Urteil des ArbG Stuttgart vom 20.01.2017

werk, unwirksamkeit der kündigung, betriebsrat, überwiegendes interesse

ArbG Stuttgart Urteil vom 20.1.2017, 26 Ca 866/16
Sozialauswahl - Altersgruppenbildung - tariflicher Alterskündigungsschutz
Leitsätze
1. Bildet ein zur Anwendung von § 4.4 MTV Metall- und Elektroindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden verpflichteter
Arbeitgeber im Rahmen eines größeren Personalabbaus Altersgruppen, ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn
der Kreis der durch § 4.4. MTV geschützten Arbeitnehmer nicht zur Sozialauswahl und folglich auch nicht als Altersgruppe
für die Sozialauswahl berücksichtigt wird.
2. Gehören dem durch § 4.4 MTV geschützten Personenkreis jedoch auch evident weniger schutzwürdige Arbeitnehmer
an und ist damit die Anwendungsgrenze der Tarifnorm überschritten (BAG 20. Juni 2013 - 2 AZR 295/12 - BAGE
145,296), darf jedenfalls der Kreis dieser Arbeitnehmer nicht bei einer Altersgruppenbildung unberücksichtigt bleiben.
Eine Altersgruppenbildung ohne Einbeziehung dieses Personenkreises ist unwirksam und damit hinfällig.
3. Ist die vorgenommene Altersgruppenbildung hinfällig, ist allein § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG Prüfungsmaßstab für die
vorgenommene Sozialauswahl.
4. Ergeben sich bereits aus dem Tatsachenvortrag des Arbeitgebers sämtliche Sozialdaten des maßgeblichen
auswahlrelevanten Personenkreises, liegen dem Gericht alle Tatsachen vor, um die Sozialauswahl anhand von § 1 Abs. 3
KSchG beurteilen zu können. Es bedarf in diesem Fall nicht eines weiteren Vortrags des Arbeitnehmers bzw. eines
Sichberufens des Arbeitnehmers auf einen oder mehrere für weniger schutzwürdig gehaltene(n) Arbeitnehmer.
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 14. Juni 2016 nicht
mit Ablauf des 30. Juni 2017 beendet wird.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger über den 30. Juni 2017 hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des
Kündigungsschutzprozesses als Produktionsmitarbeiter weiter zu beschäftigen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Der Streitwert wird auf 17.493,16 Euro festgesetzt.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung zum 30. Juni 2017.
2 Die Beklagte ist ein Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie und entwickelt und vertreibt Filtersysteme bzw.
Filteranlagen, insb. auch für die Automobilindustrie. Am Standort L beschäftigt die Beklagte mehr als 1.000
Arbeitnehmer. In ihren Arbeitsverträgen nimmt die Beklagte die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie
Nordwürttemberg/Nordbaden in Bezug. Der Manteltarifvertrag für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in
Nordwürttemberg/Nordbaden (künftig: MTV) bestimmt ua.:
3
„…
§ 4 Kündigung und Aufhebungsvertrag
4.1. …
4. Einem Beschäftigten, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat und dem Betrieb mindestens
drei Jahre angehört, kann nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.
…“
4 Der am ...19... geborene, verheiratete und zwei Kindern grds. zum Unterhalt verpflichtete Kläger trat zum 26. März
1990 in ein Arbeitsverhältnis zur Beklagten als Punktschweißer ein. Zuletzt wurde der Kläger als Mitarbeiter in der
Produktion beschäftigt. Das Bruttoarbeitsentgelt betrug zuletzt durchschnittlich monatlich 4.373,29 Euro.
5 Unter dem Datum 20. August 2015 schlossen die Beklagte und der am Standort L gebildete Betriebsrat einen
„Interessenausgleich zugleich Betriebsvereinbarung 11/2015 gültig für L“ (künftig: Interessenausgleich). Dieser
„Interessenausgleich zugleich Betriebsvereinbarung 11/2015 gültig für L“ (künftig: Interessenausgleich). Dieser
Interessenausgleich bestimmt ua. das Folgende:
6
I. Präambel
7
Die Parteien haben seit dem Dezember 2014 intensiv und ausführlich über die Notwendigkeit und Neuausrichtung
des Werks L beraten. Als Werk L gelten alle dem Leiter des Werkes L zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser
Vereinbarung disziplinarisch zugeordneten Bereiche. Diese Bereiche sind im Organigramm aufgeführt, welches als
Anlage 1 beigefügt ist.
8
Grundlage für die nachfolgend beschriebenen Maßnahmen und die zugrundeliegende Personalplanung sind die
unternehmerische Entscheidung zur Neuausrichtung des Werkes mit dem Schwerpunkt auf der Herstellung von
Flüssigkeitsfiltern und ein erwarteter Serienumsatzrückgang von 172 Mio. EUR (Istumsatz 2014) auf 121 Mio. EUR
Serienumsatz (Plan) zwischen 2015 und 2018 für das Werk L.
9
Diese Maßnahmen sollen dazu beitragen, dass das Werk L zukünftig als Produktionsstandort über das Jahr 2018
hinaus erhalten werden kann.
10 Für die Ausrichtung des Werkes ist das in der Anlage 2 beigefügte Zielbild maßgebend.
11
II. Regelungen
12
1.
2.
Die Umsetzung der nachfolgend beschriebenen betriebsorganisatorischen Änderungen im Werk L (einschl.
Werkzeugbau) umfasst bis 31.12.2018 den Abbau von 275 Stellen/Funktionen (FTE).
13
Die am Werk L zum 31.01.2015 bestehenden Stellen/Funktionen, deren geplante Änderungen entsprechend der in
Ziffer 2 bis 8 dieses Interessenausgleichs beschriebenen betriebsorganisatorischen Änderungen sowie die geplante
Verteilung der verbleibenden Stellen/Funktionen zum 31.12.2018 sind in der Anlage 3 dieses Interessenausgleichs
beschrieben.
14
Die einzelnen Maßnahmen werden so wie in der Anlage 3 beschrieben durchgeführt. Eine Verschiebung des
Zeitpunktes der Durchführung einzelner Teile der Maßnahmen oder der Maßnahmen insgesamt auf einen späteren
Zeitpunkt wird vorab mit dem Betriebsrat beraten, stellt aber keine erhebliche Abweichung von diesen
Interessenausgleich dar und sind von ihm gedeckt.
15
3.
Der Teilbetrieb Blechluftfilterfertigung am Standort Werk 2 L wird spätestens zum 31.12.2016 geschlossen und
verbleibende Lieferverpflichtungen durch Zukauf von fremden Dritten bzw. durch Verkauf von Teilen des Geschäfts
an Dritte (Outsourcing), Endbevorratungsregelungen, Umstellungen auf Nichtblechprodukte oder durch Änderungs-
und oder Beendigungsvereinbarungen mit Kunden erfüllt.
16
Eine zeitliche Verschiebung der Schließung des Blechluftfilterbereichs und ein dementsprechend späterer Abbau von
Stellen/Funktionen in diesem Bereich ist nach vorheriger Beratung mit dem Betriebsrat möglich. Eine hieraus
resultierende Belastung des Werks-G-M bleibt bei einer Bewertung der Erreichung der in der Regelungsabrede vom
20.08.2015 beschriebenen Ziel-G-M außer Betracht.
17
4.
Aus dem Produktionsbereich Kleinserie (LB-PN-SS), bestehend aus dem Produktgruppen OEM, NLG und OES
werden die Aufträge der Produktgruppe NLG bis 31.12.2015 dauerhaft an den Standort Sp vergeben und dieser
Produktbereich entsprechend kapazitativ angepasst.
18
5.
Der Bereich Luftfilter Pkw und „sonstige Kunststoffteile“ wird bis 31.12.2018 kapazitativ an die dauerhaft
sinkende Auftragslage angepasst.
19
6.
Der Teilbetrieb Saugrohrfertigung (LB-PN-AI) wird bis 31.12.2018 kapazitativ an die dauerhaft sinkende
Auftragslage angepasst.
20
7.
Der im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen dem Werk L zugeordnete Teilbetrieb Werkzeugbau wird
spätestens bis zum 31.12.2018 entsprechend der unternehmerischen Entscheidung zur Neuausrichtung der
Aufgaben des Werkzeugbaus und der damit verbundenen Restrukturierung neu aufgestellt und entsprechend
kapazitativ angepasst.
21
8.
Infolge der in den vorstehenden Ziffer 3.-7. beschriebenen Strukturveränderungen entfallen in den indirekten
Bereichen des Werks L einschließlich des Werk-Overhead (OHD) und der Werk-Logistik bis 30.12.2018 weitere in
Anlage 3 aufgeführte Stellen/Funktionen.
22
III. Umsetzung
23
1.
In Folge der zur Umsetzung der unter Ziffer II. dieses Interessenausgleichs beschriebenen Betriebsänderungen
und dem damit verbundenen Abbau von 275 Stellen/Funktionen werden im entsprechend die Arbeitsverhältnisse
und 275 Arbeitnehmern spätestens mit Wirkung zum 31.12.2018 beendet bzw. in die Passivphase der Altersteilzeit
überführt.
