Urteil des ArbG Essen vom 08.11.2007

ArbG Essen: ordentliche kündigung, krankheit, behinderung, angemessene entschädigung, juristische person, ware, begriff, arbeitsunfähigkeit, eugh, arbeitsgericht

Arbeitsgericht Essen, 8 Ca 1926/07
Datum:
08.11.2007
Gericht:
Arbeitsgericht Essen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Ca 1926/07
Schlagworte:
ohne
Normen:
ohne
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
kein Leitsatz vorhanden
Tenor:
I.Es wird festsgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
ordentliche Kündigung der Beklagten vom 15.05.2007 nicht aufgelöst
worden ist.
II.Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen
Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu den bisherigen
arbeitsvertraglichen Bedingungen als Kommissionierer
weiterzubeschäftigen.
III.Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ein qualifiziertes
Zwischenzeugnis zu erteilen.
IV.Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
V.Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 68 % und die
Beklagte zu 32 %.
VI.Der Streitwert wird auf 43.858,- € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten u.a. über die Wirksamkeit einer von der Beklagten
ausgesprochenen krankheitsbedingten ordentlichen Kündigung.
2
Der am 2..09.1969 geborene Kläger ist seit dem 01.12.1992 bei der Beklagten aufgrund
des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 15.2..1999 (Bl. 5 - 7 d.A.) als Kommissionierer
tätig. Er ist verheiratet und drei Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Seine
Bruttomonatsvergütung beträgt durchschnittlich mindestens 2.500,- €.
3
Die Beklagte beschäftigt mehr als 5 Arbeitnehmer. Im Betrieb der Beklagten existiert ein
4
Betriebsrat.
Der Kläger hat seit dem Jahr 2000 folgende krankheitsbedingte Fehlzeiten.
5
Jahr
6
Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung
7
2000
8
31.01.2000
9
01.02.2000 - 18.02.2000
10
21.02.2000 - 28.02.2000
11
01.03.2000 - 11.03.2000
12
19.07.2000 - 31.07.2000
13
01.08.2000 - 26.08.2000
14
29.09.2000 - 30.09.2000
15
01.2..2000 - 02.2..2000
16
insgesamt
17
45
18
2001
19
15.02.2001 - 28.02.2001
20
01.03.2001 - 28.03.2001
21
04.2..2001 - 30.2..2001
22
Insgesamt
23
49
24
2002
25
11.02.2002 - 28.02.2002
26
01.03.2002 - 09.03.2002
27
18.03.2002 - 22.03.2002
28
01.08.2002 - 16.08.2002
29
19.08.2002 - 31.08.2002
30
01.09.2002 - 05.09.2002
31
31.2..2002
32
01.11.2002 - 07.11.2002
33
Insgesamt
34
56
35
2003
36
09.01.2003 - 14.01.2003
37
04.03.2003 - 2..03.2003
38
01.04.2003 - 11.04.2003
39
17.04.2003 - 25.04.2003
40
30.09.2003
41
01.2..2003 - 02.2..2003
42
27.11.2003 - 30.11.2003
43
01.12.2003 - 02.12.2003
44
15.12.2003 - 19.12.2003
45
Insgesamt
46
38
47
2004
48
17.05.2004 - 28.05.2004
49
02.08.2004 - 06.08.2004
50
06.12.2004 - 17.12.2004
51
20.12.2004 - 24.12.2004
52
Insgesamt
53
30
54
2005
55
01.01.2005 - 05.01.2005
56
09.05.2005 - 23.05.2005
57
22.08.2005 - 31.08.2005
58
01.09.2005 - 02.09.2005
59
Insgesamt
60
20
61
2006
62
21.04.2006 - 30.04.2006
63
01.05.2006 - 05.05.2006
64
20.07.2006 - 31.07.2006
65
01.08.2006 - 15.08.2006
66
Insgesamt
67
30
68
2007
69
26.01.2007 - 31.01.2007
70
01.02.2007 - 02.02.2007
71
02.04.2007 - 30.04.2007
72
Insgesamt
73
25
74
Die Beklagte beziffert die seit 2000 entstandenen Entgeldfortzahlungskosten mit
33.130,56 € brutto.
75
Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 26.04.2007 (Bl. 41 bis 47 d.A.) zu
der beabsichtigten Kündigung des Klägers an.
