Urteil des ArbG Dortmund vom 10.03.2009

ArbG Dortmund: fristlose kündigung, ordentliche kündigung, ablauf der frist, wichtiger grund, interessenabwägung, besonders verwerflich, abmahnung, produktion, betriebsrat, zusammenarbeit

Arbeitsgericht Dortmund, 7 Ca 4977/08
Datum:
10.03.2009
Gericht:
Arbeitsgericht Dortmund
Spruchkörper:
7. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 Ca 4977/08
Schlagworte:
§ 626 BGB; außerordentliche Kündigung wegen eines
Eigentumsdeliktes bei geringem Schaden des Arbeitgebers;
Interessenabwägung
Tenor:
1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende
Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 25.09.2008
nicht beendet worden ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten
Bedingungen als Bäcker weiter zu beschäftigen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4. Streitwert: 12.000,00 EUR.
Tatbestand :
1
Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit einer fristlosen, hilfsweise auch als
fristgerechte ausgesprochenen Kündigung sowie um die Verpflichtung der Beklagten
zur Weiterbeschäftigung des Klägers als Bäcker.
2
Die Beklagte betreibt in B2 einen Bäckereibetrieb und beschäftigt etwa 350
Arbeitnehmer. Im Betrieb der Beklagten ist ein Betriebsrat gebildet.
3
Der am 11.06.1964 geboren, ledige Kläger trat am 15.06.1984 als Bäcker in die Dienste
der Beklagten. Er verdiente zuletzt monatlich etwa 2.400,-- € brutto.
4
Unter dem Datum des 10.07.2007 teilte die Beklagte dem Kläger Folgendes mit:
5
"
ARBEITSANWEISUNG
6
Betreff: Rezepturen
7
Sehr geehrter Herr D1,
8
aus gegebenem Anlass weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass Sie sich beim
Backen unbedingt an die Rezepturen und das genaue Abwiegen der Zutaten zu
halten haben.
9
Bei Nichtbeachten müssen Sie mit arbeitsrechtlichen Schritten rechnen.
10
Vielen Dank bereits im Voraus für Ihr Verständnis.
11
Mit freundlichen Grüßen
12
ppa.
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M3 Z1"
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Unter dem Datum des 14.01.2008 erteilte die Beklagte sodann folgende
Arbeitsanweisung:
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"B2 14.01.2008
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ARBEITSANWEISUNG
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Betreff: Verzehr von Ausschusswaren und Retouren
18
Sehr geehrte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen,
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aus gegebenem Anlass weisen wir Sie noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass
Produktionsware nicht grundsätzlich für den Personalverzehr freigegeben ist. Bei
welchen Produktionswaren es sich um einen Ausschuss handelt, entscheiden
ausschließlich folgende Mitarbeiter:
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Herr O1 Herr K3
21
Herr G1 Frau T1
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Die oben genannten Mitarbeiter tragen Sie in die Personaleinkaufscheine ein. Bei
Shopware erhalten Sie einen Rabatt in Höhe von 20 % und bei Ausschuss und
Retouren einen Rabatt in Höhe von 50 % auf den Listenpreis.
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Bei Nichtbeachten erfolgt die fristlose Kündigung und der Diebstahl wird zur
Anzeige gebracht.
24
Vielen Danke bereits im Voraus für Ihr Verständnis.
25
Mit freundlichen Grüßen
26
ppa. M4 Z1"
27
Diese Arbeitsanweisung wurde von denjenigen Arbeitnehmern, den sie vorgelegt
28
wurde, unterzeichnet; der Kläger unterzeichnete die Anweisung nicht, da er zur Zeit ihrer
Herausgabe erkrankt war.
Am Morgen des 18.09.2008 hatte der Kläger sogenannten Hirtenfladenbelag
herzustellen, einen Brotaufstrich, der aus Käse, Öl und verschiedenen Gewürzen
zubereitet wird. Ein Kollege des Klägers, Herr L1, besorgte aus dem Verkaufsladen des
Betriebes zwei Brötchen, der Kläger und Herr L1 bestrichen die Brötchen mit
Hirtenfladenbelag und bissen die Brötchen an.
