Urteil des ArbG Stuttgart vom 24.09.2009

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ArbG Stuttgart Urteil vom 24.9.2009, 12 Ca 1792/09
Keine mehrmalige Inanspruchnahme von Pflegezeit pro pflegebedürftigen nahen Angehörigen
Leitsätze
Die Pflegezeit nach § 3 PflegeZG kann pro pflegebedürftigen nahen Angehörigen nur einmal ununterbrochen bis zu
einer Gesamtdauer von längstens 6 Monaten beansprucht werden.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf EUR 1.000,00 festgesetzt.
4. Die Berufung wird von Seiten des erkennenden Arbeitsgerichts zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über einen Anspruch der klägerischen Partei auf Pflegezeit gemäß § 3 Abs. 1
Pflegezeitgesetz.
2
Der Kläger ist aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrages vom 23.01.1986 seit dem 01.04.1986 als
Betriebsmittelkonstrukteur bei der Beklagten angestellt.
3
Die Mutter des Klägers Frau N. wurde mit Wirkung ab 01.02.2005 durch die Pflegekasse B. Ersatzkasse nach
der Pflegestufe I als pflegebedürftig anerkannt.
4
Der Kläger hat am 19.02.2009 der Beklagten die Pflege seiner pflegebedürftigen Mutter für den Zeitraum vom
15.06. bis 19.06.2009 mitgeteilt, was die Beklagte ihm bestätigt hat.
5
Der Kläger zeigte mit Schreiben vom 09.06.2009 an, dass er seine pflegebedürftige Mutter vom 28.12.2009 bis
zum 29.12.2009 pflegen werde, was die beklagte Partei nicht bestätigt hat, da der Kläger bereits von seinem
Recht auf Freistellung zur Pflege seiner Mutter bereits einmal Gebrauch gemacht habe. Stattdessen wurde für
den Zeitraum 28./29.12.2009 eine unbezahlte Freistellung des Klägers angeboten.
6
Der Kläger ist der Auffassung, dass der Anspruch auf Pflegezeit für höchstens 6 Monate bestehe und zwar für
jeden pflegebedürftigen nahen Angehörigen. Dieser Anspruch sei noch nicht erschöpft. Dieser könne auch
mehrmals bis zur Erreichung der Pflegehöchstdauer geltend gemacht werden.
7
Der Kläger beantragt:
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1. Die Beklagte wird verurteilt, die klägerische Partei im Zeitraum vom 28.12.2009 bis 29.12.2009
vollständig von der Arbeitsleistung freizustellen.
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Hilfsweise:
10
2. Die Beklagte wird verurteilt, die klägerische Partei im Zeitraum vom 28.12.2009 bis
einschließlich 29.12.2009 nach Maßgabe von § 3 Pflegezeitgesetz vollständig von der
Arbeitsleistung freizustellen.
11
Die beklagte Partei beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13 Die Beklagte ist der Rechtsauffassung, dass der Klage im Hinblick auf die angebotene unbezahlte Freistellung
das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Die Klage sei im Übrigen unbegründet, da die Pflegezeit nur ein Mal geltend
gemacht werden könne.
14 Die Parteien beantragten übereinstimmend die Alleinentscheidung des Vorsitzenden. Für den Vortrag der
Parteien im Einzelnen wird auf deren Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll des Termins vom
24.09.2009 verwiesen.
Entscheidungsgründe
A.
15 Die zulässige Klage ist als unbegründet abzuweisen.
I.
16
Zum Hauptantrag:
17 Die zulässige Klage ist als unbegründet abzuweisen.
18 1. Die Klage ist zulässig.
19 a) Das Rechtsschutzbedürfnis kann der Klage nicht verneint werden, weil die Beklagte für die Zeit der
beanspruchten Pflegezeit vom 28. bis 29. Dezember 2009 eine unbezahlte Freistellung anbietet. Damit wäre
zwar dem klägerischen Begehren nur auf unbezahlte Freistellung für diesen genannten Zeitraum Rechnung
getragen. Dies lässt jedoch außer Acht, dass die Geltendmachung der Pflegezeit noch weitergehende
Rechtsfolgen auch hinsichtlich des Bestandsschutzes des Arbeitsverhältnisses nach sich zieht. Nach § 5 Abs.
1 Pflegezeitgesetz darf der Arbeitgeber das Beschäftigungsverhältnis von der Ankündigung bis zur Beendigung
der Pflegezeit nach § 3 Pflegezeitgesetz nicht kündigen, es sei denn, die für den Arbeitsschutz zuständige
oberste Landesbehörde hätte eine solche Kündigung ausnahmsweise für zulässig erklärt (vgl. § 5 Abs. 1, Abs.
