Urteil des ArbG Hagen vom 05.07.2000

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Arbeitsgericht Hagen, 4 Ga 14/00
Datum:
05.07.2000
Gericht:
Arbeitsgericht Hagen
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 Ga 14/00
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz, Freistellung, Beschäftigungspflicht,
Insolvenz
Leitsätze:
Eine Freistellung im gekündigten Arbeitsverhältnis gegen den Willen
des Arbeitnehmers ist auch in der Insolvenz nur zulässig, wenn
überwiegende und schutzwürdige Interessen dies gebieten.
Tenor:
Der Verfügungsbeklagte wird verurteilt, den Verfügungskläger als
Scanner-Operator entsprechend der bisherigen Ausgestaltung des
Arbeitsverhältnisses zu beschäftigen.
Der Verfügungsbeklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Verfahrenswert wird auf DM festgesetzt.
T a t b e s t a n d
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Die Parteien streiten darum, ob der Verfügungsbeklagte (im folgenden Beklagter)
den Verfügungskläger (im folgenden Kläger) tatsächlich zu beschäftigen hat oder
nicht.
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Der am geborene, verheiratete, einem Kinde gegenüber unterhaltsverpflichtete
Kläger trat mit Wirkung vom als technischer Angestellter in die Dienste der
Gemeinschuldnerin. Bei einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von war er zuletzt
als Scanner-Operator beschäftigt. Seine Ehefrau ist mit einem Grad von %
schwerbehindert, der Kläger selbst zu %. Seit Mitte 1999 ist er den
Schwerbehinderten gleichgestellt (Bescheid des Arbeitsamtes Hagen vom , Blatt 16
der Akte).
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Am 01.06.2000 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der
Gemeinschuldnerin eröffnet. Der Beklagte wurde zum Insolvenzverwalter bestellt.
Mit Schreiben vom 07.06.2000 stellte er den Kläger unter Anrechnung auf
bestehende Urlaubsansprüche von der Arbeit frei (Blatt 9 der Akte). Mit ihm wurden
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weitere 35 Mitarbeiter freigestellt. Der Scanner-Operator wird weiterbeschäftigt. Er
ist Jahre alt, etwas länger als der Kläger beschäftigt, verheiratet und keinen weiteren
Personen gegenüber unterhaltsverpflichtet.
Am 28. Juni 2000 schlossen der Beklagte und der Betriebsrat einen
Interessenausgleich und Sozialplan. Am 30.06.2000 kündigte der Beklagte
daraufhin allen Arbeitnehmern zum 30.09.2000. Das Arbeitsverhältnis zum Kläger
kündigte er bisher nicht.
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Mit dem am 09. Juni 2000 bei Gericht eingegangenen Antrag begehrt der Kläger die
Verurteilung des Beklagten zu seiner tatsächlichen Weiterbeschäftigung als
Scanner-Operator.
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Der Kläger ist der Auffassung, daß ihn die Freistellung härter träfe als den in der
gleichen Funktion weiterbeschäftigten Kollegen . Zu berücksichtigen sei nämlich,
daß seine Frau zu % schwerbehindert und ohne Einkommen sei und er ein Kind zu
unterhalten habe. Daß er nun Arbeitslosengeld erhielte, träfe ihn besonders stark.
Zudem verlöre er den Überblick über die laufenden Aufträge und eine spätere
Integration in den Betrieb würde dadurch erschwert. Seinen Sachvortrag macht er
glaubhaft durch Abgabe der eidesstattlichen Versicherung vom 07.06.2000 (Blatt 8
der Akte).
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Der Kläger beantragt,
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dem Beklagten aufzugeben, bei Meidung eines vom Gericht
festzusetzenden Zwangsgeldes von bis zum 50.000,-- DM bzw. Zwangshaft,
ihn als Scanner-Operator entsprechend der bisherigen Ausgestaltung des
Arbeitsverhältnisses einzusetzen und tätig werden zu lassen.
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Der Beklagte beantragt,
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den Antrag zurückzuweisen.
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Er trägt vor: Die Freistellung der Mitarbeiter sei aufgrund der wirtschaftlichen Lage
erforderlich gewesen. Insoweit nehme er Bezug auf das Gutachten vom (Blätter 29
bis 37 der Akte). Der Kläger verkenne die insolvenzspezifischen Probleme. Wenn
keine sinnvolle Beschäftigung der Arbeitnehmer möglich sei und sie aus der Masse
nicht bezahlt werden könnten, müsse die Freistellung durch den Insolvenzverwalter
erfolgen. Eine solche Freistellung, die letztlich nur den Verzicht auf die Erbringung
der Arbeitsleistung durch den Arbeitnehmer beinhalte, sei ohne weiteres zulässig.
Dem könne das Interesse des Arbeitnehmers an seiner tatsächlichen
Arbeitsleistung nicht mehr entgegenstehen, zumal eine sinnvolle Tätigkeit wegen
der betrieblichen Einschränkung nicht möglich sei. Wenn auch die
Entgeltansprüche des Arbeitnehmers nicht gesichert aus der Masse gezahlt werden
könnten, sei es dem Arbeitnehmer auch nicht mehr zuzumuten, noch
Arbeitsleistungen zu erbringen. Im übrigen sei das BAG in seiner Entscheidung vom
18.12.1986 (ZIP 1987, 798) ohne weiteres von der Zulässigkeit der Freistellung
durch den Konkursverwalter ausgegangen.