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In der Folge bemerkte Herr Z1, der Prokurist der Beklagten, ein mit Hirtenfladenbelag
bestrichenes und angebissenes Brötchen und stellte den Kläger zur Rede, der
gegenüber Herrn Z1 zugab, ein Brötchen belegt und mit dem Verzehr begonnen zu
haben. Danach ging der Kläger auf den Produktionsleiter, Herr O1, zu und erklärte
diesem gegenüber, dass es sich nicht um sein Brötchen gehandelt habe. Daraufhin
führten der Prokurist und der Produktionsleiter ein Personalgespräch mit dem Kläger
und hielten ihm vor, dass er jetzt behaupte, es habe sich nicht um sein Brötchen
gehandelt, während er es doch vorher anders bestätigt habe. Dies bejahte der Kläger
und antwortete auf die Frage des Herrn Z1, um wessen Brötchen es sich denn
gehandelt habe, das könne er nicht sagen. Herr Z1 entgegnete, dass der Kläger dann
die Konsequenzen tragen müsse. Er arbeite mit den Rohstoffen und habe bestätigt,
dass es seine Brötchen seien. Herr Z1 habe im Übrigen die Videoüberwachung
ausgewertet und kurz den Kläger und dessen Kollegen, Herrn L1 gesehen. Der Kläger
meinte dann : "Ja, dann können sie sich das ja denken." Es wurden daraufhin die
Angestellte J1 aus dem Personalbüro der Beklagten und Herr L1 zu dem Gespräch
dazu geholt. Herrn L1 wurde der Vorgang vorgehalten, daraufhin erklärte er: "Ne, das ist
auch nicht H6 D1’s Brötchen, das war meins." Nach einer weiteren Auseinandersetzung
zwischen Herrn L1 und Herrn Z1 verließ Herr L1 das Personalgespräch und das
Betriebsgebäude mit den Worten: "Ja, dann müssen Sie mich eben kündigen. Macht
euren Scheiß doch selber. Ich komme morgen nicht!".
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Nach dem Weggang von Herrn L1 fragte der Kläger, was denn nun mit ihm sei, er habe
ja auch sein Brötchen gehabt. Dies überraschte Herrn Z1 etwas, da in diesem
Augenblick die Aufmerksamkeit auf Herrn L1 konzentriert gewesen war. Herr Z1 erklärte
gegenüber dem Kläger, er könne ihn nicht anders behandeln, als Herrn L1, der
immerhin Betriebsratsmitglied sei, er werde das noch rechtlich abklären, der Kläger
solle um 8:00 Uhr am nächsten Tag in das Büro von Herrn Z1 kommen. Der Kläger
erschien bereits um 5:00 Uhr morgens und wurde von dem Produktionsleiter Herrn O1
mit den Worten: "Geh nochmal nach Hause und komm um 8:00 Uhr wieder, da hast Du
den Termin mit Herrn Z1" nach Hause geschickt. Der Kläger erschien jedoch nicht
wieder zu diesem Gespräch; er reichte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein.
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Mit Schreiben vom 25.09.2008, welches dem Kläger noch am selben Tag zuging,
kündigte die Beklagte dem Kläger fristlos und hilfsweise zugleich ordentlich zum
nächstmöglichen Termin. Wegen des Inhalts des Kündigungsschreibens wird auf die
bei den Akten befindliche Ablichtung (Bl. 7 d. A.) verwiesen.
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Gegen die Kündigung vom 25.09.2008 wehrt sich der Kläger mit der vorliegenden
Klage; er verlangt gleichzeitig seine Weiterbeschäftigung als Bäcker zu unveränderten
Bedingungen.
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Der Kläger trägt dazu Folgendes vor:
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Er bestreite mit Nichtwissen, dass der Betriebsrat zur Kündigung vom 25.09.2008
ordnungsgemäß angehört worden sei.
