Urteil des ArbG Ulm vom 02.07.2015

vollzugsplan, ordentliche kündigung, mitwirkungspflicht, erlass

ArbG Ulm Urteil vom 2.7.2015, 2 Ca 411/14
Freigängerstatus - Kündigung wegen haftbedingter Arbeitsunfähigkeit -
Vollzugsplan
Leitsätze
1. Aus § 241 Abs. 2 BGB folgt eine Verpflichtung des Arbeitgebers, bei der Erlangung
des Freigängerstatus' des Arbeitnehmers mitzuwirken, wenn dies für den Arbeitgeber
nicht risikobehaftet ist.
2. Im Rahmen der Mitwirkungspflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB kann den Arbeitgeber
im Einzelfall die Obliegenheit treffen, vor Ausspruch einer Kündigung wegen
haftbedingter Arbeitsverhinderung den Vollzugsplan abzuwarten.
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die Kündigung der Beklagten vom 11.12.2014 nicht aufgelöst wurde.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 1/4 und die Beklagte 3/4 zu
tragen.
3. Der Wert des Gegenstands der Entscheidung wird auf EUR 9.219,00 festgesetzt.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, personenbedingten
Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
2 Der am 00.00.1981 geborene, ledige Kläger ist seit 01.09.1997 bei der Beklagten
als Maschinenbediener gegen ein Bruttomonatsgehalt von zuletzt EUR 3.073,00
beschäftigt. Der Kläger hat einen Grad der Behinderung von 30 %.
3 Die Beklagte ist ein Anbieter für die Druckindustrie und beschäftigt am Standort A.
deutlich mehr als zehn Arbeitnehmer. Es besteht ein Betriebsrat.
4 Der Kläger wurde vom Landgericht U. durch Urteil vom 26.05.2014 aufgrund
Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Das Urteil ist
rechtskräftig seit 03.06.2014. Der Kläger trat die Haft am 01.10.2014 an.
5 Der Strafverteidiger des Klägers fragte mit Schreiben vom 18.08.2014 bei der
Justizvollzugsanstalt U. an, wann unverbindlich mit der Möglichkeit von Freigang
zu rechnen sei (Anlage K 6, Bl. 71 ff. d.A.). Die Justizvollzugsanstalt U.
interpretierte dieses Schreiben als Antrag auf sofortige Zulassung zum Freigang
und lehnte ihn am 25.08.2015 ab (Bl. 74 d.A.). Der Kläger überließ der Beklagten
das Ablehnungsschreiben der Justizvollzugsanstalt.
6 Die Beklagte hörte den Betriebsrat zur beabsichtigten Kündigung mit Schreiben
vom 25.11.2014 an. Auf Anlage B 1, Bl. 47 d.A. wird verwiesen. Der Betriebsrat
widersprach der beabsichtigten Kündigung (Anlage B 2, Bl. 48 f. d.A.).
7 Mit Schreiben vom 11.12.2014 erklärte die Beklagte eine ordentliche Kündigung
des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2015 (Anlage K 1, Bl. 7 d.A.). Als
Kündigungsgrund gab die Beklagte die Haftstrafe von drei Jahren und drei
Monaten und die damit verbundene fehlende Planbarkeit in Bezug auf einen
zeitnahen Einsatz an.
8 Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 17.12.2014, am selben Tag beim Arbeitsgericht
eingegangen, Klage erhoben.
9 Mit Datum vom 22.12.2014 erließ die Justizvollzugsanstalt U. einen Vollzugsplan
gemäß § 7 des Strafvollzugsgesetzes, nachdem am 19.11.2014 eine
Vollzugsplankonferenz stattgefunden und das Justizministerium durch Erlass vom
02.12.2014 die Zustimmung erteilt hatte (Anlage K 4, Bl. 21 ff. d.A.). Der
Vollzugsplan sieht die Möglichkeit von Freigang des Klägers mit freiem
Beschäftigungsverhältnis ab Juni 2015 vor. Als voraussichtlicher
Entlassungstermin wird der 23.11.2016 bestimmt. Die Unterbringung findet im
offenen Vollzug statt. Die Justizvollzugsanstalt U. begründet den Einstieg in
vollzugsöffnende Maßnahmen in einem frühen Stadium damit, dass der Kläger in
der Vollzugsplankonferenz einen sehr guten Eindruck gemacht habe und die
frühere Suchtproblematik bereits therapeutisch aufgearbeitet worden sei.
