Urteil des ArbG Frankfurt an der Oder vom 15.07.2009

ArbG Frankfurt: fristlose kündigung, wichtiger grund, gleis, zur unzeit, verdachtskündigung, unfall, anhörung, fahrweg, einfahrt, beleuchtung

1
2
3
4
5
6
Gericht:
ArbG Frankfurt 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 Ca 2332/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 626 Abs 1 BGB
Fristlose Kündigung wegen Verletzung von
Sicherheitsvorschriften im Bahnbetrieb
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf € 8.116,28 festgesetzt.
4. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen und einer
hilfsweise außerordentlichen und mit sozialer Auslauffrist ausgesprochener Tat-
und Verdachtskündigung.
Die Beklagte ist ein Tochterunternehmen aus dem ...-Konzern in der Rechtsform
einer Aktiengesellschaft mit Sitz in Frankfurt am Main. Bei ihr besteht ein
Betriebsrat, und es sind regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt.
Die Klägerin ist am ... geboren. Ihr Geburtsname ist .... Sie ist mittlerweile
verheiratet. Sie war ab dem 01.09.1981 zunächst als sog. Aufsicht bei der ... in der
Deutschen Demokratischen Republik aufgrund eines "Arbeitsvertrages" beschäftigt
(Bl. 4-5 d. A.). Nach einem Änderungsvertrag vom 02.12.1991 (Bl. 6-7 d. A.), einer
Änderungskündigung vom 27.05.1993 (Bl. 8-9 d. A.) und der Überleitung der
Arbeitnehmer der ... ... zur Beklagten, wurde die Klägerin von der Beklagten ab
dem 01.01.1994 als Fahrdienstleiterin in der Entgeltgruppe 7 zunächst bei der
Niederlassung ... beschäftigt (siehe Bl. 10-11 d. A.). Fahrdienstleiter sind anderen
Mitarbeitern an Bahnhöfen (z. B. Bahnübergangsposten/Schrankenwärter und
Weichenwärter) vorgesetzt.
Mit Schreiben vom 04.09.1996 wurde der Klägerin der Arbeitsplatz "...", ...-Nr. ...
bei der Niederlassung Netz ... von der Beklagten übertragen und ... als Arbeitsort
bestimmt (siehe Bl. 12 d. A.).
Ab dem 25.04.2005 wurde die Klägerin dann aber aufgrund von zwei betrieblichen
Fehlhandlungen vom 30.06.2004 und vom 17.04.2005 vorläufig nur noch als
Weichenwärterin im Stellwerk ... eingesetzt. Diese Angelegenheit war Gegenstand
des Verfahrens 7 Ca 8896/05 beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main.
Entsprechend der damaligen tarifvertraglichen Regelungen wurden Fahrdienstleiter
entsprechend der Entgeltgruppe E 7 und Weichenwärter lediglich entsprechend der
Entgeltgruppe E 6 vergütet. In dem Berufungsverfahren beim Hess. LAG (12 Sa
1727/06) zu dem zuvor genannten erstinstanzlichen Verfahren (7 Ca 8896/05)
schlossen die Parteien am 11.09.2007 den nachfolgenden Vergleich, der
auszugsweise wie folgt lautet (Bl. 35-37 d. A.):
"1. Die Beklagte verpflichtet sich bis spätestens zum 30. Juni 2008 der
Klägerin eine Stelle als Fahrdienstleiterin die mit der Entgeltstufe E 7 vergütet wird
7
8
9
10
11
12
13
Klägerin eine Stelle als Fahrdienstleiterin die mit der Entgeltstufe E 7 vergütet wird
anzubieten, vorausgesetzt die Klägerin erfüllt die fachlichen und persönlichen
Voraussetzungen. (...)
2. Wenn die Beklagte der Klägerin keine Stelle als Fahrdienstleiterin gemäß
Ziffer 1 des Vergleichs anbietet, wird die Klägerin unbefristet bei ihrer derzeit
ausgeübten Tätigkeit als Weichenwärterin (WW) in ... verbleiben, solange die Stelle
dort besteht und mit der Entgeltgruppe 7 vergütet.