24
Der infolge der in Ziffer II. 2.- II.8. beschriebenen betriebsorganisatorischen Änderungen erforderliche Abbau von
Personalkapazitäten soll möglichst sozialverträglich erfolgen.
25
Konkret wird dies wie folgt umgesetzt:
26
In einem ersten Schritt werden zwischen dem 01.10.2015 und dem 31.03.2016 folgende Maßnahmen umgesetzt:
27
- beiderseits freiwillige Angebote auf Aufhebungsverträge für Arbeitnehmer der Jahrgänge 1959 und junger oder
27
- beiderseits freiwillige Angebote auf Aufhebungsverträge für Arbeitnehmer der Jahrgänge 1959 und junger oder
Arbeitnehmer der Jahrgänge 1954, 1955 oder 1956 (rentennahe Jahrgänge)
28
- beiderseits freiwillige Angebote auf Abschluss von Altersteilzeitverträgen für Arbeitnehmer der Jahrgänge
1957/1958
29
- beiderseits freiwillige Angebote auf Weiterbeschäftigung auf freien Stellen am Standort L bzw. an anderen
Standorten der MHDE unter der Voraussetzung des Vorliegens der erforderlichen Qualifikation und Eignung zum
Zeitpunkt der Versetzung mit einer maximalen Einarbeitungs- bzw. Qualifizierungszeit und 3 Monaten
30
- durch Teilzeitangebote, ggf. mit befristeten finanziellen Leistungen
31
- Beendigungsvereinbarungen mit Wiedereinstellungszusage nach frühestens 24 Monaten nach Austritt gemäß § 5
TV zur Qualifizierung
32
- durch Beendigung des Einsatzes von Leiharbeitnehmern und Abbau von befristeten Arbeitsverhältnissen im Werk
33
- beiderseits freiwilliger Ringtausch auf andere Stellen am Standort L mit dem Effekt des Wegfalls von Stellen im
Werk L unter der Voraussetzung der persönlichen und fachlichen Eignung.
34
Zu Ziffer 2 zweiter bis sechster Unterpunkt haben sich die Betriebsparteien auf ein Vorruhestands- und
Freiwilligenprogramm geeinigt. Diesbezüglich wird auf die entsprechenden Regelungen des Sozialplans vom
20.08.2015 verwiesen.
35
Soweit nicht bis zum 31.03.2016 Aufhebungs- und Altersteilzeitverträge im Rahmen des zuvor genannten
Vorruhestands- und Freiwilligenprogramms abgeschlossen wurden, die den vorgesehenen Abbau von 275
Arbeitnehmern bis spätestens zum 31.12.2018 ermöglichen, ist der Arbeitgeber berechtigt, betriebsbedingte
Beendigungskündigungen auszusprechen und entsprechend den Regelungen des Sozialplans vom 20.08.2015
gleichzeitig den Abschluss eines dreiseitigen Vertrages zum Übertritt in eine Transfergesellschaft anzubieten.
Voraussetzung für das Angebot auf Abschluss eines derartigen dreiseitigen Vertrages ist, dass
Transferkurzarbeitergeld gewährt wird.
36
Zwischen den Betriebsparteien besteht Einverständnis, dass auf diese durch betriebsbedingte
Beendigungskündigungen möglichen Personalreduzierungen eine Anrechnung von solchen Arbeitnehmern erfolgt,
deren Arbeitsverhältnis spätestens mit Wirkung zum 31.12.2018 auf Grund von bis zum 31.03.2016
37
- abgeschlossenen Aufhebungsverträgen,
38
- Beendigungsvereinbarungen mit Wiedereinstellungszusage frühestens 24 Monate nach Austritt gemäß § 5 TV zur
Qualifizierung
39
- oder durch Ablauf befristeter Arbeitsverträge, Eigenkündigungen von Arbeitsverträgen oder Tod, soweit diese
Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Beendigung auf einem Arbeitsplatz im Werk L beschäftigt wurden,
40
beendet wird oder die bis zum 31.03.2016
41
- einen Altersteilzeitvertrag (verblockt) mit Beendigung der Arbeitsphase spätestens zum 31.12.2018 oder einen
42
- unbefristeten Teilzeitvertrag
43
- oder eine Vereinbarung für eine unbefristete Tätigkeit an einem anderen Standort der MH GMBH
44
abgeschlossen haben.
45
Arbeitszeitreduzierungen durch abgeschlossene Teilzeitverträge (nicht Altersteilzeitarbeitsverträge) werden bei der
Anrechnung im prozentualen Verhältnis zu einer Vollzeitstelle (35h/Woche) berücksichtigt.
46
Der Ausspruch dieser betriebsbedingten Beendigungskündigungen darf nicht vor dem 31.05.2016 erfolgen.
47
Die Betriebspartner gehen derzeit davon aus, dass zur Durchführung dieser Betriebsänderung
Änderungskündigungen nicht erforderlich sein werden. Sollten trotzdem Änderungskündigungen erforderlich
werden, besteht Einigkeit darüber, dass dies nicht zu einer Erhöhung des oben beschriebenen Personalabbaus führen
darf.
48
2.
Der Arbeitgeber wird vor Ausspruch der betriebsbedingten Kündigungen dem Betriebsrat gemäß § 102 BetrVG
ordnungsgemäß anhören. Bei Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz wird der Arbeitgeber vor Ausspruch der
Kündigungen erforderlichenfalls die Zustimmung der zuständigen Behörden vorab einholen.
49
IV. Sozialplan
50 Zum Ausgleich und zur Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern infolge der Maßnahmen
entstehen, wird ein Sozialplan abgeschlossen.
51
V. Mitbestimmungsrechte/ Schlussbestimmungen
52
1.
Personalanpassungen, soweit diese nicht in diesem Interessenausgleich geregelt worden, sind während der
Laufzeit dieser Betriebsvereinbarung zugleich Interessenausgleich nicht ausgeschlossen. Mitwirkungsrechte des
Betriebsrates bleiben unberührt.
53
2.
Eine betriebsbedingte arbeitgeberseitige Beendigungskündigung, die
54
- vor dem 31.12.2018 ausgesprochen werden soll und
55
- die durch den dauerhaften Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit im Werk bedingt ist und
56
- nicht zur Umsetzung der in diesem Interessenausgleich vereinbarten Maßnahmen erfolgt
57
bedarf der Zustimmung des Betriebsrates gemäß § 102 Abs. 6 BetrVG. …
58
3.
59
4.
Die Parteien sind sich einig, dass der Betriebsrat über alle Einzelheiten der Betriebsänderung gemäß § 111
BetrVG umfassend unterrichtet worden ist. Damit ist das Verfahren zum Abschluss eines Interessenausgleichs
abgeschlossen.
60
5.
Der Betriebsrat wurde noch im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen umfassend gemäß § 17 Abs. 2
KSchG unterrichtet und beteiligt. Ihm sind insbesondere die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die
Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten
Arbeitnehmer, der Zeitraum in dem die Entlassungen die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen
Kriterien vorgenommen werden sollen sowie die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden
Arbeitnehmer, mitgeteilt worden. Die Parteien haben insbesondere auch die Möglichkeiten beraten, Entlassungen zu
vermeiden oder zumindest einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. Die Parteien sehen das
Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG damit als abgeschlossen an.
61
Die Parteien sind sich einig, dass durch Abschluss dieses Interessenausgleichs der Betriebsrat hierzu seine
Stellungnahmen abgegeben hat. Der Arbeitgeber wird - falls erforderlich - diese Vereinbarung in Anzeigen nach § 17
Abs. 2, 3 KSchG, 85 ff. SGB IX, 18 BEEG, 9 MuSchG, die zugleich die Stellungnahme des Betriebsrats darstellt,
beifügen.
62
6.
…“
63 Die „Anlage 3 zur BV 11/2015“ (Interessenausgleich) enthält folgende Aufstellung:
64
MA Jan
15
MA
2018
Abbau
Beispielhafte Funktionsaufzählung
Produktions-MA (inkl.
Hilfseinsteller)
364
204
160
Produktions-MA, Hilfseinsteller, Interner Service
Indirekte Funktionen in der
Fertigung
85
56
29
PBV, Schichtführer, Einsteller, Transporteure,
Assistenten/Bürohilfen
Werkzeugbau +
Instandhaltung
62
35
27
Koordinatoren, Elektroniker, Mechaniker, Maschinenbediener,
Vorrichtungsbauer,
Werkzeugmacher, CAD/CAM, Werkzeugmacher i.d.