10 In der Freigängerkonferenz der Justizvollzugsanstalt vom 29.04.2015 ließ diese
den Kläger nach Maßgabe eines freien Arbeitsplatzes ab 26.05.2015 zum
Freigang mit freiem Beschäftigungsverhältnis zu. Die Beklagte teilte dem Kläger
am 18.05.2015 mit, dass sie ungeachtet der Erlangung des Freigängerstatus kein
Interesse mehr an der Arbeitsleistung des Klägers habe.
11 Der Kläger ist der Meinung, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt und daher
unwirksam. Die Beklagte habe von einer baldigen Vollzugslockerung ausgehen
müssen, was sich im Nachhinein mit Erlass des Vollzugsplans auch bestätigt
habe. Der Kläger habe die Beklagte jederzeit über den Stand der Dinge informiert.
Er habe insbesondere den Personalreferenten Herrn C. darüber informiert, dass
die Prüfung vollzugslockernder Maßnahmen nach Auskunft des Sozialdienstes der
Justizvollzugsanstalt Ulm ca. sechs Wochen nach Haftantritt im Rahmen der
Erstellung eines Vollzugsplans erfolgen könne. Zum damaligen Zeitpunkt sei
innerhalb eines Jahres mit Freigang zu rechnen gewesen. Die Beklagte habe trotz
genauer Kenntnisse über den Stand der Ereignisse den Vollzugsplan nicht
abgewartet. Ein solches Zuwarten sei der Beklagten ohne Eingehung eines
Risikos gemäß § 241 Abs. 2 BGB zumutbar gewesen. Es dränge sich unweigerlich
der Eindruck auf, die Beklagte habe den Vollzugsplan bewusst nicht abwarten
wollen, weil sie davon habe ausgehen müssen, der Kläger profitiere von
vollzugsöffnenden Maßnahmen. Die Beklagte habe gewusst, dass ein
Vollzugsplan bevorstehe. Da das Gesetz dies in §§ 5 bis 7 StVollzG vorsehe,
könne dies für die Beklagte auch nicht überraschend gewesen sein. Nach Erlass
des Vollzugsplan habe der Kläger diesen der Beklagten sofort vorgelegt. Die
Begründung der fehlenden Planbarkeit bezweifelt der Kläger außerdem im Hinblick
auf die Möglichkeit eines Langzeit-Sabbaticals. Nachteilige Auswirkungen auf das
Arbeitsverhältnis bestünden nicht. Die Interessenabwägung falle zu Gunsten des
Klägers aus. Dabei sei die lange und reibungslose Betriebszugehörigkeit zu
berücksichtigen. Der Kläger habe sein Fehlverhalten erkannt und eine "zweite
Chance" verdient. Die Tat weise keinen Bezug zum Arbeitsverhältnis auf. Eine
Rückfallgefährdung bestehe nicht. Der Kläger trägt weiter vor, die
Betriebsratsanhörung sei fehlerhaft. Die Beklagte habe dem Betriebsrat
fälschlicherweise mitgeteilt, ein Antrag auf sofortigen Freigang sei abgelehnt
worden und es seien keine Tatsachen ersichtlich, die auf einen alsbaldigen
Freigängerstatus schließen lassen würden. Schließlich beruft sich der Kläger auf
einen bereits gestellten Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten
Menschen und die fehlende Anhörung des Integrationsamtes.
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Der Kläger beantragt:
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Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
Kündigung der Beklagten vom 11.12.2014 nicht beendet wird.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
16 Die Beklagte ist der Auffassung, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Es sei für
die Beklagte nicht ersichtlich, dass eine Entlassung vor Ablauf von zwei Jahren
sicher zu erwarten sei. Innerhalb dieser Zeit sei es dem Kläger unmöglich, seine
Arbeitsleistung zu erbringen und die Beklagte sei gehindert, von ihrem
Direktionsrecht Gebrauch zu machen. Bereits hierin liege eine Beeinträchtigung
betrieblicher Interessen. Es fehle an einer Planbarkeit für die Arbeitgeberin, das
Arbeitsverhältnis könne nicht mehr gelebt werden. Anderweitige
Überbrückungsmaßnahmen seien ihr nicht zuzumuten. Da maßgeblicher Zeitpunkt
für die Frage der Wirksamkeit der Kündigung der Ausspruch der Kündigung sei,
habe der erst später ergangene Vollzugsplan nicht berücksichtigt werden können.