76
Mit Schreiben vom 15.05.2007 (Bl. 8 d.A.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis
„aus krankheitsbedingten Gründen“ zum 30.11.2007. Das Kündigungsschreiben ging
dem Kläger am 17.05.2007 zu.
77
Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 21.05.2007 (Bl. 9 d.A.) forderte der
78
Kläger die Beklagte u.a. zur Erteilung eines Zwischenzeugnisses auf.
Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 04.06.2007 erhob der Kläger u.a.
eine Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung vom 15.05.2007. Mit den
Schriftsätzen vom 2..08.2007 und 28.09.2007 hat er die Klage um einen
Weiterbeschäftigungsanspruch und um einen behaupteten Entschädigungsanspruch
über 30.000,- € nach § 15 Abs. 2 AGG erweitert.
79
Der Kläger meint, dass die Kündigung vom 15.05.2007 unwirksam sei. Die
Entgeltfortzahlungszeiten hätten insbesondere in den letzten zwei Kalenderjahren vor
Ausspruch der Kündigung den 6-Wochenzeitraum nicht überschritten. Die
Arbeitsunfähigkeiten in 2006, für welche die Beklagte Entgeltfortzahlung geleistet habe,
nämlich vom 21.04.2006 bis 05.05.2006 und vom 20.7.2006 bis 15.08.2006 umfassten
nicht mehr als 6 Wochen, nämlich nur 29 Arbeitstage. Die Arbeitsunfähigkeitzeiten in
2007 machten lediglich 24 Arbeitstage aus. Im Jahr 2005 sei der Kläger - was unstreitig
ist - nur an 20 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Insoweit habe die Beklagte nicht
unzumutbar hohe Entgeltfortzahlungskosten leisten müssen. Bei der überwiegenden
Zahl seiner Erkrankungen bestehe keine Wiederholungsgefahr. Wie sich aus der
Bescheinigung der Knappschaft vom 31.05.2007 (Bl. 62 d.A.) ergebe, habe er vom
26.01.2007 bis 02.02.2007 - was unstreitig ist - an einer Gastroenteritis und vom
22.08.2005 bis 02.09.2005 - was unstreitig ist - an einer Verletzung der Schulter gelitten.
Bei den übrigen Erkrankungen, die in der Bescheinigung der Knappschaft aufgeführt
seien (Radikulopahtie in der Zeit vom 09.05.2005 bis 23.05.2005, sonstige
Erkrankungen des Weichteils in der Zeit vom 02.08.2004 bis 06.08.2004,
Lumboischialgie in der Zeit vom 21.04.2006 bis 05.05.2006) handele es sich um
orthopädische, durch die Belastung am Arbeitsplatz hervorgerufene Erkrankungen. Er
bestreitet, dass der Beklagten für die aufgelisteten Krankheitszeiträume seit 2000
Entgeltfortzahlungskosten in Höhe von 33.130,56 € entstandenen seien. Der Kläger
bestreitet, dass es aufgrund seiner Fehlzeiten zu Betriebsablaufstörungen gekommen
sei. Das Vorbringen der Beklagten sei zudem nicht schlüssig.
80
Der Kläger meint, dass er gegen die Beklagte einen Entschädigungsanspruch in Höhe
von mindestens 30.000,- € aus § 15 Abs. 2 AGG habe. Die Kündigung vom 15.05.2007
stelle eine ungerechtfertigte Benachteiligung des Klägers wegen Behinderung dar. § 2
Abs. 4 AGG sei einschränkend dahingehend auszulegen, dass auch im
Kündigungsrecht die Diskriminierungsverbote zu beachten seien. Die Kündigung
wegen einer Erkrankung, die zugleich eine Behinderung sei, verstoße gegen § 1 AGG.
81
Der Kläger beantragt - unter teilweiser Rücknahme des Klageantrages aus dem
Schriftsatz vom 28.09.2007 - zuletzt,
82
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die
Kündigung der Beklagten vom 15.05.2007 aufgelöst wurde, sondern
ungekündigt fortbesteht,
83
die Beklagte zu verurteilen, ihm ein qualifiziertes, wohlwollendes
Zwischenzeugnis zu erteilen,
84
die Beklagte zu verurteilen, ihm eine angemessene Entschädigung,
mindestens 30.000,- €, für die krankheitsbedingte Kündigung vom
15.05.2007 zu zahlen,
85
die Beklagte zu verurteilen, ihn zu den bisherigen arbeitsvertraglichen
Bedingungen als Kommissionierer über den 30.11.2007 hinaus bis zum
rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutz-verfahrens
weiterzubeschäftigen.