Produktion
Technischer Service
41
26
15
Logistik
83
55
28
Q-Koordinator, SAP-IT, Inventur, Dispo, Projekte,
Auftragsabwicklung, Versand, Lager,
Transporteure, Assistenten/Bürohilfen
Qualität
39
28
11
Sonstiger Werks-OHD
15
10
5
689
414
275
65 Am 12. Mai 2016 schlossen die Betriebsparteien eine „Standortbetriebsvereinbarung 07/2016 über die
Auswahlrichtlinie gemäß §§ 95 BetrVG und 1 Abs. 4 KSchG“ die ua. bestimmt:
66 „…
2. Sozialauswahlkriterien
67 Die nachfolgend aufgeführten sozialen Gesichtspunkte werden bei der Auswahl von Arbeitnehmern zu den
beabsichtigten ordentlichen betriebsbedingten Kündigungen wie folgt gewichtet:
68
1 Lebensalter
Für jedes vollendete Lebensjahr
1
Punkt
max. 55
Punkte
2 Betriebszugehörigkeit
Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit
1
Punkt
Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit ab dem
11. Beschäftigungsjahr
Punkt
2
Punkte
max. 70
Punkte
3 Unterhaltspflichten
Verheiratet
10
Punkte
Je Kind
7
Punkte
4 Schwerbehinderung
Schwerbehinderung im Sinne der §§ 85 ff SGB IX bis zu
einem Grad der Behinderung
von GdB 50 oder Gleichstellung
8
Punkte
Je ein weiterer Punkt pro 10 GdB mehr
69 …“
70 Nach Abschluss des im Interessenausgleich beschriebenen Freiwilligenprogramms leitete die Beklagte nochmals ein
„Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG“ mit Schreiben vom 4. Mai 2016 ein, auf dessen Inhalt verwiesen
wird. Mit Schreiben vom 13. Mai 2016 gab der Betriebsrat hierzu eine „Abschließende Stellungnahme des Betriebsrats
gemäß § 17 KSchG“ ab, auf deren Inhalt ebenso Bezug genommen wird.
71 Unter dem Datum des 8. Juni 2016 zeigte die Beklagte gegenüber der Agentur für Arbeit L die beabsichtigte
Entlassung von 122 Arbeitnehmern im Zeitraum 14. Juni bis 13. Juli 2016 an. Mit Schreiben vom 9. Juni 2016
bestätigte die Agentur für Arbeit den Eingang der Anzeige.
72 Für die Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer bildete die Beklagte Vergleichsgruppen, insb. die Gruppe
„Montierer“. Dieser Gruppe ordnete die Beklagte die bei ihr beschäftigten angelernten Mitarbeiter, Montierer,
Lagermitarbeiter, Mitarbeiter im Transport und Hilfseinsteller zu. Mit Stand zum 1. April 2016 beschäftigte die
Beklagte unter Berücksichtigung bereits erfolgter Austritte noch 368 der Vergleichsgruppe „Montierer“ zuzuordnende
Arbeitnehmer. Zur Sozialauswahl innerhalb der Gruppe der „Montierer“ bildete die Beklagte Altersgruppen wie folgt:
73
Altersgr. Alter in
Jahren
Anzahl der
Beschäftigten
(Stand 1. April
2016)
Verteilung
insgesamt
Verteilung bezogen auf die
ordentlich Kündbaren
Gruppe 1
18 - 35
47
12,77 %
21,65 %
Gruppe 2
36 - 45
53
14,40 %
24,4 %
Gruppe 3
46 - 52
117
31,79 %
53,9 %
Gruppe 0
ab 53
151
41,03 %
74 Die Beklagte erklärte, nach Anhörung des Betriebsrats, allein gegenüber „Montierern“ 91 Kündigungen, wobei sie die
Kündigungen auf die Gruppe 1 bis 3 entsprechend ihrem Anteil an den ordentlich kündbaren Arbeitsverhältnissen der
„Montierer“ verteilte, dh. 20 Kündigungen (21,97 %) entfielen auf die Gruppe 1, 22 Kündigungen (24,17 %) auf die
Gruppe 2 und 49 Kündigungen (53,85 %) auf die Gruppe 3. Die Gruppe der Arbeitnehmer mit einem Lebensalter ab 53
Jahren (Gruppe 0) wurde zu Kündigungen nicht herangezogen.
75 Der Kläger wurde im Rahmen der Altersgruppenbildung der Gruppe 3 zugeordnet und erreichte nach der Berechnung
der Beklagten, wie sie der Sozialauswahl zugrunde lag, insgesamt 103 Sozialpunkte. Um in der Gruppe 3 nicht zu
dem zu kündigenden Personenkreis zu gehören waren 114 Sozialpunkte nötig. Mit Schreiben vom 14. Juni 2016
kündigte die Beklagte auch das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30. Juni 2017.
76 Aus der Gesamtliste der Gruppe der „Montierer“ (Anlage B4) ergibt sich auszugsweise, dass ua. die folgenden
Arbeitnehmer nicht gekündigt wurden:
77
Nachn. Vorname Betriebszugehörigkeit Geb.-
Datum
Altersgruppe Familienstand Kinder
lt.
LSt-
Karte
Punkte
Y
R
2
73
T
M
2
73
C
M
2
73
A
M
2
73
Ü
C
2
75
Ü
C
2
75
T
K
1
51
K
M
1
51
F
C
1
51
A
T
1
51
Ak
T
1
51
D
A
63
M
R
69
S
V
85
K
J
85
P
Z
89
M
D
94
E
O
94
R
J
95
P
S
96
B
H
97
T
H
98
78 Mit der am 29. Juni 2016 beim Arbeitsgericht Stuttgart, Kammern Ludwigsburg, eingegangenen Klage wendet sich der
Kläger gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses.
79 Der Kläger macht im Wesentlichen das Fehlen eines dringenden betrieblichen Erfordernisses und eine mangelhafte
Sozialauswahl geltend. Insbesondere rügt der Kläger das Fehlen einer plausiblen Altersgruppenbildung und das
Überschreiten der Anwendungsgrenze des § 4.4 MTV.
80 Der Kläger beantragt zuletzt:
81
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten
vom 14. Juni 2016 nicht aufgelöst worden ist.
82
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag
zu Ziffer 1 zu den im Arbeitsvertrag vom 1. März 1990 geregelten Arbeitsbedingungen als
Produktionsmitarbeiter bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag
weiter zu beschäftigen.
83 Die Beklagte beantragt,
84
die Klage abzuweisen.
85 Die Beklagte behauptet im Wesentlichen, am 26. August 2014 habe die Geschäftsführung der Beklagten eine
unternehmerische Entscheidung zur Neuausrichtung des Werks mit dem Schwerpunkt auf der Herstellung von
Flüssigkeitsfiltern und unter Berücksichtigung eines zu erwartenden Serienumsatzrückgangs von 172 Mio. Euro (Ist-
Umsatz 2014) auf 121 Mio. Euro (Plan-Umsatz) zwischen 2015 und 2018 getroffen. Teil dieser Entscheidung sei insb.
die Neuausrichtung des Werks mit einer Konzentration auf die Kernkompetenz der Herstellung komplexer
Flüssigkeitsfilter, die Schließung der Blechluftfilterfertigung in L, die Verlagerung der NLG-Montage nach Sp, die
Auslauffertigung Saugrohre in Lost Core Technologie, die Auslauffertigung bestehender Projekte der Luftfilterfertigung
Pkw und sonstige Kunststoffteile und die Anpassung der Personalkapazität und der damit verbundenen Personalkosten
an die veränderten Umsatz- und Absatzzahlen. Darüber hinaus sei am 23. September 2014 die unternehmerische
Entscheidung getroffen worden, ein globales technisches Mold Management Team in China zu etablieren, um künftig
Engpässe bei der Beschaffung von Spritzgusswerkzeugen zu vermeiden. Als Folge hiervon sei die Entscheidung
getroffen worden, den Werkzeugbau zu reduzieren und den Teil des Werkzeugbaus, der sich mit Innovationsprojekten
beschäftigt, organisatorisch mit 6 Mitarbeitern in den Bereich Global Lead Team zu integrieren und die verbleibenden
24 Mitarbeiter aus dem Werkzeugbau organisatorisch in das Werk L zu integrieren. Der Werkzeugbau sei zum 1. Juli
2015 dem Werk L organisatorisch zugeordnet worden. Im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen sei sodann
der Abbau von 275 Stellen vereinbart worden, wobei im Rahmen des Freiwilligenprogramms 153 Stellen bereits
erbracht worden seien. Folglich seien noch 122 Kündigungen auszusprechen gewesen. Zum Januar 2015 seien
insgesamt 419 angelernte Mitarbeiter, Montierer, Lagermitarbeiter, Mitarbeiter im Transport und Hilfseinsteller
(Gruppe der „Montierer“) in den Abteilungen LB-PN-PP, LB-PN-FF, LB-PN-AI, LB-PN-AF, LB-PN-SS, LB-PN-IS, LB-PN-
SM, LB-PN-ST, LB-PN-SP, LB-LG-DP, LB-LG-MT, LB-LG-SM, LB-LG-WF, LB-LG-WH, LB-LG-WP, LB-TS-AS und LB-TS-
SM, LB-PN-ST, LB-PN-SP, LB-LG-DP, LB-LG-MT, LB-LG-SM, LB-LG-WF, LB-LG-WH, LB-LG-WP, LB-TS-AS und LB-TS-
MA-AS beschäftigt worden. Die Beklagte habe am 17. Februar 2015 durch das Management Board Committe die
Entscheidung getroffen, spätestens ab dem 4. Quartal 2016 die bislang im Betrieb hergestellten Blechluftfilter nicht
mehr selbst zu fertigen, sondern zuzukaufen, die Abteilungen LB-PN-SM, LB-PN-SP und LB-PN-ST würden spätestens
zum 31. Dezember 2016 geschlossen und verbleibende Lieferverpflichtungen durch den Zukauf von Dritten abgedeckt
(Interessenausgleich Ziffer II 3), damit entfalle der Beschäftigungsbedarf für 37 Arbeitnehmer. Am 26. August 2014 sei
beschlossen worden, die Produktion der Filterbaureihe NLG (Abteilung LB-PN-SS) an den Standort Sp zu verlagern
(Interessenausgleich Ziffer II 4), was zum 31. Dezember 2015 durchgeführt worden sei. Damit seien 5 Arbeitsplätze
entfallen. Ebenfalls am 26. August 2014 sei die Entscheidung getroffen worden, die Saugrohrfertigung an die
dauerhaft sinkende Auftragslage anzupassen. Im Januar 2015 seien für die Fertigung von drei Saugrohrvarianten
8.942,13 Arbeitsstunden (netto) erforderlich gewesen, was bei 112,08 Arbeitsstunden pro Mitarbeiter 26,59
Mitarbeiter zzgl. zweier Transporteure, dh. 28,59 Mitarbeiter erforderlich machte. Diese Zahl mit 1,4 multipliziert (zur
Berücksichtigung von Abwesenheiten) und um eine Ineffizienz von 25 % erhöht habe im Januar 2015 einen Bedarf
von 53,4 Mitarbeitern ergeben. Tatsächlich seien 60 Mitarbeiter beschäftigt worden. Aufgrund der Planungen würden
im Juni 2017 lediglich noch 2.170,85 Arbeitsstunden erforderlich sein, was 6,46 Mitarbeitern zzgl. eines Transporteurs
entspreche. Dies mit einem Faktor von 1,3 und einer geringeren Ineffizienz um 20% erhöht, ergebe noch einen
Mitarbeiterbedarf von 12,1; zum Zeitpunkt des Interessenausgleichs seien noch 43 „Montierer“ in der
Saugrohrfertigung beschäftigt gewesen. Am 24. August 2014 sei die Entscheidung getroffen worden
(Interessenausgleich Ziffer II 5), bis spätestens zum 31. Dezember 2018 Luftfilter Pkw und sonstige Kunststoffteile
nicht mehr in L zu fertigen und die Mitarbeiterzahl an die dauerhaft sinkende Auftragslage anzupassen. Während im
Jahr 2013 ein Umsatz von ca. 50 Mio. Euro bei 3,6 Mio. Stück erreicht worden sei, werde dem Umsatz in 2018 bei ca.