(...)"
Die Klägerin wird seitdem dauerhaft als Weichenwärterin in ... eingesetzt. Das
monatliche Bruttomonatsgehalt der Klägerin beträgt bei einer 39-Stunden-Woche
€ 2.029,07. Die Klägerin ist aufgrund der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit nach
den einschlägigen tarifvertraglichen Bestimmungen ordentlich unkündbar.
Bei der Beklagten bestehen sicherheitsrechtliche Vorschriften für das Handeln von
Betriebspersonal im Stellwerksdienst. Diese gelten auch für die Klägerin als
Weichenwärterin. Die Vorschriften werden dem Betriebspersonal im Rahmen von
Funktionsausbildungen und sog. ...-Unterrichte vermittelt. Der letzte ...-Unterricht,
an dem die Klägerin teilnahm, fand am 15.04.2008 statt.
Nach Ziff. 4 der Richtlinie Nr. ... "Züge fahren; Hauptsignale bedienen" (Bl. 95-96 d.
A.) der Bekl. darf eine Fahrstraße erst aufgelöst werden, wenn der betreffende Zug
am letzten gewöhnlichen Halteplatz zum Halten gekommen ist oder an der
Fahrstraßenzugschlussstelle vorbeigefahren ist.
Nach Ziff. 1 der Richtlinie Nr. ... "Züge fahren; Fahrweg prüfen" (Bl. 97-104 d. A.)
der Bekl. setzt das Zulassen einer Zugfahrt die Feststellung voraus, dass "der
Fahrweg frei von Fahrzeugen ist". Diese Feststellung ist, wenn keine selbständige
Gleisfreimeldeanlage vorhanden ist, "durch Hinsehen" gemäß Ziff. 3 dieser
Richtlinie zu treffen.
Am ... kam es um ... Uhr im Bahnhof ... auf Gleis Nr ... auf der Weiche Nr. ... zu
einem Zusammenstoß von zwei Güterzügen. Zu dieser Zeit hatten der
Fahrdienstleiter, die Klägerin als Weichenwärterin ... "..." und die Lokführer der
beiden betroffenen Güterzüge die Verantwortung für die Sicherheit der beteiligten
Güterzüge. Die Sichtverhältnisse zum Unfallzeitpunkt waren – von der Dunkelheit
abgesehen – klar. Bei dem Unfall fuhr das Triebfahrzeug des Zuges ... auf den
Zugschluss des auf Gleis Nr. ... stehenden Zuges ... auf. Zuvor waren von der
Klägerin sowohl der Fahrweg auf Gleis Nr. ... für den Zug ... freigegeben als auch
die Weiche Nr. ... umgestellt worden, obwohl zu diesem Zeitpunkt der letzte Wagon
des Zuges ... noch auf der Weiche Nr. ... war und der Zug die
Fahrstraßenzugschlussstelle, bei der keine Gleisfreimeldeanlage vorhanden ist,
noch nicht vollständig geräumt hatte. Aus einer Auswertung des elektronischen
Fahrtenregistrierung (EFR) des Zuges ... vom ... ergibt sich, dass dessen
Triebfahrzeug nach der Einfahrt auf das Gleis Nr. ... bereits um ... Uhr zum Stehen
gekommen war (Bl. 87-93 d. A.). Der Triebwagenführer des Zuges ... wurde bei
dem Unfall zum einen leicht verletzt. Zum anderen entgleiste das Triebfahrzeug
der Baureihe ... des Zuges ... mit allen vier Achsen und wurde stark beschädigt.