86
Die Beklagte beantragt,
87
die Klage abzuweisen.
88
Die Beklagte meint, die Kündigung sei aufgrund der krankheitsbedingten Fehlzeiten des
Klägers gerechtfertigt. Die Fehlzeiten des Klägers seit 2000 würden eine negative
Gesundheitsprognose rechtfertigen. Diese Fehlzeiten hätten zu einer erheblichen
Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt. Als erhebliche wirtschaftliche
Belastungen seien die seit dem Jahr 2000 entstandenen Entgeltfortzahlungskosten zu
sehen. Diese beliefen sich auf insgesamt 33.130,56 €. Hinsichtlich der Einzelheiten der
Berechnung der Beklagten wird auf die Ausführungen auf den Seiten 2 bis 5 des
Schriftsatzes vom 20.08.2007 (Bl. 33 bis 36 d.A.) verwiesen.
89
Die Fehlzeiten des Klägers hätten auch zu Betriebsablaufstörungen geführt.
Insbesondere bei einem Großhandelsunternehmen, das täglich eine Vielzahl von
Geschäften mit frischen Produkten jeglicher Art zu beliefern habe, setze ein
reibungsloser Betriebsablauf voraus, dass der Arbeitgeber in der Lage sei, im Hinblick
auf die zu kommissionierenden und auszuliefernden Waren genau zu planen, damit
sämtliche Märkte beliefert werden könnten. Die Ausfallzeiten des Klägers hätten zu
Störungen in diesem Prozess geführt. Bei häufigen Fehlzeiten von Kommissionierern
werde der Arbeitgeber genötigt, Arbeitnehmern aus anderen Arbeitsbereichen
abzuziehen, und dann als Kommissionierer einzusetzen. Der Abzug von an sich
benötigten Arbeitskräften aus anderen Arbeitsbereichen stelle eine schwerwiegende
Störung im Produktionsprozess dar. Eine Verzögerung in der Kommissionierung führe
dazu, dass die darauf folgenden Arbeiten im Betrieb nicht rechtzeitig durchgeführt
werden könnten. Es komme zu Wartezeiten von Fahrern, die die Ware nicht ausliefern
könnten. Wenn Auslieferungszeiten nicht eingehalten werden könnten, führe dies zu
weiteren Verzögerungen bei der Belieferung, da der Fahrer bei dem zu beliefernden
Kunden nicht planmäßig eintreffen könne und dadurch auch dort Wartezeiten und
Verspätungen entstehen könnten. Gerade ein Großhandelsunternehmen, das frische
Produkte ausliefere, habe sich durch absolute Pünktlichkeit und Exaktheit der
Belieferung auszuzeichnen, da ansonsten Kunden schnell nicht mehr beliefert werden
wollten. Der Einsatz von etwaigen anderen Arbeitskräften aus anderen Abteilungen
führe zu einer höheren Fehlerquote bei der Kommissionierung, was zwangsläufig auch
Probleme bei der Belieferung ergebe, da bei Fehlern nachgeliefert werden müsse. Eine
Nachlieferung führe jedoch zu einer völligen Unrentabilität, da Lkws, gering beladen,
zum Teil erhebliche Strecken zurücklegen müssten. Bei einer Häufigkeit von Fehlzeiten
müssten Überstunden angeordnet werden, die auf den ganzen Betrieb ausstrahlten, da
sich die Leistungskette nach der Kommissionierung erheblich verzögere. Eine
Personalreserve werde im Betrieb nicht vorgehalten. Eine Umorganisation der Arbeit sei
nicht möglich, da die Kommissionierung nach der Warenannahme der zweite
Produktionsschritt zur Auslieferung der Ware sei, an die sich die weiteren
Lieferungsschritte, wie die Kontrolle der kommissionierten Ware, die Auslieferung der
Ware und anschließende Buchung anschließen würden. In den Krankheitszeiten des
Klägers sei Mehrarbeit geleistet worden. Hinsichtlich der Einzelheiten des Vorbringens
90
der Beklagten zu der Mehrarbeit im Zeitraum vom 26.01.2007 bis zum 05.05.2007 und
vom 20.07.2006 bis zum 31.07.2006 wird auf die Ausführungen auf den Seiten 2 bis 17
im Schriftsatz vom 31.2..2007 (Bl. 72 - 87 d.A.) verwiesen. Auch die Auslieferungszeiten
hätten sich verzögert. Hinsichtlich der Auslieferungszeiten in der 4. Kalenderwoche, 5.