25 Mio. Euro bei ca. 3 Mio. Stück liegen. Bis zum 31. Dezember 2016 entfielen damit 29 Arbeitsplätze; aufgrund des
Produktionsauslaufs zum 30. Juni 2017 entfielen weitere 6 Arbeitsplätze. Des Weiteren sei infolge der beschlossenen
Änderungen auch die Anpassung im Bereich der Lager-, Transport und Service-Tätigkeiten beschlossen worden (Ziffer
II 8 des Interessenausgleichs). Transport- und Lagertätigkeiten fielen weg. Von 47 in den einzelnen Abteilungen
angesiedelten Arbeitsplätzen entfielen 21 bis zum 31. Dezember 2016 und weitere 8 bis zum 30. Juni 2017.
Insgesamt fielen von 419 Arbeitsplätzen 191 vollständig und dauerhaft weg, es verblieben 228 „Montierer“.
Berücksichtige man den freiwilligen Austritt von Mitarbeitern bis 31. März 2016 sowie das Auslaufen von Befristungen
und andere Beendigungstatbestände (bspw. Renteneintritt), so verblieben 319 „Montierer“, von denen 91 zu
kündigen seien, um die Zielgröße von 228 Arbeitnehmern zu erreichen. In die Sozialauswahl seien die vergleichbaren
Arbeitnehmer, dh. alle „Montierer“ (angelernte Mitarbeiter, Montierer, Lagermitarbeiter, Mitarbeiter im Transport und
Hilfseinsteller) einbezogen worden. Für die Vergleichsgruppe der „Montierer“ seien Altersgruppen gebildet worden.
Dies sei notwendig gewesen, um eine erhebliche Verschlechterung der Altersstruktur zu vermeiden. Ohne eine
Altersgruppenbildung wäre das Durchschnittsalter der Montierer von 49,7 Jahren auf 54,3 Jahre angestiegen. Infolge
der Regelung des § 4.4 MTV sei eine Altersgruppe (Gruppe 0) der unkündbaren „Montierer“ ab 53 Jahren zu bilden
gewesen, die keine Berücksichtigung bei den Kündigungen habe finden können. Die 91 ausgesprochenen Kündigungen
seien daher auf die Gruppen 1 bis 3 entsprechend ihrem Anteil der kündbaren Arbeitsverhältnisse verteilt worden.
Hierbei sei das vereinbarte Punkteschema zur Anwendung gelangt. Schließlich seien aus der Sozialauswahl die
Mitarbeiter F C und W M ausgenommen worden, weil deren Weiterbeschäftigung im berechtigten betrieblichen
Interesse der Beklagten liege. Hinsichtlich aller der Vergleichsgruppe „Montierer“ zugeordneten Mitarbeiter nimmt die
Beklagte auf die Anlage B4 Bezug.
86 Hinsichtlich des Parteivorbringens im Einzelnen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf die
Protokolle der mündlichen Verhandlungen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A.
87 Die Klage hat Erfolg. Die streitgegenständliche Kündigung beendet das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zum 30.
Juni 2017.
I.
88 Die Kündigung vom 14. Juni 2016 beendet das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht. Die Kündigung, die nach den
Bestimmungen der §§ 23 Abs. 1, 1 Abs. 1 KSchG am Maßstab des Kündigungsschutzgesetzes zu messen ist, ist nicht
sozial gerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2, 3 KSchG und daher rechtsunwirksam.
89
1.
Die Kündigung gilt zunächst nicht schon nach § 7 KSchG als von Anfang an als rechtswirksam. Der Kläger hat die
Kündigung rechtzeitig innerhalb der 3-Wochenfrist des § 4 Satz 1 KSchG gerichtlich angegriffen.
90
2.
Die Kündigung ist nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse iSv. § 1 Abs. 2 KSchG, welcher der
Weiterbeschäftigung des Klägers über den 30. Juni 2016 hinaus entgegenstehen würden, bedingt.
91
a)
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können sich dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne
des § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG aus innerbetrieblichen oder außerbetrieblichen Gründen ergeben. Aus innerbetrieblichen
Gründen ist eine Kündigung gerechtfertigt, wenn sich der Arbeitgeber im Unternehmensbereich zu einer
organisatorischen Maßnahme entschließt, bei deren innerbetrieblichen Umsetzung das Bedürfnis für die
Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer entfällt
(vgl. BAG 27. Juni 2002 - 2 AZR 489/01 - Rn. 17,
EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 119; 17. Juni 1999 - 2 AZR 141/99 - EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte
Kündigung Nr. 102 = NZA 1999, 1098 ff.)
. Ein dringendes "betriebliches" Erfordernis, das einer Weiterbeschäftigung
entgegensteht, ist gegeben, wenn die Arbeitskraft des Arbeitnehmers im Betrieb nicht mehr gefordert ist. Der
entgegensteht, ist gegeben, wenn die Arbeitskraft des Arbeitnehmers im Betrieb nicht mehr gefordert ist. Der
Arbeitgeber ist grundsätzlich nicht gehalten, nicht mehr benötigte Arbeitsplätze und Arbeitskräfte weiter zu
besetzen bzw. zu beschäftigen. Auf die "Dringlichkeit" der unternehmerischen Entscheidung selbst kommt es dabei
nicht an
(vgl. BAG 31. Juli 2014 - 2 AZR 422/13 - Rn. 31, EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 181)
.
92
aa)
Die unternehmerische Entscheidung unterliegt gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nur einer
Missbrauchskontrolle
(vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung und der an ihr vorgenommenen Kritik: Krause RdA
2016, 49 ff.)
. Sie ist lediglich daraufhin zu überprüfen, ob sie offenbar unvernünftig oder willkürlich ist und ob sie
tatsächlich ursächlich für den vom Arbeitgeber geltend gemachten Beschäftigungswegfall ist. Die gerichtliche
Kontrolle einer unternehmerischen Entscheidung zielt nicht darauf ab, dem Arbeitgeber organisatorische Vorgaben
zu machen. Sie dient nicht dazu, die Stichhaltigkeit der Erwägungen zu prüfen, die ihn gerade zu dem von ihm
gewählten Konzept bewogen haben. Es ist nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG dem Arbeitgeber überlassen, wie er sein
Unternehmen führt, ob er es überhaupt weiterführt und ob er seine Betätigungsfelder einschränkt. Er kann
grundsätzlich Umstrukturierungen allein zum Zwecke der Ertragssteigerung vornehmen
(vgl. BAG 20. Juni 2013 - 2
AZR 379/12 - Rn. 20, BAGE 145, 265)
. Es kommt bei einer zulässigen Fremdvergabe von Aufgaben nicht darauf an,
ob der Arbeitgeber tatsächlich durch die Beauftragung des Drittunternehmens Kosten spart
(vgl. BAG 20. November
2014 - 2 AZR 512/13 - Rn. 28, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 207 = EzA KSchG § 1
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 182)
. Es geht allein um die Verhinderung von Missbrauch. Ein solcher kann vorliegen,
wenn das Konzept des Arbeitgebers alleine darauf abzielt, den Arbeitnehmer „loszuwerden“ und dies mit einer
unternehmerischen Entscheidung zu begründen
(vgl. BAG 18. Juni 2015 - 2 AZR 480/14 - Rn. 34 mwN)
.