Im Zeitpunkt der Kündigungserklärung sei eine baldige Vollzugslockerung nicht
sicher zu erwarten gewesen. Der Kläger habe in mehreren Gesprächen keine
konkreten Angaben gemacht und keine Unterlagen vorgelegt. Die Äußerung des
Klägers, sein Anwalt versuche, Freigang für den Kläger zu erhalten, habe sich im
Bereich der Spekulation bewegt. Das Ablehnungsschreiben der
Justizvollzugsanstalt U. vom 25.08.2015 schließe einen Freigang auf absehbare
Zeit aus. Von dem Vollzugsplan habe die Beklagte erst im Laufe des Verfahrens
erfahren. Der Beklagten sei auch nicht zuzumuten gewesen, den Vollzugsplan
abzuwarten, weil ein solcher vom Kläger nicht angekündigt worden sei. Dem
Gedanken der Resozialisierung stehe die Beklagte kritisch gegenüber. Mehrere
Kollegen hätten bereits eine Zusammenarbeit mit einem verurteilten Drogendealer
abgelehnt. Im Rahmen der Interessenabwägung sei zu Gunsten des Klägers zwar
die lange Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen. Zu Lasten des Klägers
spreche hingegen, dass er den Ausfall seiner Arbeitskraft selbst herbeigeführt und
verschuldet habe und die Haftstrafe mit drei Jahren und drei Monaten deutlich
mehr als zwei Jahre betrage.
17 Wegen weiterer Einzelheiten des Vortrags der Parteien wird gemäß § 46 Abs. 2
ArbGG, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze
sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen verwiesen.
Entscheidungsgründe
18 Die zulässige Klage ist begründet.
19 Die ordentliche Kündigung vom 11.12.2014 ist rechtsunwirksam.
20 I. Der Kläger hat gegen die Kündigung vom 11.12.2014, dem Kläger nicht vor
diesem Tage zugegangen, am 17.12.2014 und damit unabhängig vom genauen
Datum des Zugangs innerhalb der Drei-Wochen-Frist gem. §§ 4 Satz 1, 7 KSchG
Kündigungsschutzklage erhoben.
21 II. Die Kündigung ist rechtsunwirksam, weil sie gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial
ungerechtfertigt ist. Der Beklagte wäre es zuzumuten gewesen, den Vollzugsplan
abzuwarten und sodann den im Vollzugsplan vorgesehenen - und noch vor Ablauf
der Kündigungsfrist endenden - Zeitraum von acht Monaten bis zum Freigang des
Klägers zu überbrücken.
22 1. Das Kündigungsschutzgesetz ist unstreitig aufgrund der Beschäftigtenzahl der
Beklagten gemäß § 23 Abs. 1 KSchG von weit mehr als zehn Arbeitnehmern
anwendbar. Der Kläger ist seit 17 Jahren und damit länger als sechs Monate bei
der Beklagten beschäftigt (§ 1 Abs. 1 KSchG).
23 2. Nach § 1 Abs. 1 KSchG ist eine Kündigung rechtsunwirksam, wenn sie sozial
ungerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigt ist eine Kündigung gemäß § 1 Abs. 2
KSchG, wenn sie nicht durch Gründe, die u.a. in der Person des Arbeitnehmers
liegen, bedingt ist.
24 a) Nach der Rechtsprechung des BAG zählt eine Arbeitsverhinderung des
Arbeitnehmers, die auf einer Straf- oder Untersuchungshaft beruht, zu den
personenbedingten Kündigungsgründen (BAG 25.11.2010 - 2 AZR 984/08 - Rn.