Kalenderwoche, 14. Kalenderwoche, 15. Kalenderwoche 16. Kalenderwoche, 17.
Kalenderwoche und 18. Kalenderwoche des Jahres 2007 wird auf die Ausführungen auf
den Seiten 18 bis 22 des Schriftsatzes vom 31.2..2007 (Bl. 88 - 92 d.A.) verwiesen.
Dem Kläger stehe schließlich auch kein Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2
AGG zu. Der Anspruch scheitere bereits daran, dass der Kläger nicht behindert sei. Er
habe in keiner Weise substanziiert eine vermeintliche Behinderung - die ausdrücklich
bestritten werde - dargelegt. Die bloße Krankheit könne nicht mit einer Behinderung
gleichgestellt werden.
91
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
92
Entscheidungsgründe
93
Die zulässige Klage ist begründet.
94
I.
95
Die zulässige Kündigungsschutzklage 04.06.2007 ist begründet. Die ordentliche
Kündigung vom 15.05.2007 verstößt gegen das Kündigungsschutzgesetz und hat damit
das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet.
96
1.)
97
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien ist unstreitig gemäß § 1 Abs. 1 i.V.m. § 23 Abs. 1
KSchG das Kündigungsschutzgesetz anzuwenden. Der Kläger hat mit seiner
Kündigungsschutzklage die Frist des § 4 Satz 1 KSchG gemäß §§ 46 Abs. 2 ArbGG,
253 Abs. 1, 261 Abs. 1, 270 Abs. 3 ZPO gewahrt.
98
2.)
99
Die Kündigung vom 15.05.2007 ist nicht sozial gerechtfertigt, weil kein
personenbedingter Kündigungsgrund im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 1. Alt KSchG
vorliegt.
100
a.)
101
Die Beklagte stützt diese Kündigung auf den Kündigungstypus „der häufigen
Kurzerkrankung“.
102
Nach den von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes entwickelten Kriterien
ist die Rechtmäßigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung in drei Schritten zu prüfen
(vgl. BAG, Urteil vom 07.11.2002 - 2 AZR 599/01 - in. EzA § 1 KSchG Krankheit Nr. 50;
BAG, Urteil vom 29.04.1999 - 2 AZR 431/98 - in: AP Nr. 36 zu § 1 KSchG 1969
Krankheit; BAG, Urteil vom 12.12.1996 - 2 AZR 7/96 - in: EzA § 1 KSchG Krankheit Nr.
41; BAG, Urteil vom 29.07.1993 - 2 AZR 155/93 - in: AP Nr. 27 zu § 1 KSchG 1969
103
Krankheit; BAG, Urteil vom 14.01.1993 - 2 AZR 343/92 - in: NZA 1994, 309; BAG, Urteil
vom 21.05.1992 - 2 AZR 399/91 - in: AP Nr. 30 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Danach
ist zunächst eine negative Gesundheitsprognose erforderlich. Es müssen abgestellt auf
den Zeitpunkt der Kündigung objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer
Erkrankungen im bisherigen Umfang rechtfertigen. Häufige Kurzerkrankungen in der
Vergangenheit können für eine entsprechende künftige Entwicklung des
Krankheitsbildes sprechen. In den vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fällen, in
denen es um die Indizwirkung vergangener Fehlzeiten ging, lag stets ein Zeitraum für
die Beurteilung des Krankheitsbildes von mindestens vier Jahren zugrunde (vgl. BAG,
Urteil vom 12.12.1996 a. a. O.; BAG, Urteil vom 29.07.1993 a. a. O.; BAG, Urteil vom
05.07.1990 - 2 AZR 154/90 - in: AP Nr. 26 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit; BAG, Urteil
vom 06.09.1989 - 2 AZR 118/89 - in: EzA § 1 KSchG Krankheit Nr. 27; BAG, Urteil vom
16.02.1989 - 2 AZR 299/88 - in: DB 1989, 2075; BAG, Urteil vom 15.02.1984 - 2 AZR
573/82 - in: NZA 1984, 86). Erheblich sind Fehlzeitenquoten von sechs oder mehr
Wochen pro Jahr (vgl. BAG, Urteil vom 29.07.1993 - 2 AZR 155/93 - a. a. O.; BAG, Urteil
vom 05.07.1990 - 2 AZR 154/90 - a. a. O.; BAG, Urteil vom 12.12.1996 - 2 AZR 7/96 - a.