Grundsätzlich trifft den Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für eine offensichtlich unvernünftige oder
willkürliche Entscheidung
(vgl. BAG 29. August 2013 - 2 AZR 809/12 - Rn. 18, BAGE 146, 37)
, wobei allerdings der
Grundrechtsschutz auch verfahrensrechtlich umzusetzen ist, so dass der Arbeitgeber in einem ersten Schritt
zumindest einen irgendwie einleuchtenden Grund als Motiv vorbringe muss
(vgl. Krause RdA 2016, 49, 55)
. Zum nur
eingeschränkt überprüfbaren Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers gehört auch die Befugnis, die Zahl der
Arbeitskräfte zu bestimmen, mit denen eine Arbeitsaufgabe im Betrieb - zukünftig - erledigt werden soll; der
Arbeitgeber kann grundsätzlich sowohl das Arbeitsvolumen (Menge der zu erledigenden Arbeit) als auch das diesem
zugeordneten Arbeitskraftvolumen (Arbeitnehmer-Stunden) und damit auch das Verhältnis dieser beiden Größen
zueinander festlegen
(vgl. BAG 9. November 2006 - 2 AZR 509/05 - Rn. 37, BAGE 120, 115 mwN)
. Daher kann er
auch bestimmen, ob bestimmte Arbeiten weiter im eigenen Betrieb ausgeführt oder an Drittunternehmen vergeben
werden sollen
(vgl. BAG 20. November 2014 - 2 AZR 512/13 - Rn. 27, aaO; 22. November 2012 - 2 AZR 673/11 - Rn.
17, AP BGB § 626 Unkündbarkeit Nr. 2 = EzA BGB 2002 § 626 Unkündbarkeit Nr. 18)
.
93
bb)
In vollem Umfang gerichtlich überprüfbar ist die Frage, ob die vom Arbeitgeber getroffene
Unternehmerentscheidung tatsächlich vorliegt und sich im betrieblichen Bereich dahin auswirkt, dass für die
Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers kein Bedürfnis mehr besteht
(vgl. BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR
124/11 - Rn. 21, EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 167 = NZA 2012, 1223; KR-Griebeling/Rachor 11.
Aufl. § 1 KSchG Rn. 534; vHH/L/Krause 15. Aufl. § 1 KSchG Rn. 729 ff.)
. Die unternehmerische Entscheidung, die
keinem Formzwang unterliegt, muss im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung tatsächlich bereits getroffen worden
sein
(vgl. BAG 31. Juli 2014 - 2 AZR 422/13 - Rn. 34 f., aaO)
. Läuft die unternehmerische Entscheidung darauf
hinaus, den Personalbestand auf Dauer zu reduzieren, verbunden mit einer Neuverteilung der dem betroffenen
Arbeitnehmer oder den betroffenen Arbeitnehmern bisher zugewiesenen Aufgaben, bedarf es der Konkretisierung
dieser Entscheidung hinsichtlich ihrer organisatorischen Durchführbarkeit und hinsichtlich des Begriffs "Dauer", um
dem Gericht im Hinblick auf die gesetzlich dem Arbeitgeber auferlegte Darlegungslast (§ 1 Abs. 2 S. 4 KSchG) eine
Überprüfung zu ermöglichen
(BAG vom 17. Juni 1999 - 2 AZR 141/99 -;10. Oktober 2002 - 2 AZR 598/01 -)
. Je näher
dabei die eigentliche Organisationsentscheidung an den Kündigungsentschluss rückt, umso mehr muss der
Arbeitgeber durch Tatsachenvortrag verdeutlichen, dass ein Beschäftigungsbedürfnis für den Arbeitnehmer entfallen
ist
(vgl. BAG 17. Juni 1999 - 2 AZR 141/99 - NZA 1999, 1098 ff.)
; die hohe Kontrolldichte ist dabei
verfassungsrechtlich geboten
(vgl. BAG 20. Juni 2013 - 2 AZR 379/12 - Rn. 23, aaO)
.
94
(1)
Hängt der Wegfall des Beschäftigungsbedarfs von einer solchen unternehmerisch-organisatorischen Maßnahme
des Arbeitgebers ab, braucht diese bei Kündigungszugang noch nicht tatsächlich umgesetzt zu sein. Es genügt, dass
sie sich konkret und greifbar abzeichnet. Dazu müssen - soweit die Kündigung ihren Grund in einer Änderung der
betrieblichen Organisation hat - zumindest die Absicht und der Wille des Arbeitgebers, die fraglichen Maßnahmen
vorzunehmen, schon vorhanden und abschließend gebildet worden sein. Andernfalls lässt sich im Zeitpunkt des
Zugangs der Kündigung - auf den es dafür unverzichtbar ankommt - nicht hinreichend sicher prognostizieren, es
werde bis zum Ablauf der Kündigungsfrist tatsächlich zum Wegfall des Beschäftigungsbedarfs kommen
(vgl. BAG 20.
November 2014 - 2 AZR 512/13 - Rn. 16, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 207 = EzA KSchG § 1
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 182)
.
95
(2)
Sind Organisationsentscheidung und Kündigungsentschluss des Arbeitgebers praktisch deckungsgleich, greift die
ansonsten berechtigte Vermutung, die Entscheidung sei aus sachlichen Gründen erfolgt, nicht unbesehen. In diesem
Fall muss der Arbeitgeber vielmehr konkrete Angaben dazu machen, wie sich seine Organisationsentscheidung auf
die Möglichkeit eines Einsatzes des Arbeitnehmers auswirkt
(vgl. BAG 16. Dezember 2010 - 2 AZR 770/09 - Rn. 14,
AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 186 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 165)
.
Dabei darf sich der Arbeitgeber nicht auf eine schlagwortartige Umschreibung beschränken; er muss seine
tatsächlichen Angaben vielmehr so im Einzelnen darlegen (substantiieren), dass sie vom Arbeitnehmer mit
Gegentatsachen bestritten und vom Gericht überprüft werden können. Bei Kündigungen aus innerbetrieblichen
Gründen muss der Arbeitgeber also darlegen, welche organisatorischen oder technischen Maßnahmen er angeordnet
hat und wie sich die von ihm behaupteten Umstände unmittelbar oder mittelbar auf die Beschäftigungsmöglichkeit
für den oder die gekündigten Arbeitnehmer auswirken, dh. in welchem Umfang die bisher vom Arbeitnehmer
ausgeübten Tätigkeiten zukünftig im Vergleich zum bisherigen Zustand entfallen
(BAG vom 17. Juni 1999 - 2 AZR
141/99 - aaO; 10. Oktober 2002 - 2 AZR 598/01 - AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 123 = EzA
KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 122)
.
96
(3)
Der Arbeitgeber muss die Auswirkungen seiner unternehmerischen Vorgaben und Planungen auf das erwartete
Arbeitsvolumen anhand einer schlüssigen Prognose im Einzelnen darstellen und angeben, wie die anfallenden
Arbeiten vom verbliebenen Personal ohne überobligationsmäßige Leistungen, dh. im Rahmen ihrer vertraglich
geschuldeten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit erledigt werden können
(vgl. BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR
124/11 - Rn. 23, aaO; 10. Oktober 2002 - 2 AZR 598/01 - Rn. 44, aaO; 27. September 2001 - 2 AZR 176/00 - EzA
KSchG § 14 Nr. 6)
, was auch dann gilt, wenn die unternehmerische Entscheidung auf den Abbau einer
Hierarchieebene verbunden mit einer Umverteilung der dem betroffenen Arbeitnehmer bisher zugewiesenen
Arbeiten, hinausläuft
(vgl. BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR 124/11 - Rn. 23, aaO; 16. Dezember 2007 - 2 AZR 770/09 -)
.