Beim Zug ... einem Autotransportzug, entgleisten die beiden letzten
Autotransportwagen komplett bzw. standen quer und wurden total zerstört. Zwei
weitere Autotransportwagen wurden schwer beschädigt. Die auf den beiden letzten
Güterwagen befindlichen PKW der Marke ... stürzten in den Gleisbereich und
wurden stark beschädigt. Bei acht PKW entstand Totalschaden, bei weiteren 16
erheblicher Sachschaden. Ferner wurde der Oberbau der Weiche Nr. ... erheblich
beschädigt. Die Schäden an den baulichen, maschinen- und elektrotechnischen
Anlagen der ... sowie die weiteren Sachschäden belaufen, sich, wie dem
bahninternen Untersuchungsbericht zu entnehmen ist, auf rund € 275.000,00,
während der Schäden an den Schienenfahrzeugen auf € 2,6 Mio. von der
Beklagten geschätzt wird (siehe Bl. 34 d. A.). Über die Höhe der Schäden an den
beschädigten bzw. zerstörten Porsche ist nichts bekannt. Im Schriftsatz der Bekl.
vom 29.04.2009 (Bl. 22 d. A.) wird die Gesamtschadenshöhe allerdings auf rund €
5 Mio. beziffert, ohne dass die Differenzen näher erläutert wurden.
Der Unfall wurde sodann von der Beklagten intern untersucht. Ferner erstattete
die Beklagte Strafanzeige gegen die Klägerin. Das Ermittlungsverfahren u. a.
wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr (§ 315 StGB) war im Zeitpunkt
des Schlusses der mündlichen Verhandlung in 1. Instanz noch nicht
abgeschlossen. Im bahninternen Untersuchungsverfahren hat die Klägerin keine
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
abgeschlossen. Im bahninternen Untersuchungsverfahren hat die Klägerin keine
Stellungnahme abgegeben.
Unter dem 25.02.2009 wurde von dem Untersuchungsführer, Herrn ..., einem
Mitarbeiter der Bekl., der "Untersuchungsbericht des Eisenbahnunternehmers zu
gefährlichen Ereignissen im Eisenbahnbetrieb (Eisenbahn-Untersuchungsbericht)",
der an die Aufsichtsbehörde der Bekl., das Eisenbahnbundesamt (EBA), gerichtet
ist, fertig gestellt. Zu den Einzelheiten des Untersuchungsberichts wird auf Bl. 25-
34 d. A. Bezug genommen. Grundlage des Berichtes ist eine Vernehmung der
Beteiligten und der Notfallmanager, die Auswertung der EFR, die Überprüfung der
Technik und die Auswertung des Schadensbildes. Mangels einer Stellungnahme
der Klägerin konnte der Untersuchungsführer nur aufgrund der objektiven
Gegebenheiten und der Aussagen des Fahrdienstleiters und der Lokführer der
beteiligten Züge den Unfallhergang rekonstruieren. Der Bericht enthält daher
Formulierungen wie "es ist davon auszugehen" oder "vermutlich" oder ist "nicht
bekannt". Dieser Bericht ging den bei der Beklagten Kündigungsberechtigten
intern am 26.02.2009 zu.
Am 05.03.2009 hörte die Bekl. die Klägerin zu dem Unfall vom ... an. Die Klägerin
verweigerte im Hinblick auf das laufende strafrechtliche Ermittlungsverfahren eine
Stellungnahme zu den Vorwürfen der Verletzung von sicherheitsrelevanten
Vorschriften.
Mit Schreiben vom 10.03.2009 teilte der Betriebsrat der Bekl. Bedenken gegen die
fristlose Kündigung der Klägerin mit, da er diese für unangemessen und eine
Beschäftigung der Klägerin außerhalb des Betriebsdienstes auch unter
veränderten Vertragsverhältnisses für zulässig hält (Bl. 14 d. A.).
Mit Schreiben vom 11.03.2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis
"außerordentlich mit sofortiger Wirkung" und hilfsweise "außerordentlich mit
sozialer Auslauffrist zum 31.10.2009" wegen des Unfalls vom ... Bl. 13 d. A.). Die
Kündigung ist der Klägerin noch am gleichen Tage zugegangen (siehe Bl. 49 d. A.).
