunkt der Sozialleistungserbringung, d. h. vorliegend gemäß § 41 Abs. 1
Satz 4 SGB II zum Monatsanfang, fest, dass ein Arbeitgeber nicht gewillt ist,
Entgelt zu zahlen, kommt es unabhängig von der Fälligkeit des Entgeltanspruchs
zum Übergang nach § 115 SGB X (s. nur KassKomm/Kater, 78. Erg.-Lfg. 2013, §
115 SGB X Rn. 23). Auch bei einer unterstellten Zahlung der Beklagten an Herrn
L. noch zum Ende des Monats Oktober 2011 wären daher sämtliche
Entgeltansprüche von Herrn L. gegen die Beklagte mit ihrem jeweiligen
Entstehen, also jeweils mit Ablauf eines Tages, auf die Klägerin übergegangen,
da zum Zeitpunkt der Leistungserbringung durch die Klägerin fest davon
ausgegangen werden musste, dass die Beklagte ausgehend von einem Ende
des Arbeitsverhältnisses zum Ablauf des 10.06.2011 – wie in den Monaten zuvor
– für die Zeit ab dem 11.06.2011 keine Entgeltzahlungen erbringt. Hieran kann
auch der Abschluss des Vergleichs zwischen den Parteien nichts ändern, da
dieser erst am 11.10.2011 zustande kam. Eine etwaige Leistung der Beklagten an
Herrn L. zum Ende des Monats Oktober 2011 würde daher nicht zum
nachträglichen Wegfall des bereits erfolgten Übergangs der Entgeltansprüche von
Herrn L. führen. Dieses Ergebnis führt auch nicht zu einer unzuträglichen
Belastung der Beklagten, da diese durch § 407 Abs. 1 BGB hinreichend vor einer
doppelten Inanspruchnahme geschützt wird.
29
c.
Soweit die Beklagte schließlich geltend gemacht hat, eine Verurteilung komme
nur Zug um Zug gegen die Übertragung von Rückzahlungsansprüchen der
Klägerin in Betracht, hat die Beklagte bereits das Bestehen von
Rückzahlungsansprüchen nicht schlüssig vorgetragen. Selbst auf der Grundlage
der – aus Sicht der Kammer zweifelhaften – Behauptung, die Klägerin könne ihren
Bewilligungsbescheid ohne weiteres aufheben und anschließend Rückzahlung
verlangen, ist jedenfalls keine rechtliche Pflicht der Klägerin zu einem solchen
Vorgehen zu erkennen. Denn das über § 115 SGB X begründete System der
Abwicklung im vorliegenden Drei-Personen-Verhältnis sieht gerade die
Schadloshaltung des Leistungsträgers gegenüber dem Arbeitgeber vor, der zum
einen seinerseits über § 407 Abs. 1 BGB hinreichend vor einer doppelten
Inanspruchnahme geschützt ist und der zum anderen bei nicht schuldbefreiender
Leistung an den Arbeitnehmer gegen diesen eigene Ansprüche aus § 812 BGB
geltend machen kann.
30
2.
Der Anspruch auf Zahlung von Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 17.08.2012 ergibt sich aus § 288 Abs. 1 BGB i. V. m. § 286
Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Beklagte wurde durch die Klägerin mit Schreiben vom
13.08.2012 gemäß § 4 Abs. 2 VwZG zum 17.08.2012 in Verzug gesetzt.
II.
31
1.
Die Kostentragungspflicht der in der Sache voll unterlegenen Beklagten ergibt
sich aus § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG i. V. m. §§ 91 Abs. 1, 495 ZPO.
32
2.
Die Festsetzung des Rechtsmittelstreitwerts folgt dem Grunde nach aus § 61
Abs. 1 ArbGG und entspricht in der Höhe den bezifferten Klageforderungen.
33
3.
Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung erfolgte gemäß § 64 Abs. 3a
Satz 1 ArbGG. Die Kammer hat die bereits gemäß § 64 Abs. 2 lit. c ArbGG
zulässige Berufung zusätzlich gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG zugelassen, da die
Rechtssache nach Ansicht der Kammer Rechtsfragen von grundsätzlicher
Bedeutung im Hinblick auf das Verhältnis der Entscheidung des BAG vom
26.05.1993 (5 AZR 405/92) zu dem mittlerweile in § 11 Abs. 2 SGB II für das ALG II
gesetzlich verankerten Zuflussprinzip aufwirft.