12, NZA 2011, 686). Eine verhaltensbedingte Kündigung kommt nur in Betracht,
wenn die der Verurteilung zu Grunde liegende Tat einen Bezug zum
Arbeitsverhältnis hat oder der Arbeitnehmer auf andere Weise arbeitsvertragliche
Pflichten, insbesondere seine Pflicht zur Rücksichtnahme, verletzt hat. Darauf
beruft sich die Beklagte jedoch nicht. Sie stützt die Kündigung ausschließlich auf
die haftbedingten Abwesenheitszeiten des Klägers. Es gelten vorliegend mithin
die Grundsätze einer personenbedingten Kündigung.
25 b) Voraussetzung einer Kündigung wegen haftbedingter Arbeitsverhinderung ist
nach der Rechtsprechung des BAG, dass der Arbeitnehmer für eine
verhältnismäßig erhebliche Zeit nicht in der Lage sein wird, seine
arbeitsvertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen (BAG 25.11.2010 - 2 AZR 984/08
- Rn. 14, NZA 2011, 686). Die Nichterfüllung der Arbeitspflicht muss sich
außerdem nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirken. Da der Arbeitgeber im
Fall der haftbedingten Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers typischerweise von
der Lohnzahlungspflicht befreit ist, hängt es von der Dauer sowie Art und Ausmaß
der betrieblichen Auswirkungen ab, ob die Inhaftierung geeignet ist, einen Grund
zur Kündigung abzugeben (BAG 25.11.2010 a.a.O.). Liegt eine beachtliche
Störung vor, bedarf es der abschließenden, alle Umstände des Einzelfalls
einbeziehenden Abwägung, ob es dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung der
Interessen beider Vertragsteile unzumutbar war, das Arbeitsverhältnis bis zum
Wegfall des Hinderungsgrundes fortzusetzen (BAG 25.11.2010 a.a.O.). Sowohl
bei der Frage, ob von einer erheblichen Störung des Austauschverhältnisses
auszugehen ist, als auch bei der Interessenabwägung ist im Fall einer Kündigung
wegen Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu berücksichtigen, dass der
Arbeitnehmer die Arbeitsverhinderung in aller Regel zu vertreten hat. Deshalb
sind dem Arbeitgeber zur Überbrückung des Arbeitsausfalls regelmäßig nicht die
gleichen Anstrengungen und Belastungen zuzumuten wie etwa bei einer
Krankheit (BAG 25.11.2010 a.a.O.).
26 c) Im Einzelnen geht der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts seit seiner
Entscheidung vom 25.11.2010 davon aus, dass es der Darlegung konkreter
Betriebsablaufstörungen nicht bedarf bei Freiheitsstrafen, die 24 Monate
übersteigen, wenn eine Entlassung vor Ablauf von zwei Jahren nicht sicher zu
erwarten steht (BAG 24.03.2011 - 2 AZR 790/09 - Rn. 23, AP zu § 1 KSchG 1969
Personenbedingte Kündigung Nr. 33; BAG 25.11.2010 a.a.O. - Rn. 21 ff.).
Andererseits lehnt der Senat die Bildung eines "absoluten“ Kündigungsgrundes
bei langen Freiheitsstrafen ab (BAG 25.11.2010 a.a.O.- Rn. 27). Die Verurteilung
zu einer Haftstrafe von mehr als 24 Monaten führt also nicht automatisch und
zwangsläufig, d.h. ohne weitere Prüfung, zur Wirksamkeit einer Kündigung.
Vielmehr fragt der Senat danach, ob dem Arbeitgeber
Überbrückungsmaßnahmen zumutbar sind (BAG 25.11.2010 a.a.O. - Rn. 27).