Die Klägerin behauptet, dass sie keine Sicherheitsvorschriften verletzt habe. Auch
ergebe sich keine entsprechende Verletzung aus dem bahninternen
Untersuchungsbericht, denn dieser enthalte lediglich Annahmen, Unterstellungen
und Mutmaßungen. Sie habe die Fahrstraße vor Einfahrt des ... eingesehen und,
da diese frei gewesen wäre, das Signal auf Fahrt gestellt. Allerdings, so behauptet
die Klägerin, sei der hier maßgebliche Streckenbereich nicht ausreichend
beleuchtet gewesen, da die von der Beklagten behauptete künstliche Beleuchtung
entfernt worden sei. Eine Verpflichtung, nach Freigabe der Fahrstraße nochmals
nachzusehen, würde nicht bestehen. Das Umstellen einer Weiche, solange noch
Güterwagen darauf stünden bzw. darüber fahren würden, sei aufgrund des
Gewichts der Wagons unmöglich. Die Klägerin vermutet vielmehr, dass der Zug ...
zurückgerollt sein müsse. Ferner ist die Klägerin der Ansicht, es bestünde ein
Abmahnungserfordernis, so dass die fristlose Kündigung mangels vorhandener
Abmahnungen, was insofern unstreitig ist, bereits aus diesem Grunde unwirksam
sei. Außerdem würde als milderes Mittel eine Beschäftigung im Innendienst in
Betracht kommen. Schließlich ist die Klägerin der Ansicht, dass die Bekl. die
Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten habe.
Die Klägerin beantragt unter Rücknahme des allg. Feststellungsantrages zuletzt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht
durch die außerordentliche sowie außerordentliche mit sozialer Auslauffrist
ausgesprochene Kündigung der Beklagten vom 11.03.2009 aufgelöst ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte behauptet, dass angesichts des Geschehensablaufs die
Verantwortung für den Zugunfall am ... nur bei der Klägerin liegen könne. Diese
habe fehlerhaft die Fahrstraße gelöst, obwohl diese noch nicht vollständig geräumt
gewesen war. Insofern müsse die Klägerin auch ihre Verpflichtung zur optischen
Prüfung, ob die Fahrstraße verletzt haben, denn anders sei es nicht zu erklären,
dass sie die Fahrstraße trotz nicht vollständiger Räumung freigegeben und die
Weiche Nr. ... zur Unzeit umgestellt hat. Für den maßgeblichen Streckenbereich
sei eine ausreichende künstliche Beleuchtung vorhanden (siehe Bl. 34 d. A.). Der
Umstellvorgang von Weichen würde nicht durch das Gewicht etwaig auf ihnen
24
25
26
27
28
29
30
31
Umstellvorgang von Weichen würde nicht durch das Gewicht etwaig auf ihnen
befindlicher Wagons gestört werden. Eine Störung würde sich nur dann ergeben,
wenn die starren Radachsen dieser Wagons die frei beweglichen Weichenzungen
behindern würden. Ist hingegen der Abstand der Zungen zu den Radachsen im
Umstellvorgang weit genug, würde die Umstellkraft des Weichenantriebes
ausreichen, eine signaltechnisch sichere Endlage der Weiche zu erreichen. Im
Hinblick auf die Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB
behauptet die Bekl., dass aufgrund des Unfallbildes und der Vielzahl der möglichen
Faktoren, die zu dem Unfall hätten führen können, eine schnellere Aufklärung nicht
möglich gewesen sei.
Die Klage ging beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main am 18.03.2009 ein und
wurde der Beklagten am 31.03.2009 (Bl. 16 d. A.) zugestellt. Im Übrigen wird zur
Ergänzung des Tatbestandes auf die zwischen den Parteien gewechselten
Schriftsätze, ihre Beweisantritte und die von ihnen eingereichten Unterlagen und
damit auf die Gerichtsakte Bezug genommen (§ 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet und daher abzuweisen.