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Dem Kläger stünde deshalb weder Verfügungsanspruch noch Verfügungsgrund zur
Seite.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den
Parteien gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen ergänzend Bezug
genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Der Antrag ist begründet.
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I.
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Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund sind gegeben. Dies steht zur
Überzeugung der Kammer aufgrund des zwischen den Parteien unstreitigen
Sachverhaltes aus Rechtsgründen fest.
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Der Kläger ist seit dem als Scanner-Operator tätig. Geregelt wird das
Arbeitsverhältnis durch den am geschlossenen Anstellungsvertrag (Blätter 6 und 7
der Akte). Im Rahmen des bestehenden Arbeitsverhältnisses hat der Kläger nicht
nur Anspruch auf Zahlung der vereinbarten Vergütung, er kann vielmehr auch
verlangen, entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen tatsächlich beschäftigt
zu werden (BAG, Urteil vom 10.11.1955 in AP Nr. 2 zu § 611 BGB
"Beschäftigungspflicht"; BAG, Urteil vom 13.06.1990 in EzA Nr. 44 zu § 611 BGB
"Beschäftigungspflicht"). Eine Freistellung gegen den Willen des Klägers ist nur
zulässig, wenn überwiegende und schutzwürdige Interessen des Beklagten dies
gebieten (BAG, Urteil vom 19.08.1976 in AP Nr. 4 zu § 611 "Beschäftigungspflicht").
Dies gilt entgegen der Auffassung des Beklagten auch für ihn als
Insolvenzverwalter. Er ist Partei kraft Amtes und übt die Arbeitgeberfunktion aus. Ein
"originäres Freistellungsrecht" ist ihm nicht zuzubilligen (so auch Arbeitsgericht
Berlin, Urteil vom 18. Juni 1996 - 9 Ga 17108/96 - in ZAP ERW 1997, 62 - 64 mit
Anmerkung Berscheid). Zutreffend ist allerdings die Auffassung des Beklagten,
grundsätzlich Arbeitnehmer dann freistellen zu dürfen, wenn für sie eine sinnvolle
Weiterbeschäftigungsmöglichkeit nicht besteht und die Zahlung ihrer
Arbeitsvergütungen durch die Insolvenzmasse nicht sichergestellt ist. Der
vorliegende Fall bietet aber die Besonderheit, daß der Beklagte den Arbeitskollegen
des Klägers tatsächlich als Scanner-Operator weiterbeschäftigt, für ihn also
Beschäftigungsmöglichkeit hat und ihm auch Arbeitsvergütung zahlen kann. Bei
dieser Fallgestaltung ist es dem Beklagten zuzumuten, die schutzwürdigen
Interessen des den Schwerbehinderten gleichgestellten Klägers zu berücksichtigen.
§ 14 II 1 SchwbG sieht die besondere Förderung des Schwerbehinderten vor.
Daraus läßt sich die Verpflichtung des Arbeitgebers herleiten, den
Schwerbehinderten entsprechend seinen Möglichkeiten auch tatsächlich
einzusetzen (BAG, Urteil vom 10.07.1991 in NZA 1992, 27). Hinzu kommt, daß der
Kläger gegenüber dem tatsächlich weiterbeschäftigen Scanner-Operator sozial
schutzwürdiger ist, weil er eine nicht berufstätige, zu % schwerbehinderte Ehefrau
und ein Kind zu unterhalten hat. Das war vom Beklagten bei der Freistellung zu
berücksichtigen. Er hätte mithin nicht den Kläger, sondern dessen Arbeitskollegen
von der Arbeit freistellen können und müssen.
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Gründe dafür, ob dem dringende betriebliche Erfordernisse bzw. überwiegende
schutzwürdige Interessen des Beklagten entgegenstehen, hat dieser nicht
vorgetragen. Die Darlegungslast für diesen Ausnahmetatbestand obliegt allerdings
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ihm (LAG München, Urteil vom 19.08.1992 in NZA 1993, 1130). Der Beklagte hat
sich darauf beschränkt, die Rechtsansicht zu vertreten, ohne weitere
Nachprüfbarkeit seiner Entscheidung dazu berechtigt zu sein, Arbeitnehmer von der
Arbeit freizustellen.
Wie dargelegt, wird die besondere Situation des Klägers dieser generell vertretenen
Auffassung des Beklagten nicht gerecht. Er ist deshalb zur tatsächlichen
Weiterbeschäftigung des Klägers, notfalls unter Freistellung dessen
Arbeitskollegen, verpflichtet.
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Mittlerweile, das ist unstreitig zwischen den Parteien, ist das Arbeitsverhältnis zu
dem Scanner-Operator gekündigt, während das des Klägers ungekündigt
fortbesteht. Bei einer möglichen Fortführung des Unternehmens wäre der Kläger
fortzubeschäftigen. Insoweit ist der Einwand von ihm nachvollziehbar, ohne
tatsächliche Beschäftigung verlöre er den Bezug zum Produktionsprozeß, was seine
tatsächliche, spätere Integration erheblich erschweren würde. Damit ist auch der
Verfügungsgrund gegeben. Dem Kläger kann nicht zugemutet werden, das
Hauptsacheverfahren abzuwarten, weil sein Recht, im bestehenden
Arbeitsverhältnis tatsächlich beschäftigt zu werden, zumindest bis zum 30.
September 2000, nicht zu sichern wäre.
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II.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, diejenige der Streitwertfestsetzung
auf den §§ 61 I ArbGG, 3 ZPO. Der Verfahrenswert war mit zwei monatlichen
Bruttoarbeitsvergütungen des Klägers zu bewerten.
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