Aus § 241 Abs. 2 BGB folgt nach Meinung des BAG eine Verpflichtung des
Arbeitgebers, bei der Erlangung des Freigängerstatus des Arbeitnehmers
mitzuwirken, wenn dies für den Arbeitgeber nicht risikobehaftet ist (BAG
24.03.2011 a.a.O. - Rn. 26; BAG 25.11.2010 a.a.O. - Rn. 28). Um das Risiko einer
Beschäftigung im Rahmen des Freigängerstatus beurteilen zu können, muss er
indes wissen, wegen welcher Tat der Arbeitnehmer verurteilt wurde. Daraus
folgert das BAG ein Recht des Arbeitgebers, Einsicht in das Strafurteil zu nehmen
(BAG 25.11.2010 a.a.O. - Rn. 28). Verwehrt der Arbeitnehmer die Einsicht, entfällt
die Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers. In der Entscheidung vom 24.03.2011
(a.a.O.) hat der Zweite Senat die Aussagen zu einem künftigen Freigang im
Rahmen eines Vollzugsplans berücksichtigt, allerdings in jenem Fall zu Lasten
des Arbeitnehmers. Der Vollzugsplan lehnte in jenem Fall Freigang vollständig ab.
Eine Überprüfung der Entscheidung war laut Vollzugsplan "im Rahmen einer
langfristigen vollzuglichen Perspektivplanung … nach erfolgter Bewährung des
Klägers in Vollzugslockerungen" nach Ablauf von zehn Monaten angedacht. Dies
hat das BAG für ungenügend erachtet. Die Pflicht des Arbeitgebers, den
Arbeitnehmer in seinem Resozialisierungsbemühen zu unterstützen, gehe nicht
so weit, "diesem auf die vage Aussicht hin, in ferner Zukunft eine
Vollzugslockerung zu erreichen, den Arbeitsplatz bis zu einer Klärung,
gegebenenfalls über Monate hinweg freizuhalten" (BAG 24.03.2011 a.a.O. - Rn.
26).
27 d) Die Kammer schließt sich der Rechtsprechung des BAG an und entwickelt die
Grundsätze dahingehend weiter, dass den Arbeitgeber im Rahmen der
Mitwirkungspflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB eine Obliegenheit treffen kann, den
Vollzugsplan abzuwarten, falls die Erlangung des Freigängerstatus nicht
vollkommen ausgeschlossen erscheint. Dies gilt zumindest bei einem Haftantritt
ohne vorangegangener Untersuchungshaft. In diesem Fall sieht das Gesetz vor,
dass unmittelbar nach dem Aufnahmeverfahren und der
Behandlungsuntersuchung gemäß §§ 5 und 6 StVollzG ein Vollzugsplan erstellt
wird. Der Vollzugsplan enthält gemäß § 7 Abs. 2 StVollzG zwingend Angaben zur
Möglichkeit einer Beschäftigung im Rahmen des Freigangs. Die vom BAG
statuierte Mitwirkungspflicht bei der Erlangung des Freigängerstatus wäre
bedeutungslos, wenn der Arbeitgeber unmittelbar nach Haftantritt und noch vor
Erstellung des Vollzugsplans durch eine Kündigung "vollendete Tatsachen"
schaffen könnte. Selbst wenn der Vollzugsplan sodann einen Freigang mit freiem
Beschäftigungsverhältnis vor Ablauf der Kündigungsfrist ermöglicht, hätte dies für
den Arbeitnehmer keinen Nutzen. Wenn man mit dem BAG eine
Mitwirkungspflicht bei der Erlangung des Freigängerstatus gemäß § 241 Abs. 2
BGB befürwortet, so setzt diese Pflicht i.d.R. voraus, dass der Vollzugsplan
abgewartet wird. Vor Erlass des Vollzugsplan besteht noch überhaupt keine
Grundlage für eine verlässliche Prognose, wie lange die haftbedingte
Arbeitsverhinderung andauern wird. Für die Aufstellung einer solchen Prognose
bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder man stellt ausschließlich auf die im
Strafurteil verhängte Freiheitsstrafe ab oder man berücksichtigt darüber hinaus die
Erlangung eines Freigängerstatus. Folgt man der ersten Alternative, so würde
eine Freiheitsstrafe von mehr als 24 Monaten einen absoluten Kündigungsgrund
bilden. Die Berücksichtigung des Einzelfalls wäre nicht möglich. Berücksichtigt
man hingegen den Freigängerstatus bei der Zumutbarkeit von
Überbrückungsmaßnahmen, so muss regelmäßig der Vollzugsplan abgewartet
werden. Die Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers bei der Erlangung des
Freigängerstatus impliziert dies. Da die Erstellung des Vollzugsplans gesetzlich
vorgesehen ist, kann sich der Arbeitgeber nach Auffassung der Kammer auch
nicht darauf berufen, er habe diese Vorschriften nicht gekannt.