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Ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung liege nicht vor. Der Kläger habe den
Hirtenfladenbelag, den er auf das ordnungsgemäß, gekaufte Brötchen gestrichen habe,
sich nicht rechtswidrig zugeeignet, sondern vielmehr diesen Belag auf das Brötchen
getan, um abzuschmecken. Etwa 2 Wochen vor dem Vorfall sei anlässlich eines
Betriebsfestes bemängelt worden, dass der Hirtenbelag zur scharf und überwürzt
gewesen sei. Diese Beschwerden seien an den Kläger weitergeleitet worden und hätten
dem Kläger Veranlassung gegeben, erneut eine Geschmacksüberprüfung
durchzuführen.
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Die Arbeitsanweisung, nach der Lebensmittel für den eigenen Gebrauch nicht
entnommen werden durften, sei dem Kläger nicht bekannt gewesen. Gleichwohl sei es
für den Kläger selbstverständlich gewesen, Waren für den eigenen Gebrauch auch
ordnungsgemäß zu zahlen.
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Der Kläger habe den Hirtenfladenbelag bei Ausführung seiner Arbeit verzehrt und damit
kein Vermögensdelikt zu Lasten der Beklagten begangen. Hierbei sei darauf
hinzuweisen, dass die Backstube, in der der Kläger arbeite, regelmäßig von mindestens
10 – 12 Videokameras überwacht werde. Der Kläger werde doch nicht vor laufenden
Kameras handeln, wenn er das Gefühl habe, er könne sich strafbar machen oder man
könne von einer Schädigung der Beklagten ausgehen.
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Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Kläger sich pflichtwidrig verhalten habe, sei
die Kündigung wegen der Interessenabwägung, die zu Gunsten des Klägers ausfallen
müsse, nicht wirksam. Der Kläger sei nahezu 25 Jahre für die Beklagte tätig, ohne dass
es jemals zur Pflichtverletzungen insbesondere im Vertrauensbereich oder zur
Abmahnung gekommen sei. Außerdem sei der Verstoß nicht von erheblicher Schwere,
da der Kläger aus der Produktion von 12 kg lediglich eine Teelöffel voll, mithin 5 – 10
Gramm im Wert von weniger als 0,10 € für die Geschmacksprobe entnommen habe.
39
Eine Verdachtskündigung sei nicht ausgesprochen worden. Die hierfür erforderliche
Anhörungs- und Aufklärungsarbeit sei von der Beklagten nicht geleistet worden. Auch
sei der Betriebsrat nicht zu einer Verdachtskündigung angehört worden.
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Der Kläger beantragt
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1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht
durch das Schreiben vom 25.September 2008, zugestellt ebenfalls am
25.September 2008, beendet worden ist;
2. die Beklagte zu verpflichten, den Kläger auch über den 25.09.2008 hinaus zu
unveränderten Bedingungen als Bäcker weiter zu beschäftigen.
42
43
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
45
Die Beklagte hält die außerordentliche Kündigung vom 25.09.2008 für rechtswirksam.
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Der Kläger habe schuldhaft und rechtswidrig das Vermögen der Beklagten dadurch
geschädigt, dass er sich unerlaubt Lebensmittel aus der Produktion genommen und
verzehrt habe. Auch wenn der Kläger die Arbeitsanweisung vom 14.01.2008 nicht
unterzeichnet habe, sei ihm das dort geforderte Verfahren bekannt gewesen. Der Kläger
habe gewusst, dass er dass von ihm erstandene Brötchen nicht mit Hirtenfladenbelag
bestreichen durfte.
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Die Behauptung des Klägers, er habe nur eine Probe von dem Hirtenfladenbelag
nehmen wollen, um zu sehen ob die Rezeptur stimme, sei eine offensichtliche
Schutzbehauptung. Derartige Probeentnahmen gebe es nicht. Diese wären dem Kläger
auch aus Gründen der Einhaltung der Hygienevorschrift nicht erlaubt gewesen. Sie
seien weder betriebliche Übung noch fachlich vorgesehen.