I. Die Klage ist zulässig. Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist
gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b.) ArbGG für die Kündigungsschutzklage gegeben. Der
Sitz der Beklagten (§§ 12, 17 ZPO i. V. m. § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG) gehört zum
örtlichen Zuständigkeitsbereich des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main. Das
gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG i. V. n. §§ 495 Abs. 1, 256 ZPO erforderliche
Feststellungsinteresse für die Kündigungsschutzanträge liegt vor, da es der
Klägerin unabhängig von den Bestimmungen der §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG
gemäß §§ 13 Abs. 3, 4, 7 KSchG obliegt, die Unwirksamkeit einer
außerordentlichen Kündigung binnen der Präklusionsfrist von drei Wochen ab
Zugang der Kündigung gerichtlich geltend zu machen.
II. Die Kündigungsschutzklage ist unbegründet, da die Beklagte das
Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien mit der außerordentlichen Kündigung vom
11.03.2009 zu Recht gemäß § 626 BGB wegen des Verdachts der mehrfachen
Verletzung von sicherheitsrelevanten Vorschriften gekündigt hat.
1. Die Kündigungserklärung der Beklagten vom 11.03.2009 wahrt zunächst das
Schriftformerfordernis des § 623 BGB.
2. Die Klägerin hat auch die Drei-Wochen-Frist des §§ 4 Satz 1, 13 Abs. 3
KSchG gewahrt, da sie im Hinblick auf die streitgegenständliche Kündigung
fristgerecht Kündigungsschutzklage erhoben hat, die bei Gericht am 18.03.2009
eingegangen ist und der Beklagten demnächst (§ 167 ZPO) zugestellt wurde.
3. Vorliegend ist auch ein Kündigungsgrund gegeben, denn das
Tatbestandsmerkmal des wichtigen Grunds i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB ist erfüllt.
a) Für einen wichtigen Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB müssen Tatsachen
vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile
die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der regulären
Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wird das Vorliegen eines wichtigen
Grundes in zwei Stufen geprüft. Zunächst ist festzustellen, ob ein bestimmter
Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls an sich geeignet ist,
einen wichtigen Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben. Dieser Sachverhalt
muss im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung objektiv vorliegen. Ist
hiernach ein Sachverhalt an sich geeignet, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen,
ob die außerordentliche Kündigung nach einer Interessenabwägung unter
Berücksichtigung aller Einzelfallumstände als gerechtfertigt angesehen werden
kann. Dies ist nur dann der Fall, wenn die fristlose Kündigung die ultima ratio für
den Kündigungsberechtigten war, d. h. mildere Mittel unzumutbar waren (siehe
). Aber nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung, sondern auch schon
der schwerwiegende Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer sonstigen
(arbeitsvertraglichen) Verfehlung kann einen wichtigen Grund zur
außerordentlichen Kündigung gegenüber dem verdächtigten Arbeitnehmer
darstellen. Eine solche Verdachtskündigung liegt vor, wenn und soweit der
Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines (nicht
32
33
Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines (nicht
erwiesenen) strafbaren bzw. vertragswidrigen Verhaltens habe das für die
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört. § 626 Abs. 1
BGB lässt eine sog. Verdachtskündigung dann zu, wenn sich starke
Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente
geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche
Vertrauen zu zerstören und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur
Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (
).
b) Gemessen an diesen Vorgaben besteht zunächst an sich ein wichtiger
Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB, denn es liegt objektiv der dringende Verdacht vor,
dass die Klägerin im Zusammenhang mit dem Zugunglück im Bahnhof ... am ...