2 Pflegezeitgesetz).
20 b) Der Streitgegenstand des Hauptantrags ist auch hinreichend i. S. der §§ 253 Abs. 2 Nr. 2, 495 ZPO in
Verbindung mit § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG hinreichend bestimmt. Der Kläger beansprucht für den Zeitraum
28.12.2009 bis einschließlich 29.12.2009 eine vollständige Freistellung von der Arbeitsleistung im Hinblick auf
die mit Schreiben vom 09.06.2009 erfolgte Mitteilung, dass er in diesem Zeitraum seine pflegebedürftige Mutter
pflegen wolle. Das Gegenangebot der Beklagten auf Gewährung unbezahlter Freistellung in Form eines
unbezahlten Urlaubs macht er sich nicht zu Eigen und will auch hierauf die Klage nicht stützen.
21 2. Die Klage ist unbegründet.
22 Der Kläger kann nicht ein zweites Mal Pflegezeit - diesmal für den Zeitraum 28.12.2009 bis 29.12.2009 - nach
§ 3 Pflegezeitgesetz beanspruchen, da er diesen Anspruch nur einmal geltend machen kann, und diesen
bereits im Zeitraum 15.06. bis 19.06.2009 verbraucht hat.
23 Der klagenden Partei steht nach Maßgabe von § 3 Pflegezeitgesetz nur einmalig eine Pflegezeit pro
pflegebedürftigen nahen Angehörigen zu. Die hiesige Kammer schließt sich der Auffassung an, dass die
Beanspruchung einer Pflegezeit pro pflegebedürftigen Angehörigen einem Beschäftigten nur ein Mal zustehe.
24 Die Bestimmung in § 4 Abs. 1 Pflegezeitgesetz ist § 16 Abs. 3 Satz 4 BEEG nachgebildet. § 4 Abs. 1 Satz 1
und Satz 3 Pflegezeitgesetz regeln ausdrücklich nur die Verlängerung der Pflegezeit, jedoch nicht die
Aufteilung auf mehrere Zeitabschnitte, zwischen denen eine Unterbrechung liegt. Insofern weicht die Regelung
des Pflegezeitgesetzes von der entsprechenden Regelung der Elternzeit ab. Auch deutet der Wortlaut des § 4
Abs. 1 Satz 1 („längstens 6 Monate“) auf einen einheitlichen, ununterbrochenen Zeitraum hin. Das
Pflegezeitgesetz hat im Unterschied zu den Regelungen der Elternzeit die Bestimmung nach dem
Regelungsvorbild des § 16 Abs. 1 Satz 5 BEG nicht übernommen, wonach die Elternzeit auf mehrere
Zeitabschnitte verteilt werden kann.
25 Auch systematische Belegungen bestätigen diese Rechtsauffassung. Das Pflegezeitgesetz sieht zweierlei
Arbeitsfreistellungen aus Anlass der Pflege eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen vor. Da ist zum Einen
die kurzzeitige Arbeitsverhinderung bis zu 10 Arbeitstagen, wenn dies erforderlich ist, um für einen
pflegebedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte Pflege
zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen (vgl. § 2 Pflegezeitgesetz).
Daneben befindet sich eine auf längstens 6 Monate befristete Pflegezeit, in der der Beschäftigte von der
Arbeitsleistung vollständig oder teilweise freizustellen ist, wenn er in dieser Zeit einen pflegebedürftigen nahen
Angehörigen in häuslicher Umgebung pflegt. Wird für einen kürzeren Zeitraum eine Pflegezeit in Anspruch
genommen, kann sie bis zur Höchstdauer verlängert werden, wenn der Arbeitgeber zustimmt. Diese
Verlängerung kann jedoch nur dann verlangt werden, wenn ein vorgesehener Wechsel in der Person des
Pflegenden aus einem wichtigen Grund nicht erfolgen kann. Die Beanspruchung einer kurzzeitigen
Arbeitsverhinderung oder einer Pflegezeit hat jedoch auch Einfluss auf den Bestandsschutz des
Arbeitsverhältnisses. Nach § 5 Pflegezeitgesetz darf der Arbeitgeber das Beschäftigungsverhältnis von der
Ankündigung bis zur Beendigung der kurzzeitigen Arbeitsverhinderung nach § 2 oder der Pflegezeit nach § 3
nicht kündigen. Nach Auffassung der streitentscheidenden Kammer folgt hieraus folgendes: Aus dem
Gegensatz der Modalitäten von Pflegezeit und kurzzeitiger Arbeitsverhinderung nach dem Pflegezeitgesetz
wird deutlich, dass eine Pflegezeit nach § 3 Pflegezeitgesetz für die längerfristige, vollständige oder teilweise
Freistellung von der Arbeitsleistung über einen Zeitraum von längstens 6 Monaten bestimmt ist. Besteht nur
ein kurzfristiger Pflegebedarf, etwa um eine Versorgungslücke in der Pflegesituation eines nahen Angehörigen
zu überbrücken, besteht die Möglichkeit, eine kurzzeitige Arbeitsverhinderung von bis zu 10 Arbeitstagen nach
§ 2 Pflegezeitgesetz geltend zu machen. In dieser Zeit kann eine bedarfsgerechte Pflege organisiert oder