a. O.). Ausgeheilte Erkrankungen, Unfälle oder sonstige einmalige Erkrankungen
entfalten keine Indizwirkung für zukünftige Fehlzeiten und sind herauszurechnen. Bei
einer negativen Indizwirkung hat der Arbeitnehmer gemäß § 138 Abs. 2 ZPO darzutun,
weshalb mit einer baldigen Genesung zu rechnen ist. Dieser prozessualen
Mitwirkungspflicht genügt er jedoch schon dann, wenn er die Behauptung des
Arbeitgebers nicht nur bestreitet, sondern seinerseits vorträgt, die ihn behandelnden
Ärzte hätten die gesundheitliche Entwicklung positiv beurteilt, und wenn er die ihn
behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbindet. Dann ist es Sache des
Arbeitgebers, den Beweis für das Vorliegen einer negativen Gesundheitsprognose zu
führen (vgl. BAG, Urteil vom 07.11.2002 - 2 AZR 599/01 - a. a. O.; BAG, Urteil vom
09.05.1993 - 2 AZR 539/92 - in: RzK I 5g Nr. 53).
Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob die nach der Prognose zu erwartenden
Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers zu einer erheblichen
Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen des Arbeitgebers führen. Insoweit
kommen neben sogenannten Betriebsablaufstörungen insbesondere auch erhebliche
wirtschaftliche Belastungen durch außergewöhnlich hohe Entgeltfortzahlungskosten in
Betracht. Sie müssen über das dem Arbeitgeber zumutbare Maß von sechs Wochen im
Jahr hinausgehen (vgl. BAG, Urteil vom 12.12.1996 - 2 AZR 7/96 - a. a. O.; BAG, Urteil
vom 29.07.1993 - 2 AZR 155/93 - a. a. O.; BAG, Urteil vom 05.07.1990 - 2 AZR 154/90 -
a. a. O.).
104
In der dritten Stufe ist sodann im Rahmen der nach § 1 Abs. 2 KSchG gebotene
Interessenabwägung zu prüfen, ob diese Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber
billigerweise nicht mehr hingenommen werden können. Hierbei ist zu berücksichtigen,
ob die Erkrankungen auf betriebliche Ursachen zurückzuführen sind, ob und wie lange
das Arbeitsverhältnis zunächst ungestört verlaufen ist und ob der Arbeitgeber eine
Personalreserve vorhält. Ferner ist das Alter, der Familienstand, die Unterhaltspflichten
und auch eine Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zu berücksichtigen (BAG, Urteil
vom 12.12.1996 - 2 AZR 7/96 - a. a. O.; BAG, Urteil vom 20.01.2000 - 2 AZR 378/99 - in:
AP Nr. 38 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).
105
b.)
106
Die Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung wegen häufiger
107
Kurzerkrankung liegen nicht vor.
Es kann dahinstehen, ob im Zeitpunkt der Kündigung vom 15.05.2007 eine negative
Gesundheitsprognose bestanden hat. Selbst wenn man dies zugunsten der Beklagten
unterstellen würde, ist die Kündigung vom 15.05.2007 nach dem bisherigen Vorbringen
nicht begründet, da die Beklagte nicht hinreichend dargelegt hat, dass die nach der
Prognose zu erwartenden weiteren krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers zu
einer erheblichen Beeinträchtigung ihrer betrieblichen Interessen führen werden.
108
aa.)
109
Die Beklagte kann sich in diesem Zusammenhang nicht auf weiterhin zu erwartende
erhebliche wirtschaftliche Belastungen durch außergewöhnlich hohe
Entgeltfortzahlungskosten berufen.