mehrfach gegen sicherheitsrelevante Vorschriften verstoßen hat. Unstreitig ist am
... gegen ... Uhr das Triebfahrzeug des Zuges ... auf den Zugschluss des auf Gleis
Nr. ... stehenden Zuges ... auf. Hierbei entstand erheblicher Sachschaden, der mit
mindestens € 275.000,00 aufgrund der Schäden an den baulichen, maschinen-
und elektrotechnischen Anlagen der Bahn zu beziffern ist, da die Klägerin dem
insofern substantiierten Vorbringen der Bekl. nicht erheblich entgegen getreten ist
(§ 138 Abs. 3 ZPO). Ferner wurde der Lokführer des Zuges ... bei dem
Zusammenstoß der beiden Züge verletzt. Unstreitig hatten zu diesem Zeitpunkt
lediglich die Klägerin als Weichenwärterin ..., der zuständige Fahrdienstleiter und
die Lokführer der beiden beteiligten Züge die Verantwortung für die Sicherheit der
Züge. Dem Lokführer des Zuges ... kann nach Auswertung des elektronischen
Fahrtenregistrierung (...) kein Vorwurf gemacht werden, da dessen Triebfahrzeug
nach der Einfahrt auf das Gleis Nr. ... bereits um ... Uhr zum Stehen gekommen
war, wenngleich der letzte Wagen noch auf der Weiche Nr. ... stand. Ein
Zurückrollen des Zuges, wie von der Klägerin, pauschal behauptet, ist nach den
umfangreichen Auswertungen und dem diesbezüglichen Sachvortrag der Bekl. als
Schutzbehauptung der Klägerin zu werten, der nicht weiter nachzugehen war. Dass
der zuständige Fahrdienstleiter Fehler bzw. Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften
begangen haben soll, ist weder zu erkennen noch hat die Klägerin Entsprechendes
substantiiert behauptet. Gleiches gilt für den (verletzten) Lokführer des Zuges ...
Somit bleibt einzig der gegenüber der Klägerin bestehende dringende Verdacht
übrig, dass sie gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen haben muss. Zwar
behauptet die Klägerin, dass sie die Fahrstraße entsprechend der Richtlinie Nr. ....
"Züge fahren; Fahrweg prüfen" (Bl. 97-104 d. A.) erst nach einer Sichtprüfung
freigegeben habe, wobei sie gleichzeitig behauptet, dass der maßgebliche
Streckenabschnitt nicht hinreichend beleuchtet gewesen sei. Dieser Sachvortrag
ist zum einen in sich widersprüchlich, denn bei mangelnder Beleuchtung darf die
Freigabe einer Fahrstraße nicht allein nach einem "Hinsehen" erfolgen, sondern
setzt weitere Prüfungen voraus, von denen die Klägerin nicht einmal selbst
behauptet, dass sie diese vorgenommen hat. Zum anderen ist dem Sachvortrag
der Klägerin zwar zu Ihren Gunsten zu entnehmen, dass sie entsprechend den
Vorgaben der einschlägigen Richtlinie die erforderliche Sichtprüfung vorgenommen
haben will. Dann aber muss die Klägerin nicht hinreichend lange oder nicht
sorgfältig genug hingesehen haben, denn unstreitig stand der letzte Wagen des
Zuges ... noch auf der Weiche Nr. ... und nach den obigen Ausführungen ist ein
Fehlverhalten dieses Lokführers ausgeschlossen. Daraus ergibt sich des Weiteren
der dringende Verdacht, dass die Klägerin auch gegen die Richtlinie Nr. ... "Züge
fahren; Hauptsignale bedienen" (Bl. 95-96 d. A.) der Bekl. verstoßen hat, denn die
Fahrstraße für den Zug ... hätte von der Klägerin erst aufgelöst und die Weiche Nr.
... von der Klägerin umgestellt werden dürfen, wenn der Zug ... letzten
gewöhnlichen Halteplatz zum Halten gekommen ist oder an der
Fahrstraßenzugschlussstelle vorbeigefahren ist. Beide Voraussetzungen lagen
nicht vor, insbesondere hatte der betroffene Zug die Fahrstraßenzugschlussstelle
auf Gleis Nr. ... noch nicht vollständig geräumt. Hätte die Klägerin die genannten
Richtlinien beachtet, wäre der Zug ... nicht auf Gleis Nr. ... eingefahren und hätte
auf der Weiche Nr. ... auch nicht gegen den Zugschluss des Zuges ... stoßen
können. Somit ergibt sich zusammenfassend, dass ein dringender und auf
objektiven Umständen beruhender Verdacht besteht, dass die Klägerin gegen
sicherheitsrelevante Vorschriften, insbesondere die Richtlinien Nr. ... und Nr. ...,
verstoßen hat.