28 e) Legt man diese Maßstäbe zu Grunde, liegt kein personenbedingter
Kündigungsgrund vor. Es wäre der Beklagten zumutbar gewesen, bis zum
Zeitpunkt des Freigangs Ende Mai / Anfang Juni 2015, d.h. für acht Monate,
Überbrückungsmaßnahmen zu treffen. Die Arbeitsverhinderung des Klägers
endete noch vor Ablauf der Kündigungsfrist am 30.06.2015. Der Einwand der
Beklagten, im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs sei dieser Umstand noch
nicht bekannt gewesen, ändert an der Bewertung nichts. Es bestand nämlich für
die Beklagte die Obliegenheit, vor Ausspruch der Kündigung zumindest den
Zeitraum bis zum Erlass des Vollzugsplans zu überbrücken. Erst ab diesem
Zeitpunkt war eine verlässliche Prognoseentscheidung möglich gewesen. Nach
Auffassung der Kammer ist die Beschäftigung des Klägers für die Beklagte derzeit
nicht risikobehaftet. Nach den vorgelegten Berichten und auch nach dem
Vollzugsplan ("Aufarbeitung der früheren Suchtproblematik", Anlage K 4, Bl. 21
d.A.) ist der Kläger seit längerer Zeit nicht mehr drogensüchtig. Die
Justizvollzugsanstalt U. verneint daher eine Missbrauchsgefahr bei
vollzugslockernden Maßnahmen. Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an.
Es steht derzeit nicht zu befürchten, dass der Kläger im Betrieb mit
Betäubungsmitteln handeln wird. Der Vortrag der Beklagten, mehrere Kollegen
hätten eine Zusammenarbeit mit dem Kläger abgelehnt, ist zu pauschal. Die
Mitwirkungspflicht der Beklagten gemäß § 241 Abs. 2 BGB entfällt schließlich
auch nicht etwa aufgrund einer Verweigerung des Klägers, Einsicht in das
Strafurteil zu nehmen. Ein solches erfolgloses Verlangen der Beklagten ist nicht
vorgetragen.
29 f) Es kann offen bleiben, ob der Kläger Herrn C. den bevorstehenden Erlass eines
Vollzugsplans angekündigt hat. Der Erlass eines Vollzugsplans nach Antritt der
Haft ist im Gesetz vorgesehen. Insofern hätte sich die Beklagte informieren
müssen. Ebenso ist unerheblich, ob die Möglichkeit eines Langzeit-Sabbaticals
berücksichtigt werden muss und ob die Betriebsratsanhörung ordnungsgemäß
erfolgte.
30
Nebenentscheidungen
31 1. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 91 Abs. 1
ZPO sowie § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO. Im Umfang der Klagrücknahme hat der
Kläger die Kosten zu tragen, im Übrigen die Beklagte. Der zurückgenommene
Weiterbeschäftigungsantrag steht im Vergleich zum (fiktiven)
Gesamtkostenstreitwert wertmäßig im Verhältnis 1 zu 4 (Bestandsschutz: drei
Bruttomonatsgehälter; Weiterbeschäftigung: ein Bruttomonatsgehalt; insgesamt:
vier Bruttomonatsgehälter).
32 2. Die Streitwertfestsetzung beruht dem Grunde nach auf § 61 Abs. 1 ArbGG und
entspricht in der Höhe in Bezug auf den Kündigungsschutzantrag einer
Bruttovierteljahresvergütung gemäß § 42 Abs. 2 Satz 2 GKG. Aufgrund der
Teilrücknahme entspricht der Rechtsmittelstreitwert nicht dem Gebührenstreitwert.
33 3. Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung folgt aus § 64 Abs. 3 a Satz
1 ArbGG. Die Kammer hat die Berufung nach § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG zugelassen.
Die Weiterentwicklung der Grundsätze zur haftbedingten Kündigung hat
grundsätzliche Bedeutung. Die Berufung wäre ohnehin gemäß § 64 Abs. 2 c)
ArbGG zulässig.Die zulässige Kündigungsschutzklage ist begründet.