Nur anhand einer solchen Darlegung kann seitens des Gerichts geprüft werden, dass die Kündigung nicht zu einer
rechtswidrigen Überforderung oder Benachteiligung des im Betrieb verbliebenen Personals führt oder die zugrunde
liegende unternehmerische Entscheidung lediglich Vorwand dafür ist, bestimmte Arbeitnehmer aus dem Betrieb zu
drängen, obwohl Beschäftigungsbedarf und Beschäftigungsmöglichkeiten objektiv fortbestehen und etwa nur der
Inhalt des Arbeitsvertrags als zu belastend angesehen wird
(vgl. BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR 124/11 - Rn. 22, aaO;
23. Februar 2012 - 2 AZR 548/10 - Rn. 18, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 189 = EzA KSchG § 1
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 166)
. Begründet der Arbeitgeber den Wegfall von Beschäftigungsbedarf bspw. mit
einer Anpassung an das Auftragsvolumen, muss er die Auftrags- und Personalplanung im Einzelnen darstellen, insb.
warum nicht nur eine kurzfristige Abwärtsbewegung vorliegt, sondern ein dauerhafter Auftragsrückgang zu
erwarten ist. Die Möglichkeit einer „normalen“, im Rahmen des Üblichen liegenden Auftragsschwankung muss
prognostisch ausgeschlossen sein. Dem müssen der Inhalt und die Substanz des Sachvortrags des Arbeitgebers
gerecht werden. Dieser hat den nachhaltigen Rückgang des Arbeitsvolumens nachvollziehbar darzustellen, indem er
die einschlägigen Daten aus repräsentativen Referenzperioden miteinander vergleicht
(vgl. BAG 20. Februar 2014 - 2
AZR 346/12 - Rn. 14 mwN, BAGE 147, 237 zu einer Kündigung gestützt auf die außerbetriebliche Entwicklung)
.
97
b)
Nach diesen Maßstäben kann die Kammer anhand des Vortrags der Beklagten nicht nachvollziehen, aufgrund
welcher Umstände das Bedürfnis zur Beschäftigung von weiteren 91 „Montierern“ mit Ablauf des 30. Juni 2017
enden soll. Zwar hat die Beklagte angegeben, aufgrund welcher Teilentscheidungen in welchen Bereichen künftig mit
weniger Personal gearbeitet werden soll. Insbesondere ist der Beklagtenvortrag nachvollziehbar, soweit er bereits
zum 31. Dezember 2015 umgesetzte Teilentscheidungen betrifft (Schließung der Blechluftfilterfertigung und
Verlagerung der Filterbaureihe NLG nach Sp). Auch hat die Beklagte das künftig prognostiziert notwendige
Arbeitsvolumen im Bereich der Saugrohrfertigung näher angegeben. Dies genügt jedoch nicht, um es für die Kammer
nachvollziehbar zu machen, dass mit Ablauf des 30. Juni 2017 auf insgesamt (weitere) 91 „Montierer“ verzichtet
werden kann. Insbesondere bezüglich der Kapazitätsanpassung im Bereich der „Luftfilterfertigung Pkw und sonstige
Kunststoffteile“ ist nicht nachvollziehbar, weshalb bis 31. Dezember 2016 ein Überhang von 29 Arbeitsplätzen und
zum 30. Juni 2017 von weiteren 6 Arbeitsplätzen entstanden bzw. entstehen soll. Auch über den 30. Juni 2017
hinaus wird die Beklagte Luftfilter für Pkw und sonstige Kunststoffteile fertigen. Jedenfalls gibt die Beklagte selbst
einen noch zu erwartenden Umsatz für das Jahr 2018 an. Von welchem notwendigen Beschäftigungsvolumen die
Beklagte hierbei in Arbeitsstunden prognostisch zu welchem Zeitpunkt ausgeht bzw. ausgegangen ist, ist unklar.
Auch für den Bereich „Lager-, Transport und Service-Tätigkeiten“ kann die Kammer anhand des Vortrags der
Beklagten nicht nachvollziehen, weshalb zum 31. Dezember 2016 ein Überhang von 21 Arbeitsplätzen entstanden
sein und zum 30. Juni 2017 ein weiterer Arbeitsplatzüberhang von 8 hinzukommen soll. Auch aus dem
Interessenausgleich selbst bzw. dessen Anlagen ergibt sich nicht, welches notwendige Beschäftigungsvolumen
prognostisch in Arbeitsstunden zu welchem Zeitpunkt vorliegen soll. Insb. ergeben sich aus der Anlage 3 des
Interessenausgleichs nur der Umfang des Abbaus und die Zielgröße der künftigen Arbeitsplätze. Insgesamt ist
deshalb für die Kammer nicht nachzuvollziehen, weshalb 91 Kündigungen durch dringende betriebliche Erfordernisse
bedingt sein sollen.
98
3.
Die streitgegenständliche Kündigung ist zudem auch nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG sozial ungerechtfertigt. Nach §
1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist eine Kündigung auch dann sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl
des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, bestehende Unterhaltsverpflichtungen und
eine Schwerbehinderung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Dies ist hier der Fall. Die Beklagte
beschäftigt eine Vielzahl von weniger schutzwürdigeren Arbeitnehmer weiter, bspw. K T (51 Punkte), M K (51
Punkte), C F (51 Punkte), T A (51 Punkte), T Ak (51 Punkte) aus der Altersgruppe 1 oder R Y (73 Punkte), M T (73
Punkte) und M C (73 Punkte) aus der Altersgruppe 2. Der Kläger erreichte demgegenüber 103 Punkte. Die
vorgenommene soziale Auswahl ist nach Maßgabe von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG im Ergebnis nicht ausreichend. Auf
das Privileg, die Sozialauswahl nur in Altersgruppen durchführen zu können (§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG), kann sich die
Beklagte nicht berufen
(vgl. zu den Konsequenzen einer fehlerhaften Altersgruppenbildung: BAG 26. März 2015 - 2
AZR 478/13 - Rn. 16, AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 25 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 88; 19. Juli 2012
- 2 AZR 352/11 - Rn. 33, BAGE 142, 339)
.
99
a)
Die von der Beklagten getroffene Auswahl zur Kündigung des Klägers genügte nicht den Anforderungen an eine
Sozialauswahl im Rahmen von Altersgruppen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG.
100
aa)
§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG gestattet in Abweichung von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG die Vornahme der Sozialauswahl
im Rahmen von Altersgruppen, wenn dies zur Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur der Belegschaft im
im Rahmen von Altersgruppen, wenn dies zur Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur der Belegschaft im
berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Das setzt voraus, dass die im konkreten Fall vorgenommene
Altersgruppenbildung und die daraus abgeleiteten Kündigungsentscheidungen zur Sicherung der bestehenden
Personalstruktur tatsächlich geeignet sind
(BAG 26. März 2015 - 2 AZR 478/13 - Rn. 13, aaO; 24. Oktober 2013 - 6
AZR 854/11 - Rn. 49, BAGE 146, 234; 19. Juli 2012 - 2 AZR 352/11 - Rn. 26, BAGE 142, 339)
. Daran fehlt es
vorliegend, auch wenn hier vom berechtigten betrieblichen Interesse an einer Abweichung von der Sozialauswahl
nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG auszugehen ist, weil eine die Schwellenwerte des § 17 KSchG (innerhalb der
Auswahlgruppe im Verhältnis aller im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer) überschreitende Massenkündigung
gegeben ist
(vgl. dazu: BAG 24. Oktober 2013 - 6 AZR 854/11 - Rn. 54, aaO)
.
101
bb)
Nicht zu beanstanden ist im Grundsatz zunächst, dass ein Arbeitgeber die Altersgruppenbildung in der Weise
vornimmt, dass die Gruppe der (tariflich) ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer nicht zur (proportionalen) Verteilung
der anstehenden Kündigungen herangezogen wird. Bei der Altersgruppenbildung müssen innerhalb des zur
Sozialauswahl anstehenden Personenkreises nach sachlichen Kriterien Altersgruppen gebildet (Schritt 1), dann die
prozentuale Verteilung der Belegschaft auf die Altersgruppen festgestellt (Schritt 2) und anschließend (Schritt 3) die
Gesamtzahl der auszusprechenden Kündigungen diesem Proporz entsprechend auf die einzelnen Altersgruppen
verteilt werden
(vgl. BAG 26. März 2015 - 2 AZR 478/13 - Rn. 15, aaO; 15. Dezember 2011 - 2 AZR 42/10 - Rn. 60,
BAGE 140, 169)
. Die tariflich sonderkündigungsgeschützten Arbeitnehmer gehören im Grundsatz nicht zum in die
Sozialauswahl einzubeziehenden vergleichbaren Arbeitnehmer. Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis durch
ordentliche Kündigung nicht beendet werden kann, sind grundsätzlich nicht in eine Sozialauswahl einzubeziehen.
Fehlt dem Arbeitgeber die rechtliche Möglichkeit gegenüber einem Arbeitnehmer wirksam eine betriebsbedingte
Kündigung zu erklären, so kann ein gekündigter Arbeitnehmer nicht mit Erfolg geltend machen, nicht sein
Arbeitsverhältnis, sondern das einem besonderen Kündigungsschutz unterliegende Arbeitsverhältnis eines ansonsten
vergleichbaren Arbeitnehmers hätte gekündigt werden müssen. Gesetzliche Kündigungsverbote gehen dem
allgemeinen Kündigungsschutz als spezialgesetzliche Regelungen vor
(vgl. BAG 17. November 2005 - 6 AZR 118/05 -
Rn. 17, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 60 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 64; 21. April 2005 - 2 AZR 241/04 - Rn.