110
Es ist zwar davon auszugehen, dass die Beklagte aufgrund der Arbeitsunfähigkeiten
des Klägers seit 2000 Entgeltfortzahlung in Höhe von insgesamt 33.130,56 € geleistet
hat. Der Kläger hat dies nicht hinreichend bestritten. Da er sowohl seine
Arbeitsunfähigkeitszeiten als auch die Höhe der in diesem Zeitraum bezogenen
Vergütung kennt, hätte er darlegen müssen, von welchen Entgeltfortzahlungskosten er
selbst ausgeht. Die Beklagte musste in den maßgeblichen Prognosezeitraum der letzten
vier Jahre vor Ausspruch der Kündigung vom 15.05.2007 aber nie mehr als an 30
Arbeitstagen Entgeltfortzahlung leisten, und zwar an 30 Arbeitstagen in 2004, an 20
Arbeitstagen in 2005, an 30 Arbeitstagen in 2006 und an 25 Arbeitstagen in der Zeit vom
01.01.2007 bis 30.04.2007. Zudem müssen die Arbeitsunfähigkeitszeiten vom
22.08.2005 bis 02.09.2005 und 26.01.2007 bis 02.02.2007 noch herausgerechnet
werden. Die Arbeitsunfähigkeitszeit vom 22.08.2005 bis 02.09.2005 beruhte auf einer
Schulterverletzung. Da es sich bei der Schulterverletzung um ein einmaliges Ereignis
handelt und diese Verletzung ausgeheilt ist, können diese Zeiten nicht berücksichtigt
werden. Es sind diesbezüglich keine zukünftigen Krankheitszeiten zu erwarten. Die
Arbeitsunfähigkeitszeit im Zeitraum vom 26.01.2007 bis 02.02.2007 beruhen auf einer
ausgeheilten Gastroenteritis. Auch diesbezüglich sind keine weiteren
krankheitsbedingten Fehlzeiten zu erwarten. Die in den Jahren 2004 bis 2006 und im
Zeitraum vom 01.01.2007 bis 30.04.2007 aufgewendeten Entgeltfortzahlungskosten
liegen jeweils unterhalb des 6-Wöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums, den der
Arbeitgeber als zumutbar hinnehmen muss. Es ist auch zu berücksichtigen, dass die
Anzahl der krankheitsbedingten Fehltage, an denen die Beklagten Entgeltfortzahlung
leisten musste, mit Ausnahme des Jahres 2002, bis zum Ausspruch der Kündigung
rückläufig waren. Nach dem derzeitigen Sachstand ist nicht mit
Entgeltfortzahlungskosten für Krankheitszeiten, die über den als zumutbar
anzusehenden 6-Wochenzeitraum hinausgehen, zu rechnen.
111
bb.)
112
Die Beklagte hat auch nicht schlüssig dargelegt, dass die krankheitsbedingten
Fehlzeiten des Klägers zu erheblichen Betriebsablaufstörungen geführt haben, und
dass solche weiterhin zu erwarten sind.
113
Soweit die Beklagte behauptet, dass die Ausfallzeiten zu Störungen im
„Produktionsprozess“ geführt hätten, ist dieses Vorbringen nicht hinreichend. Die
Beklagte hat nicht dargelegt, welche Arbeitsunfähigkeitszeit des Klägers aus welchen
114
Gründen zu welcher Störung bei der Kommissionierung und Auslieferung der Ware
geführt haben soll. Sie hat nicht dargelegt, welche Arbeitskraft aufgrund welcher
krankheitsbedingten Abwesenheit aus welchem anderen Arbeitsbereich abgezogen
worden sein soll, und was für eine „schwerwiegende Störung im Produktionsprozess“
dies zur Folge gehabt haben soll. Sie hat auch nicht hinreichend dargelegt, dass die
verspäteten Auslieferungszeiten in der 4. Kalenderwoche, 5. Kalenderwoche, 14.
Kalenderwoche, 15. Kalenderwoche16. Kalenderwoche, 17. Kalenderwoche und 18.
Kalenderwoche des Jahres 2007 allein auf eine Verzögerung bei der Kommissionierung
zurückzuführen ist, die ihre Ursache in den Fehlzeiten des Klägers hatten. Sie hat nicht
schlüssig dargelegt, dass es aufgrund der Arbeitsunfähigkeiten des Klägers zu
erheblichen Verzögerungen im „Produktionsprozess“ gekommen ist. Sie hat auch nicht
schlüssig dargelegt, dass es während der krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers
aufgrund des Einsatzes anderer Arbeitskräfte aus anderen Abteilungen zu einer
höheren Fehlerquote gekommen ist, und dass diese Nachlieferungen zur Folge hatten.