c) Auch bei einer Interessenabwägung stellt sich der Verdacht gegenüber der
33
34
35
c) Auch bei einer Interessenabwägung stellt sich der Verdacht gegenüber der
Klägerin als dringend und damit als wichtiger Grund für die Kündigung des
Arbeitsverhältnisses dar. Für die Klägerin sprechen lediglich ihre lange
Betriebszugehörigkeit von rund 27 Jahren sowie ihr Lebensalter von knapp 60
Jahren und die damit verbundenen eingeschränkten Möglichkeiten der Vermittlung
auf dem Arbeitsmarkt. Gegen die Klägerin spricht hingegen zunächst, dass sie an
der Aufklärung des Sachverhalts nicht mitgewirkt hat und versucht hat, die
Verantwortung auf die anderen am ... Dienst habenden Personen abzuwälzen.
Ferner sind bei dem genannten Zugunglück grundlegende Sicherheitsvorschriften
bei einem an sich harmlosen und einfachen Ereignis verletzt worden, wo der
Klägerin, die bereits seit Jahren als Weichenwärterin eingesetzt wird, einleuchten
muss, dass deren Verletzung von der Bekl. toleriert werden kann, so dass auch
keine vorherige (einschlägige) Abmahnung erforderlich gewesen ist. Schließlich ist
zu berücksichtigen, dass es bei dem Zugunglück nicht nur zu erheblichen
Sachschaden gekommen ist, sondern dass auch der Lokführer des Zuges ...
verletzt wurde, ohne dass die Klägerin insofern auch nur ein Wort des Bedauerns
verloren hätte. Nach Abwägung der gegenseitigen Interessen hält die Kammer die
außerordentliche Kündigung für das probate Mittel, da es der Beklagten nicht
zuzumuten ist, die Klägerin aufgrund der Festlegung auf die Tätigkeit als
Weichenwärterin in dem gerichtlichen Vergleich vom 11.09.2007 weiterhin im
Fahrdienst einzusetzen. Eine Vertragsänderung bzgl. einer möglichen
Innendiensttätigkeit und der damit von der Klägerin angesprochene Vorrang einer
Änderungskündigung vor einer Beendigungskündigung (ultima-ratio-Grundsatz)
scheiden aus, da die Klägerin nicht ansatzweise dargelegt hat, für welche
Innendiensttätigkeit sie hinreichend qualifiziert sein soll und wie diese Tätigkeit
vergütet werden sollte.
c) Die Beklagte hat ferner die nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts erforderliche Anhörung der Klägerin am 05.03.2009
durchgeführt. Dass die Klägerin in dieser Anhörung wegen des laufenden
strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens keine Aussage gemacht hat, ist
unschädlich, da es nach Sinn und Zweck des Anhörungserfordernisses nur darauf
ankommt, dass dem betroffenen Arbeitnehmer vom Arbeitgeber die Möglichkeit
gegeben wird, entlastende Umstände vorzutragen. Wenn die Klägerin diese
Möglichkeit nicht wahrnimmt, ist dies jedenfalls nicht der Beklagten anzulasten.