18, BAGE 114, 258)
. Die Beklagte hat dementsprechend - bezogen auf alle „Montierer“, dh. einschließlich des nach §
4.4 MTV geschützten Personenkreises - versucht, die noch gestaltbare Altersstruktur zu sichern, was im Grundsatz
keinen Bedenken begegnet. Eine altersgruppenbezogene Sozialauswahl ist auch dann zulässig, wenn der Betrieb
bereits einen (unausgewogenen) hohen Anteil älterer (ggf. altersgeschützter) Arbeitnehmer aufweist, dessen
Steigerung verhindert werden soll
(vgl. SPV/Preis 11. Aufl. Rn. 1128)
.
102
cc)
Richtig ist auch, dass dem Arbeitgeber (ggf. im Zusammenwirken mit dem Betriebsrat) hinsichtlich des „Ob“ und
des „Wie“ ein Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum eingeräumt ist
(vgl. BAG 15. Dezember 2011 - 2 AZR 42/10 -
Rn. 65, aaO)
. Die Altersgruppenbildung muss im Einzelfall aber angemessen und erforderlich sein, insb. darf die
Altersgruppenbildung nicht gegen Rechtsvorschriften verstoßen. Zu beanstanden ist hier, dass die Beklagte die
Anwendungsgrenze des § 4.4 MTV nicht beachtet und auch solche von § 4.4 MTV erfasste Arbeitnehmer von der
Sozialauswahl ausgenommen hat, deren Nichtberücksichtigung zu einer im Ergebnis grob fehlerhaften Sozialauswahl
führt.
103
(1)
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die in § 4.4 MTV getroffene Regelung wirksam. Sie führt
zwar zu einer unmittelbaren Benachteiligung der von ihr nicht erfassten Arbeitnehmer iSv. § 3 Abs. 1, § 1 AGG
wegen des Merkmals des Alters, ist jedoch bei gesetzes- und verfassungskonformen und einer an Sinn und Zweck der
Norm orientierten Auslegung nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG gerechtfertigt
(vgl. BAG 20. Juni 2013 - 2 AZR
295/12 - Rn. 41 ff., BAGE 145, 296)
. Eine gesetzes- und verfassungskonforme Auslegung erfordert es dabei, zu
gewährleisten, das zumindest grobe Auswahlfehler vermieden werden
(vgl. BAG 20. Juni 2013 - 2 AZR 295/12 - Rn.
50, aaO)
, weil der Tarifnorm nicht die Bedeutung zugemessen werden kann, den durch sie vermittelten Schutz auch
gegenüber evident schutzwürdigeren Arbeitnehmer, die nicht unter die Tarifnorm fallen, beanspruchen zu wollen. Es
gibt keine Grundlage für die Annahme, dass die Tarifvertragsparteien den besonderen Kündigungsschutz auch in
solchen Fällen zur Geltung gebracht wissen wollten, in denen die höhere Schutzbedürftigkeit anderer, von § 4.4 MTV
nicht erfasster Arbeitnehmer offenkundig ist
(vgl. BAG 20. Juni 2013 - 2 AZR 295/12 - Rn. 52, aaO)
.
104
(2)
Die Beklagte hat - unterschiedslos - alle Arbeitnehmer, auf deren Arbeitsverhältnis § 4.4 MTV Anwendung findet,
von der Sozialauswahl ausgenommen (Gruppe 0), ohne zu beachten, dass in diese Gruppe evident weniger
schutzwürdigere Arbeitnehmer fallen, verglichen mit solchen Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis ordentlich
(noch) kündbar ist (Gruppe 3). In der Gruppe 3 wurden selbst solche Arbeitnehmer gekündigt, die nach Anwendung
des kollektiv-rechtlich vereinbarten Punkteschemas (Auswahlrichtlinie, § 95 BetrVG) 113 Punkte erreicht haben. Erst
eine Punktzahl von 114 Punkten führte in der Gruppe 3 dazu, dass der jeweilige Arbeitnehmer nicht zu dem zu
kündigenden Personenkreis gehörte. Demgegenüber sind Arbeitnehmer (Gruppe 0) von der Sozialauswahl
ausgenommen worden, die in Anwendung der Auswahlrichtlinie unter 100 Punkte erreicht haben (63, 69, 75, 85,
89, 94, 95, 96, 97, 98, 99 Punkte). Dies ist grob fehlerhaft. Grobe Fehlerhaftigkeit bedeutet, dass ganz tragende
Gesichtspunkte nicht in die Bewertung einbezogen worden sind und die Bewertung damit evident unzulänglich ist
und jede Ausgewogenheit vermissen lässt
(vgl. zur groben Fehlerhaftigkeit iSv. § 1 Abs. 5 KSchG: BAG 27.
September 2012 - 2 AZR 516/11 - Rn. 45, BAGE 143, 177; 12. März 2009 - 2 AZR 418/07 - Rn. 32, AP KSchG 1969
§ 1 Soziale Auswahl Nr. 97 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 17; 3. April 2008 - 2 AZR 879/06 - Rn. 16, AP
KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 17 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 15; zu § 1 Abs. 4 KSchG: ErfK/Oetker §
1 Rn. 358)
. Demgegenüber begründen marginale Unterschiede in den in Anwendung der Punktetabelle vergebenen
Punkten keine grobe Fehlerhaftigkeit
(vgl. BAG 18. Oktober 2012 - 6 AZR 289/11 - Rn. 49 mwN, AP KSchG 1969 § 1
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 195 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 169)
. Vorliegend kann von
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 195 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 169)
. Vorliegend kann von
lediglich marginalen Abweichungen nicht ausgegangen werden; die Herausnahme von Arbeitnehmern mit unter 100,
zum Teil deutlich unter 100 Punkten, lässt die daraufhin getroffene Auswahl als evident unzulänglich erscheinen,
wenn gleichzeitig Arbeitnehmer mit bis zu 113 Punkten in der Gruppe 3 zur Kündigung anstanden. Erreichte ein von
der Sozialauswahl ausgenommener, § 4.4 MTV unterfallender Arbeitnehmer bspw. 85 Punkte, während selbst 113
Punkte in der Gruppe 3 nicht genügten, um zu den nicht gekündigten Arbeitnehmern zu gehören, so liegen diesem
Abstand (28 Punkte) nach der Auswahlrichtlinie bspw. die Schwerbehinderteneigenschaft (8 Punkte), eine
Unterhaltsverpflichtung für den Ehegatten (10 Punkte) und ein um 10 Jahre höheres Alter zugrunde. Bei einem
Punkteabstand von (nur) 18 Punkten (95 Punkte in der Gruppe 0) gegenüber 113 Punkten in der Gruppe 3 läge
einem solchen Abstand bspw. eine (weitere) Unterhaftpflicht für ein Kind (7 Punkte), die
Schwerbehinderteneigenschaft (8 Punkte) und ein um drei Jahre höheres Alter zugrunde. Diese Beispiele zeigen
deutlich, dass in der Gruppe der tariflich unkündbaren Arbeitnehmer (Gruppe 0) auch solche Arbeitnehmer sind,
deren Nichtberücksichtigung gegenüber gekündigten Arbeitnehmern der Gruppe 3 die Sozialauswahl als evident
ungenügend, dh. grob fehlerhaft erscheinen lässt.
105
(3)
Ist die Anwendungsgrenze des § 4.4 MTV erreicht bzw. - wie hier - überschritten, so hatte die Herausnahme der
von § 4.4 MTV erfassten Arbeitnehmer aus dem Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer jedenfalls zum Teil zu
unterbleiben
(vgl. BAG 20. Juni 2013 - 2 AZR 295/12 - Rn. 57, aaO)
. Die Beklagte hätte jedenfalls die evident
weniger schutzwürdigen Arbeitnehmer der Gruppe 0 nicht herausnehmen dürfen, sondern an der proportionalen
Verteilung der Kündigung auf die einzelnen (Alters-)Gruppen beteiligen müssen. Wären die Voraussetzungen für eine
außerordentliche betriebsbedingte Kündigung nicht erfüllt, so hätten allerdings Kündigungen gegenüber
Arbeitnehmern der Gruppe 0 unterbleiben müssen, selbst wenn diese in eine Sozialauswahl mit einzubeziehen
gewesen wären. Auf diese Weise hätten jedoch grobe Fehler vermieden werden und eine Anwendung des § 4.4 MTV
gegenüber dem geschützten Personenkreis sichergestellt werden können
(vgl. BAG 20. Juni 2013 - 2 AZR 295/12 -
aaO)
.
106
b)
Infolge der nicht die Anwendungsgrenze des § 4.4 MTV beachtenden Altersgruppenbildung ist die
Altersgruppenbildung in der durchgeführten Art und Weise zu beanstanden und kann keine gesetzeskonforme
Grundlage für eine Herausnahme iSv. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG bilden. Die Altersgruppenbildung ist damit hinfällig.
Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich bei der - zu Unrecht - unterbliebenen Herausnahme aus dem Kreis der
vergleichbaren Arbeitnehmer nicht lediglich um einen Einzelfall, sondern um eine Reihe von Arbeitnehmern
gehandelt hat, die insgesamt das Ergebnis der Altersgruppenbildung und Sozialauswahl beeinflusst haben. Die
Kündigung ist allein am Maßstab des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zu messen.