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Der Kläger habe sich einer vorsätzlichen Straftat im Sinne eines Vermögensdeliktes
schuldig gemacht. Der Schwere des Vorwurfs stehe nicht entgegen, dass es sich bei
den Lebensmitteln um Sachen von geringem Wert gehandelt habe.
49
Die Interessenabwägung müsse ebenfalls zu Lasten des Klägers ausgehen. Die
Beklagte habe zwar zu Gunsten des Klägers seine langjährige Betriebszugehörigkeit
gewürdigt und auch den Umstand, dass Abmahnungen zu Lasten des Klägers zu
vergleichbaren Sachverhalten nicht vorgelegen hätten. Auch das Alter des Klägers sei
in Erwägung gezogen worden. Zu Lasten des Klägers müsse allerdings sein kollusives
schädigendes Zusammenwirken mit dem Mitarbeiter L1 gesehen werden. Hier liege
eine grobe Vernachlässigung der Interessen des Arbeitgebers vor. Dies gelte umso
mehr, als während des Produktionsablaufes eine engmaschige Kontrolle der Mitarbeiter
aus örtlichen und zeitlichen Gründen nicht möglich sei. Den Mitarbeitern sei es gerade
in der Frühschicht oder während der Nachtarbeit grundsätzlich möglich, ohne Kontrolle
des Arbeitgebers einzelne Teile der Produktion zu eigenen Gunsten zu entnehmen.
Auch habe sich der Kläger keinesfalls hinsichtlich der Entnahme des Brotaufstrichs
selbst offenbart. Vielmehr habe er zunächst selbst eingeräumt, das Brötchen, zumindest
den Fladenbelag der Produktion entnommen zu haben. Erst nachträglich habe er dies
abgestritten, um dann wiederum nach der Anhörung von Herrn L1 zu fragen, was denn
nun mit ihm passiere. Dies sei nicht einmal ansatzweise ein Geständnis, allenfalls ein
taktisch unkluges Verhalten. Jedenfalls habe kein Geständnis im Rechtssinne
vorgelegen, also auch kein den Kläger privilegierendes oder entlastendes Verhalten.
Die Kündigung sei von der Beklagten als Tatkündigung ausgesprochen worden, solle
aber zumindest hilfsweise als Verdachtskündigung gemeint sein. Jedenfalls sei der
dringende Tatverdacht einer Unterschlagung offenkundig.
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Der Betriebsrat sei vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß gehört worden.
Wegen des Vortrags der Beklagten hierzu wird auf Bl. 8 und 9 des Schriftsatzes der
Beklagten vom 29.01.2009 (Bl. 30 und 31 d. A.) und auf Bl. 3 und 4 des Schriftsatzes
vom 09.03.2009 (d. A.) verwiesen.
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Wegen des übrigen Parteienvortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze und die zu
den Akten gegebenen Schriftstücke verwiesen.
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Entscheidungsgründe :
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Die Klage ist zulässig und begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die
Kündigung der Beklagten vom 25.09.2008 weder mit sofortiger Wirkung noch nach
Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung beendet worden. Die Beklagte ist
verpflichtet, den Kläger zu unveränderten Bedingungen als Bäcker weiter zu
beschäftigen.
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I.
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Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 25.09.2008 hat das
Arbeitsverhältnis der Parteien nicht mit sofortiger Wirkung beendet.
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1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung
aus wichtigem Grund dann aussprechen, wenn ihm die Fortführung des
Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung nicht
zumutbar ist. Die Rechtmäßigkeit einer auf § 626 BGB gestützten
außerordentlichen Kündigung ist nach der Rechtssprechung des
Bundesarbeitsgerichts grundsätzlich in zwei Stufen zu prüfen: In der ersten Stufe
ist festzustellen, ob ein wichtiger Grund vorliegt, welcher geeignet ist, eine
außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Ist dies der Fall, so kann eine hierauf
gestützte beabsichtigte außerordentliche Kündigung gleichwohl das
Arbeitsverhältnis nur dann wirksam beenden, wenn bei der umfassenden
Interessenabwägung das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers, das
Bestandsinteresse des Arbeitnehmers überwiegt (BAG v. 27.04.2006 – 2 AZR
415/05, m. w. N.).