4. Vorliegend ist auch die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB
eingehalten. Das streitgegenständliche Zugunglück erfolgte zwar am ... Der
Beginn der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist aber gehemmt, soweit und
solange der Kündigungsberechtigte die zur Aufklärung des
Kündigungssachverhalts nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig
erscheinenden Maßnahmen mit der gebotenen Eile durchführt (siehe
). Soweit im
Übrigen der betroffene Arbeitnehmer im Rahmen einer beabsichtigten
Verdachtskündigung gehört werden soll, wie vorliegend, ist die Anhörung idR
binnen einer Woche nach Aufklärung des Sachverhaltes durchzuführen (siehe
). Ausnahmen
hiervon sind nur unter besonderen Umständen anzuerkennen. Es ist angesichts
des Geschehensablaufs nicht zu erkennen, dass die Bekl. die notwendigen
Sachverhaltsermittlungen nicht mit der gebotenen Eile durchgeführt hat. Zwar
sind bis zur Fertigstellung des von dem Untersuchungsführer, Herrn ..., erstellten
"Untersuchungsberichts des ... zu gefährlichen Ereignissen im Eisenbahnbetrieb
(Eisenbahn-Untersuchungsbericht)", der an das Eisenbahnbundesamt (EBA) als
Aufsichtsbehörde der Bekl. gerichtet ist, am 25.02.2009 genau 16 Wochen und
damit etwas weniger als 4 Monate vergangen. Hierbei ist aber zu berücksichtigen,
dass in diesen Zeitraum das Weihnachtsfest, der Jahreswechsel und die
Winterferien fallen Zum anderen ist die Dauer von 16 Wochen angesichts der
umfangreichen tatsächlichen Ausführungen in dem Untersuchungsbericht, der
Schadensermittlung, der Rekonstruktion des Unfallherganges einschließlich der
Vernehmung der zuständigen Mitarbeiter nach Auffassung der Kammer nicht zu
beanstanden. Auch haben die Bekl. die Wochenfrist zwischen dem Ende der
Sachverhaltsaufklärung und der Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers
gewahrt, denn der Untersuchungsbericht ging den Kündigungsberechtigten der
Bekl. am 26.02.2009 zu und die Anhörung der Klägerin fand am 05.03.2009 statt.
Insofern hat die Beklagte die Ermittlung mit der gebotenen eile durchgeführt, so
dass der Beginn für die Frist des § 626 Abs. 2 BGB auf den 05.02.2009 fällt, so
dass die Kündigung vom 11.03.2009 fristgerecht gegenüber der Klägerin erklärt
wurde.
36
37
38
39
40
41
5. Schließlich wurde der zuständige Betriebsrat der Bekl. vor Ausspruch der
Kündigung ordnungsgemäß iSv § 102 BetrVG beteiligt.
III. Soweit sich die Kündigungsschutzklage auch gegen die fristlose
Tatkündigung sowie gegen die hilfsweise fristlose (Tat- und Verdachts-)Kündigung
mit sozialer Auslauffrist vom 11.03.2009 richtet, ist hierüber nicht mehr zu
entscheiden, da die Beklagte aufgrund der vorherigen Ausführungen das
Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien bereits mit der außerordentlichen
Verdachtskündigung vom 11.03.2009 beendet hat.
IV. Die Kosten des Rechtsstreites trägt die Klägerin, da sie unterlegen ist, § 46
Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO.
V. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes im Urteil beruht auf §
61 Abs. 1 ArbGG. Der Wert des Streitgegenstandes wurde vorliegend auf €
8.116,28 (= 4 x Bruttomonatsgehalt i. H. v. € 2.029,07) festgesetzt, wobei für den
Kündigungsschutzantrag, obwohl dieser auch eine hilfsweise außerordentliche
Kündigung mit sozialer Auslauffrist enthält, an sich lediglich drei
Bruttomonatsgehälter und damit lediglich ein Betrag von € 6.087,21 festzusetzen
gewesen wäre.
VI. Gründe, die Berufung gemäß § 64 Abs. 3 ArbGG gesondert zuzulassen,
liegen nicht vor, insbesondere kommt der Rechtssache keine grundsätzliche
Bedeutung gemäß §§ 64 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 2 lit. a.) ArbGG zu. Die ohnehin
gegebene Zulässigkeit der Berufung gemäß § 64 Abs. 2 lit. c.) ArbGG bleibt
hiervon unberührt. Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ist gemäß §
64 Abs. 3 a Satz 1 ArbGG in den Urteilstenor aufzunehmen.
VII. Eine Rechtsmittelbelehrung findet sich auf der nächsten Seite.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.