selbst in eigener Regie eine pflegerische Versorgung sichergestellt werden. Eine Pflegezeit nach § 3
Pflegezeitgesetz stellt eine vollständige oder teilweise Arbeitsfreistellung dar, indem der betroffene
Arbeitnehmer seinen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung eigenhändig und dann für einen deutlich
längeren Zeitraum von längstens bis zu 6 Monaten pflegen will. Die Pflegezeit ist regelungssystematisch daher
nicht auf eine Abwesenheit vom Arbeitsplatz bemessen nach Tagen, sondern für einen deutlich längeren
Zeitraum angelegt. Da mit der Geltendmachung von Arbeitsfreistellung nach § 2 Pflegezeitgesetz sowie nach §
3 Pflegezeitgesetz Eingriffe in die betrieblichen Belange des Arbeitgebers zwangsläufig verbunden sind, sollte
der Bestandsschutz der Beschäftigen, die Freizeit nach dem Pflegezeitgesetz verlangen, nach Maßgabe von §
5 Pflegezeitgesetz gestärkt werden, indem eine Kündigung nur ausnahmsweise mit behördlicher Zustimmung
gestattet ist. Ein weitergehender Kündigungsschutz sollte hierdurch nicht bewirkt werden. Würde man der
Auffassung der klagenden Partei folgen, dass ein Beschäftigter Pflegezeiten bis zu einem Zeitkonto von 6
Monaten beliebig aufteilen und in seinem Arbeitsleben verteilen könnte, wäre es gewissermaßen möglich durch
geschicktes zeitliches Verteilen von Ankündigung und Durchführung von mehreren Pflegezeiten nach § 3
Pflegezeitgesetz einen durchgehenden Kündigungsschutz nach § 5 Abs. 1 und 2 Pflegezeitgesetz zu erlangen,
in dem das Arbeitsverhältnis nur nach ausnahmsweiser Zulässigkeitserklärung der für den Arbeitsschutz
zuständigen obersten Landesbehörde gekündigt werden könnte. Bei berechtigter Inanspruchnahme von
Pflegezeit wirkt das Kündigungsverbot vom Zugang der schriftlichen Ankündigung nach § 3 Abs. 3 Abs. 1
Pflegezeitgesetz bis zum Ende der Pflegezeit. Da im Unterschied zu § 18 Abs. 1 Satz 1 BEG der besondere
Kündigungsschutzgesetz nicht beispielsweise auf einen 8-Wochen-Zeitraum vor Antritt der Pflegezeit zeitlich
begrenzt ist, bewirkt eine berechtigte Inanspruchnahme der Pflegezeit das Kündigungsverbot vom Zugang der
schriftlichen Ankündigung bis zum Ende der Pflegezeit bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB),
auch dann, wenn die Pflegezeit erst Wochen oder Monate nach der Ankündigung später beginnen soll. Einen
solch weitgehenden Sonderkündigungsschutz wollte das Pflegezeitgesetz sicherlich nicht bewirken. Dieser
sollte lediglich absichern, dass sich Beschäftigte nicht aus Furcht vor Beendigungskündigungen davon
abhalten lassen ihre Rechte auf Pflegezeit geltend zu machen. Daher kann der Auffassung des Klägers nicht
gefolgt werden, dass es ihm zustehe nach Belieben eine Pflegezeit bis zur Höchstdauer von 6 Monaten in
beliebigen Zeitabschnitten zu beanspruchen.
26 Die Klage ist daher insoweit abzuweisen.
II.
27
Zum Hilfsantrag
28 Ein eigenständiger Antrag, über den das Gericht zu befinden hätte, wurde hierdurch nicht gestellt. Der Antrag
ist identisch mit dem Hauptantrag und somit nicht eigenständig zu bescheiden. Bereits mit dem Hauptantrag
wurde eine vollständige Arbeitsfreistellung nach Maßgabe des Pflegezeitgesetzes geltend gemacht.
B.
29 Aufgrund seines Unterliegens im Rechtsstreit sind dem Kläger gemäß § 91 ZPO in Verbindung mit § 46 Abs. 2
Satz 1 ArbGG die Verfahrenskosten aufzuerlegen.
30 Die Festsetzung des Streitwerts im Urteilstenor bestimmt sich gem. § 61 Abs. 1 ArbGG in Verbindung mit § 3
ZPO. Dass es offensichtlich dem Kläger nicht lediglich um die unbezahlte Freistellung als solche sondern um
die Anerkennung dieser Zeit als Pflegezeit im Sinne von § 3 Pflegezeitgesetz geht, wurde das klägerische
Interesse auf den genannten Betrag geschätzt.
31 Die Berufung an das Landesarbeitsgericht ist nach Maßgabe der §§ 64 Abs. 3 Nr. 1, 3 a ArbGG wegen der
grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Soweit ersichtlich, ist zu der aufgeworfenen
Rechtsfrage bisher keine höchstrichterliche Rechtsprechung ergangen. Auf unten stehende
Rechtsmittelbelehrung wird verwiesen.
32 Die Alleinentscheidungsbefugnis des Vorsitzenden ergibt sich nach § 55 Abs. 3 ArbGG, nachdem die Parteien
in unmittelbarem Anschluss an die gescheiterte Güteverhandlung übereinstimmend eine Alleinentscheidung
des Vorsitzenden beantragt haben.