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58
Im vorliegenden Falle konnte die Kammer unterstellen, dass der Kläger sich den
Brotaufstrich rechtswidrig und schuldhaft angeeignet hat, wie die Beklagte
behauptet, der Kläger aber bestritten hat. Denn auch wenn dies der Fall war, war
die streitgegenständliche Kündigung im vorliegenden Falle nicht gerechtfertigt.
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2. Die Kammer geht zwar mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil
v. 12.08.1999 – 2 AZR 923/98; Urteil v. 17.05.1984 – 2 AZR 3/83) davon aus, dass
auch dann, wenn ein Arbeitnehmer eine im Eigentum des Arbeitgebers stehende
Sache von nur sehr geringem Wert rechtswidrig und schuldhaft entwendet hat, ein
Sachverhalt vorliegt, der grundsätzlich geeignet ist, eine außerordentlichen
Kündigung zu rechtfertigen. Die fristlose Kündigung des Klägers ist daher nicht
bereits deswegen rechtsunwirksam, weil der von ihm verzehrte Brotaufstrich nur
einen Wert im Bereich von Cents hatte. Die Frage der Geringfügigkeit der
Eigentumsverletzung ist nicht im Rahmen der Prüfung der ersten Stufe zu
berücksichtigen. Um Geringfügigkeit zu bejahen, ist eine Wertung erforderlich,
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weswegen die Schadenshöhe der Zumutbarkeitsprüfung im Rahmen der
Interessenabwägung zuzuordnen ist. Objektive Kriterien für eine allein am Wert
des entwendeten Gegenstands ausgerichtete Abgrenzung in ein für eine
außerordentliche Kündigung grundsätzlich geeignetes und ein nicht geeignetes
Verhalten lassen sich nicht aufstellen (BAG, Urteil v. 12.08.1999 – 2 AZR 923/98).
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3. Aber auch, wenn ein Verhalten des Arbeitnehmers vorliegt, das an sich geeignet
ist, einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung abzugeben und auch dann,
wenn die Kündigung auf ein Vermögensdelikt zu Lasten des Arbeitgebers gestützt
wird, ist noch eine Interessenabwägung vorzunehmen und erst das Ergebnis
dieser Interessenabwägung ergibt, ob das Verhalten des Arbeitnehmers ausreicht,
eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen (BAG, Urteil v. 17.05.1984 - 2
AZR 3/83, BAG, Urteil v. 12.08.1999 – 2 AZR 923/98).
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4. Die bei der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Umstände lassen sich
nicht abschließend für alle Fälle festlegen. Zunächst kommt der Dauer des
Arbeitsverhältnisses und dessen beanstandungsfreiem Bestand ein besonderes
Gewicht zu. Die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist auch zu berücksichtigen,
wenn eine Kündigung auf ein Vermögensdelikt zu Lasten des Arbeitgebers
gestützt wird. Ferner können das Bestehen einer Wiederholungsgefahr, dass Maß
der dem Arbeitgeber entstandenen Schädigung und auch die Frage in Betracht zu
ziehen seien, ob dem Verhalten des Arbeitnehmers eine besondere
Verwerflichkeit inne wohnt (BAG, Urteil v. 27.04.2006 - 2 AZR 415/05).
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Die erforderliche Interessenabwägung geht im vorliegenden Fall zu Gunsten des
Klägers aus. Wenn alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt werden, so
überwiegt hier das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers das
Beendigungsinteresse des Arbeitgebers auch dann, wenn der Kläger den
Brötchenbelag nur zum persönlichen Gebrauch verzehrt hat. Zu Gunsten des
Klägers war dabei zu berücksichtigen, dass er seit mehr als 24 Jahren bei der
Beklagten beschäftigt war und – wie die Beklagte selbst vorträgt – ihm zuvor im
Vertrauensbereich keinerlei Vorwürfe gemacht werden konnten.