107
aa)
Ist die Altersgruppenbildung hinfällig, so ist nach Maßgabe von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG festzustellen, dass eine
Vielzahl von Arbeitnehmern aus den Altersgruppen 1 und 2 weniger schutzwürdig sind als der Kläger. Zwar steht
dem Arbeitgeber bei der Gewichtung der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG angeführten sozialen Grunddaten ein
Wertungsspielraum zu. Dieser ist auch dann zu beachten, wenn er eine Sozialauswahl zunächst für entbehrlich
gehalten hat
(BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 476/10 - Rn. 48; 10. Juni 2010 - 2 AZR 420/09 - Rn. 19)
. Keinem Kriterium
kommt eine Priorität gegenüber den anderen zu. Vielmehr sind stets die individuellen Unterschiede zwischen den
vergleichbaren Arbeitnehmern und deren „Sozialdaten“ zu berücksichtigen und abzuwägen. Auch wenn eine
Sozialauswahl gar nicht oder methodisch fehlerhaft durchgeführt wurde, ist die Kündigung nicht aus diesem Grund
unwirksam, wenn mit der Person des Gekündigten gleichwohl - und sei es zufällig - eine objektiv vertretbare
Auswahl getroffen wurde. Der Arbeitgeber braucht nicht die „bestmögliche“ Sozialauswahl vorgenommen zu haben.
Der ihm einzuräumende Wertungsspielraum führt dazu, dass sich nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer mit
Erfolg auf einen Auswahlfehler berufen können
(BAG 21. Mai 2015 - 8 AZR 409/13 - Rn. 61, AP BGB § 613a Nr. 462
= EzA BGB 2002 § 613a Nr. 165; 29. Januar 2015 - 2 AZR 164/14 - Rn. 11, EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 87;
20. Juni 2013 - 2 AZR 271/12 - Rn. 13; 7. Juli 2011 - 2 AZR 476/10 - aaO; 2. Juni 2005 - 2 AZR 480/04 - Rn. 38,
BAGE 115, 92)
. Die Beklagte beschäftigt solche deutlich weniger schutzwürdigeren Arbeitnehmer. So haben eine
Vielzahl von Arbeitnehmern der Gruppe 1 bspw. weniger als 60 Punkte erreicht (T, K, F, A, Ak, H, A, T ua.) und aus
der Gruppe 2 haben eine Vielzahl von Arbeitnehmern weniger als 80 Punkte (Y, T, C, A, Ü, C ua.). Gegenüber diesen
Arbeitnehmern ist der Kläger mit 103 Punkten deutlich schutzwürdiger.
108
bb)
Unerheblich ist, dass der Kläger weniger schutzwürdigere Arbeitnehmer aus den Altersgruppen 1 oder 2 nicht
weiter namentlich benannt hat. Aufgrund der Angaben der Beklagten stehen der auswahlrelevante Personenkreis
und die Sozialdaten dieses Personenkreises fest. Damit stehen die Tatsachen fest, aus denen sich eine im Ergebnis
mangelhafte Sozialauswahl ergibt; eines weiteren Vortrags des Klägers bedurfte es nicht
(vgl. SPV/Preis 11. Aufl. Rn.
1136; vHH/L/Krause KSchG § 1 Rn. 1015)
.
109
cc)
Schließlich ist die mangelhafte Sozialauswahl der Beklagten auch nicht deshalb irrelevant, weil diese die fehlende
Kausalität des Auswahlfehlers dargelegt hätte
(vgl. dazu: ErfK/Oetker 17. Aufl. § 1 KSchG Rn. 308)
. Ein Vortrag zur
fehlenden Ursächlichkeit des Auswahlfehlers seitens des Arbeitgebers liegt nicht vor.
II.
110 Infolge des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag war die Beklagte auch zur Weiterbeschäftigung des Klägers
(über den 30. Juni 2016 hinaus) zu verurteilen. Der Antrag, den Kläger als Produktionsmitarbeiter weiter zu
beschäftigen, ist zulässig und begründet.
111
1.
Der Weiterbeschäftigungsantrag ist ausreichend iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO bestimmt. Dafür reicht es aus, wenn
das Berufsbild (Art der Beschäftigung), mit dem der Arbeitnehmer beschäftigt werden soll, sich aus dem Antrag oder
sich in vergleichbarer Weise ergibt, worin die Tätigkeit bestehen soll
(vgl. BAG 19. März 2015 - 9 AZR 702/13 - Rn.
sich in vergleichbarer Weise ergibt, worin die Tätigkeit bestehen soll
(vgl. BAG 19. März 2015 - 9 AZR 702/13 - Rn.
25 mwN, EzA ZPO 2002 § 888 Nr. 2)
. Einzelheiten hinsichtlich der Art der Beschäftigung oder sonstiger
Arbeitsbedingungen muss der Titel demgegenüber nicht enthalten
(vgl. BAG 15. April 2009 - 3 AZB 93/08 - Rn. 20,
BAGE 130, 195; LAG Baden-Württemberg 9. November 2015 - 17 Ta 23/15 - Rn. 33; LAG Schleswig-Holstein 6.
September 2012 - 1 Ta 142/12 - Rn. 23; LAG Rheinland-Pfalz 28. Oktober 2009 - 6 Ta 238/09 -)
. Bei einer im
Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschriebener Arbeitspflicht kann der Titel aus materiell-rechtlichen Gründen nicht
so genau sein, dass er auf eine ganz bestimmte im Einzelnen beschriebene Tätigkeit oder Stelle zugeschnitten ist;
darauf hat der Arbeitnehmer keinen Anspruch, das Weisungsrecht nach § 106 GewO steht dem Arbeitgeber zu
(vgl.
BAG 27. Mai 2015 - 5 AZR 88/14 - Rn. 44, NZA 2015, 1053)
.
112
2.
Der Weiterbeschäftigungsantrag ist auch begründet.
113
a)
Außerhalb der Regelung der §§ 102 Abs. 5 BetrVG, 79 Abs. 2 BPersVG hat der gekündigte Arbeitnehmer nach der
zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße
Beschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist oder bei einer fristlosen Kündigung über den Zugang hinaus bis
zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses, wenn die Kündigung unwirksam ist und
überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Beschäftigung nicht entgegenstehen. Außer im
Falle einer offensichtlich unwirksamen Kündigung begründet die Ungewissheit über den Ausgang des
Kündigungsschutzprozesses ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten
Arbeitnehmers für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses. Dieses überwiegt in der Regel das
Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers bis zu dem Zeitpunkt, in dem im Kündigungsprozess ein die
Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Urteil ergeht. Solange ein solches Urteil besteht, kann die Ungewissheit
des Prozessausgangs für sich allein ein überwiegendes Gegeninteresse des Arbeitgebers nicht mehr begründen.
Hinzukommen müssen dann vielmehr zusätzliche Umstände, aus denen sich im Einzelfall ein überwiegendes
Interesse des Arbeitgebers ergibt, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen. Zu denken ist hierbei etwa an solche
Umstände, die auch im streitlos bestehenden Arbeitsverhältnis den Arbeitgeber zur vorläufigen Suspendierung des
Arbeitnehmers berechtigen
(vgl. BAG 27. Februar 1985 - GS 1/84 - BAGE 48, 122)
. Dies können nur solche
Umstände sein, die eine Weiterbeschäftigung beim Arbeitgeber unzumutbar erscheinen lassen, was etwa dann
gegeben sein kann, wenn durch die weitere Mitarbeit für den Betrieb erheblicher Schaden zu erwarten ist
(vgl. KR-
Etzel/Rinck 11. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 381; APS/Koch 5. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 185 ff. [240])
. Der Arbeitgeber ist
hierfür darlegungs- und beweisbelastet
(vgl. Kania in: Küttner Personalbuch Beschäftigungsanspruch Rn. 7)
. Diese
"zusätzlichen Umstände" sind solche, die nicht bereits Gegenstand der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Kündigung
nach § 626 BGB oder § 1 KSchG sind
(vgl. ErfK/Kiel 17. Aufl. § 4 KSchG Rn. 44)
. Maßgeblich sind vielmehr solche
Umstände, die neben den für die Voraussetzung zur Rechtfertigung der Kündigung vorzutragenden Tatsachen die
Interessenlage der Beteiligten prägen. Hierbei sind diejenigen Interessen des Arbeitgebers denjenigen des
Arbeitnehmers gegenüberzustellen
(vgl. LAG Hessen 15. Dezember 2006 - 3 Sa 283/06 - NZA-RR 2007, 192 ff.)
.
114
b)
Umständen, die nach dem Vorstehenden eine Weiterbeschäftigung des Klägers als unzumutbar erscheinen lassen
könnten, hat die Beklagte nicht vorgetragen. Daher war sie antragsgemäß zur Weiterbeschäftigung zu verurteilen.
B.
115 Nachdem die Beklagte unterlegen ist, hat sie die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 46 Abs. 2 ArbGG iVm. §§ 495,
91 Abs. 1 ZPO.
C.
116 Der Festsetzung des Urteilsstreitwerts (§ 61 Abs. 1 ArbGG) liegen drei Bruttomonatsvergütungen für den
Bestandsschutzantrag (§ 42 Abs. 2 Satz 1 GKG) und ein weiterer Bruttomonatsverdienst für den
Weiterbeschäftigungsantrag zugrunde.