Sie hat auch nicht hinreichend dargelegt, dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten des
Klägers dazu geführt haben, dass andere Mitarbeiter eine erhebliche Anzahl an
Überstunden ableisten mussten. Die Beklagte hat zunächst nur hinsichtlich des
Zeitraums vom 20.07.2006 bis 31.07.2006 und vom 26.01.2007 bis zum 27.04.2007
vorgetragen, dass während der Fehlzeiten des Klägers Mehrarbeitsstunden angefallen
seien. Hinsichtlich der weiteren Arbeitsunfähigkeitszeiten fehlt aber jeglicher Vortrag der
Beklagten. Es ist daher überaus fraglich, ob auch während der übrigen
Arbeitsunfähigkeitszeiten ebenfalls Überstunden angefallen sind, oder ob es sich bei
den Überstunden in der Zeit vom 20.07.2006 bis 31.07.2006 und vom 26.01.2007 bis
27.04.2007 um einmalige Vorgänge handelt, die mit der Arbeitsunfähigkeit des Klägers
nicht im Zusammenhang stehen. Die Beklagte hat - soweit sie die einzelnen
Überstunden und die jeweiligen Mitarbeiter, die diese abgeleistet haben, aufführt - auch
nicht darlegt, welche der Überstunden aus welchen Gründen auf die
krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers zurückzuführen sind. So ist es z.B. nicht
nachvollziehbar, dass die Arbeitsunfähigkeit des Klägers am 26.01.2007 zu insgesamt
7,9 Überstunden und am 27.01.2007 zu insgesamt 25,25 Überstunden geführt haben
soll.
II.
115
Der Kläger ist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als
Kommissionierer weiterzubeschäftigen.
116
Ihm steht gegen die Beklagte ein Weiterbeschäftigungsanspruch aus § 611 BGB i.V.m.
dem Arbeitsvertrag i.V.m. dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu. Es kann insoweit
auf die grundlegende Entscheidung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts zum
allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch vom 27.02.1985 - GS 1/84 - verwiesen
werden (BAGE 48, Seite 122, 129.). Hiernach hat der gekündigte Arbeitnehmer einen
arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Ablauf der
Kündigungsfrist hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des
Kündigungsschutzprozesses, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende
schützenswerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Beschäftigung nicht
entgegenstehen.
117
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Kündigung vom 15.05.2007 ist unwirksam.
Die Beklagte hat keine schützenswerten Interessen vorgetragen, die einer
Weiterbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss des
118
Kündigungsschutzverfahrens entgegen stehen. Da der Kläger auch nicht dauerhaft
arbeitsunfähig erkrankt ist, steht eine möglicherweise derzeit bestehende zeitweilige
Arbeitsunfähigkeit der grundsätzlichen Verurteilung der Beklagten zur
Weiterbeschäftigung nicht entgegen.
III.
119
Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses. Dieser ergibt
sich aus § 109 ZPO. Er hat aufgrund der ausgesprochenen Kündigung ein berechtigtes
Interesse an der Erteilung eines Zwischenzeugnisses, da er dieses nutzen kann, um
sich bei anderen Arbeitgebern zu bewerben.
120
IV.
121
Die Klage ist indes unbegründet, soweit der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur
Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 30.000,- € verlangt.
122
Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Entschädigungsanspruch aus § 15 Abs. 2
Satz 1 AGG.
123
Es kann dahinstehen, ob ein Arbeitnehmer im Fall einer Kündigung, die gegen eines
der in § 1 AGG geregelten Diskriminierungsverbote verstößt, und die unwirksam ist,
gegen seinen Arbeitgeber generell einen Entschädigungsanspruch gemäß § 15 Abs. 2
AGG hat (so Bertelsmann in: Rust/Falke, AGG, § 2 AGG, Rdnr. 263, 264; a.A.
Diller/Krieger/Arnold, NZA 2006, Seite 890, die einen Entschädigungsanspruch bei
einer unwirksamen Kündigung ausschließen). Diese Rechtsfrage bedarf vorliegend
keine Entscheidung, weil der Kläger nicht dargelegt hat, dass er behindert im Sinne des
§ 1 AGG ist. Daher stellt die Kündigung vom 15.05.2007 bereits aus diesem Grund
keine diskriminierende Maßnahme dar, die einen Entschädigungsanspruch begründen
könnte.