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Ferner hatte im Rahmen der Interessenabwägung die Tatsache , dass der dem
Arbeitgeber entstandene Schaden sehr gering war, erhebliche Bedeutung (vgl.
hierzu BAG, v. 12.08.1999, 2 AZR 923/98, Rz. 26). Nach der Verkehrsanschauung
ist in der Entwendung von Gegenständen, deren Wert im Centbereich liegt, keine
schwerwiegende Verfehlung zu sehen (vgl. LAG Hamm , Urteil v.17.03.1977 – 8 Sa
1348/76, DB 1977,2002).
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Die Kammer konnte schließlich auch nicht finden, dass das Verhalten des Klägers
besonders verwerflich war. Sicherlich ist es nicht korrekt, in einem
Nahrungsmittelbetrieb Speisen zu sich zu nehmen, die aus der Produktion des
Arbeitgebers stammen. Die Kammer hält ein solches Verhalten aber für weniger
verwerflich und auch für weniger schädlich für den Arbeitgeber als ein Verhalten
des Arbeitnehmers, bei dem – auch geringwertige Waren – aus dem
Betriebsbereich des Arbeitgebers nach außen geschafft werden. Denn während
letztlich die Möglichkeit, Speisen des Arbeitgebers im Betrieb zu sich zu nehmen,
begrenzt ist und durch den Arbeitgeber auch in gewissem Umfang kontrolliert
werden kann, werden die Vermögensinteressen des Arbeitgebers bei heimlichem
Entfernen von Waren aus dem Betriebsbereich in einer vom Arbeitgeber kaum zu
beherrschenden Weise beeinträchtigt.
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Schließlich berücksichtigte die Kammer auch, dass der Kläger dann, als der
Verdacht sich auf Grund des Eingeständnisses seines Kollegen L1 sich schließlich
nur noch gegen diesen richtete, seinen Vorgesetzten selbst darauf aufmerksam
gemacht hat, dass er selbst ebenfalls ein Brötchen gegessen hatte. Der Beklagten
ist zwar zuzugestehen, dass der Kläger sich nicht von vorneherein selbst offenbart
hat, sondern dass zunächst Herr Z1 das angebissene Brötchen bemerkt und den
Kläger darauf angesprochen hatte. Nachdem dann aber Herr L1 zugegeben hatte,
das entdeckte Brötchen angebissen zu haben, hätte der Kläger es auch dabei
belassen und hoffen können, dass er in der Folge unbehelligt bleiben werde. Das
hat er aber nicht getan. Diese Tatsache ließ die Kammer als Ausdruck einer auf
Ehrlichkeit ausgerichteten Grundhaltung des Klägers gelten, die zu seinen Gunsten
zu berücksichtigen war. Es liegt hier ein Aspekt vor, der geeignet ist, die
Möglichkeit vertrauensvoller Zusammenarbeit in der Zukunft in einem günstigen
Licht erscheinen zu lassen (vgl. auch BAG, Urteil v. 27.04.2006, 2 AZR 415/05,
Rdz. 22).
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Die Kammer verkennt nicht, dass die Beklagte ein berechtigtes Interesse daran hat,
dass die von ihr gesetzten Regeln hinsichtlich des Verzehrs der im Betrieb
produzierten Waren korrekt eingehalten werden und dass diese Regeln auch dann
gelten müssen, wenn es sich um den Verzehr von sehr geringwertigen Waren
handelt. Auch im Interesse der Arbeitnehmer, die wissen müssen, was ihnen
erlaubt ist und was nicht, muss die Beklagte auf der ausnahmslosen Einhaltung
ihrer Vorschriften bestehen und ein Verhalten, welches diesen Regeln nicht
entspricht, sanktionieren. Die zutreffende Sanktion kann jedoch nicht in jedem Fall
die fristlose Kündigung sein. Es gibt keinen absoluten Grund für eine fristlose
Kündigung; dies gilt auch für den Fall, dass einem Arbeitnehmer ein
Eigentumsdelikt zu Lasten des Arbeitgebers vorzuwerfen ist. Im vorliegenden Fall
wäre den berechtigten Interessen der Beklagten mit einer Abmahnung des Klägers
Genüge getan gewesen.
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Eine Abmahnung ist auch bei Handlungsweisen, die den sogenannten
Vertrauensbereich betreffen, nicht stets entbehrlich, sondern notwendig, wenn ein
steuerbares Verhalten in Rede steht, erwartet werden kann, dass das Vertrauen
wieder hergestellt wird und wenn kein so schwerwiegendes Fehlverhalten des
Arbeitnehmers vorliegt, dass er davon ausgehen musste, er werde mit dem
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Verhalten den Bestand des Arbeitsverhältnisses aufs Spiel setzen (BAG Urteil v.
04.06.1997 – 2 AZR 526/96; BAG, Urteil v. 12.08.1999 – 2 AZR 923/98).
Angesichts des geringen materiellen Schadens, der der Beklagten durch das
Verhalten des Klägers entstanden ist und angesichts der langen, im Hinblick auf
das Vertrauensverhältnis ungestörten Zusammenarbeit der Parteien war die
Abmahnung des Klägers vor Ausspruch einer Kündigung nicht entbehrlich. Es
kann auch erwartet werden, dass sich der Kläger nach Ausspruch einer
Abmahnung an die Anweisungen der Beklagten hält. Ob etwas anderes dann
gelten müsste, wenn der Kläger die Arbeitsanweisung vom 14.01.2008 erhalten
hätte, kann dahinstehen. Denn unstreitig ist sie dem Kläger nichtvorgelegt worden.
Unter Berücksichtigung der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Kläger, der
konkreten Umstände des Falles und des geringen eingetretenen und in einem
Wiederholungsfall zu befürchtenden Schadens war es der Beklagten nach alledem
zumutbar, den Kläger für die Dauer der Kündigungsfrist – nämlich 6 Monate zum
Monatsende und somit bis zum 31.03.2009 – weiter zu beschäftigen. Sofern von
einer Unwirksamkeit des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB ausgegangen wird (vgl. hierzu die
Nachweise in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 18.11.2008 – 1
BvL 4/08, Rdnr. 12) und die für den Kläger anwendbare Kündigungsfrist 7 Monate
beträgt, war es der Beklagten auch zumutbar, den Kläger bis zum 30.04.2009
weiter zu beschäftigen.
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II.
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Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist auch nicht durch die vorsorglich ausgesprochene
ordentliche Kündigung der Beklagten mit Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung
beendet worden.
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Auf Grund der Größe des Betriebs der Beklagten und der Dauer seiner
Betriebszugehörigkeit genoss der Kläger Kündigungsschutz gemäß § 1 KSchG. Eine
ordentliche Kündigung konnte ihm deswegen nur dann ausgesprochen werden, wenn
dies durch Gründe in seiner Person, seinem Verhalten oder durch dringende
betriebsbedingte Gründe gerechtfertigt war. Im vorliegenden Fall bestanden jedoch auf
Grund der von der Beklagten vorgetragenen Vorwürfe keine ausreichenden Gründe für
eine verhaltensbedingte Kündigung. Auch bei einer verhaltensbedingte Kündigung ist
eine Interessenabwägung vorzunehmen. Auch hier überwiegt das Interesse des Klägers
am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über das Beendigungsinteresse des
Arbeitgebers. Werden alle Umstände des vorliegenden Falles in Betracht gezogen,
dann war es der Beklagten auch zumutbar, den Kläger nach Ausspruch einer
Abmahnung über die Kündigungsfrist hinaus weiter zu beschäftigen.
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III.
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Da das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten 25.09.2008
nicht beendet worden ist, ist die Beklagte verpflichtet, den Kläger zu unveränderten
Bedingungen als Bäcker weiter zu beschäftigen.
78
IV.
79
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO, die Entscheidung über den Streitwert
aus § 3 ZPO i. V. m. § 42 Abs. 4 GKG.
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