124
Zur Auslegung des Begriffs „Behinderung“ im Sinne des § 1 AGG ist auf das
Begriffsverständnis der Richtlinie 2000/78/EG zurückzugreifen.
125
Unter den Begriff der „Behinderung“ im Sinne des Art 1 der Richtlinie 2000/78/EG ist, so
der EuGH, eine Einschränkung zu verstehen, die insbesondere auf physische, geistige
oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die
Teilhabe des Betroffenen am Berufsleben bildet. Nach dem Gemeinschaftsrecht sollen
hierbei Fälle erfasst werden, in denen die Teilnahme an dem Berufsleben über einen
längeren Zeitraum eingeschränkt ist. Damit die Einschränkung unter den Begriff der
„Behinderung“ fällt, muss es deshalb wahrscheinlich sein, dass sie von langer Dauer ist.
Die Richtlinie enthält, worauf der EuGH hinweist, keinen Hinweis darauf, dass ein
Arbeitnehmer aufgrund des Verbots der Diskriminierung wegen einer Behinderung in
den Schutzbereich der Richtlinie fällt, wenn sich irgendeine Krankheit manifestiert. Eine
Krankheit als solche ist im Gemeinschaftsrecht nicht als weiterer Diskriminierungsgrund
anzusehen (vgl. EuGH, Urteil vom 11.07.2006 - c- 2./05 - in: NZA 2006, Seite 839 f.;
Rust in: Rust/Falk, AGG, § 1 AGG, Rdnr. 79 m.w.N.; ). Der Begriff der Behinderung ist
daher nicht gleichbedeutend mit dem Begriff der „Krankheit“, worunter nach deutschem
Rechtsverständnis ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand zu verstehen
ist, der eine Heilbehandlung notwendig macht (vgl. Gallner in: Fiebieg u.a., 3. Auflage, §
1 KSchG, Rdnr. 529).
126
Zum Vorliegen einer Behinderung im Sinne des § 1 AGG fehlt aber jeglicher
substanziierter Sachvortrag des Klägers. Er hat weder mitgeteilt, an welcher Art von
Erkrankung er im Zeitpunkt des Zuganges der Kündigung gelitten hat noch hat er
dargelegt, dass seine Teilnahme an dem Berufsleben aufgrund dieser Erkrankung über
einen längeren Zeitraum eingeschränkt ist. Er hat zudem auch keinen Beweis dafür
angeboten, dass er an einer Behinderung im Sinne des § 1 AGG leidet.
127
V.
128
Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 92 Abs. 1 ZPO. Die
Festsetzung des Streitwerts im Tenor des Urteils beruht auf den §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2
ArbGG, 42 Abs. 4 Satz 1 GKG, 3 f. ZPO.
129
Rechtsmittelbelehrung
130
Gegen dieses Urteil kann von der beklagten Partei
131
B e r u f u n g
132
eingelegt werden, weil es sich um eine Bestandsschutzstreitigkeit handelt.
133
Im übrigen kann von jeder Partei Berufung eingelegt werden, wenn der Wert des
Beschwerdegegenstandes 600,-- EUR übersteigt.
134
Die Berufung muss
135
innerhalb einer N o t f r i s t * von einem Monat
136
beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Ludwig-Erhard-Allee 21, 40227 Düsseldorf, Fax:
(0211) 7770 - 2199 eingegangen sein.
137
Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils,
spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung.
138
Die Berufungsschrift muss von einem Rechtsanwalt eingereicht werden; an seine Stelle
können Vertreter einer Gewerkschaft oder einer Vereinigung von Arbeitgebern oder von
Zusammenschlüssen solcher Verbände treten, wenn sie kraft Satzung oder Vollmacht
zur Vertretung befugt sind und der Zusammenschluss, der Verband oder deren
Mitglieder Partei sind. Die gleiche Befugnis haben Angestellte juristischer Personen,
deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der zuvor genannten
Organisationen stehen, solange die juristische Person ausschließlich die
Rechtsberatung und Prozessvertretung der Mitglieder der Organisation entsprechend
deren Satzung durchführt.
139
* Eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
140
Dr. Päuser
141