Urteil des ArbG Bielefeld vom 07.03.2006

ArbG Bielefeld: abmahnung, schutzwürdiges interesse, streik, personalakte, bezirk, arbeitsgericht, gewerkschaft, arbeitsunfähigkeit, beendigung, rechtsmittelbelehrung

Arbeitsgericht Bielefeld, 2 Ca 3662/05
Datum:
07.03.2006
Gericht:
Arbeitsgericht Bielefeld
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 Ca 3662/05
Schlagworte:
Streikteilnahme/Nebenpflichten/Abmahnung
Normen:
Gesetzte: §§ 242,1004 BGB
Rechtskraft:
4. Die Berufung wird zugelassen
Tenor:
1. Die Beklagte wird verurteilt, die Abmahnung vom 20.10.2005
aus der Personalakte zu entfernen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Streitwert wird auf 600,00 € festgesetzt
Tatbestand :
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Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit der Abmahnung vom 20.10.2005.
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Die am 22.07.1948 geborene Klägerin ist bei der Beklagten als Zustellerin beschäftigt.
Sie ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Mit Schreiben vom 20.10.2005 erteilte die
Beklagte der Klägerin die streitgegenständliche Abmahnung, in der es heißt:
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"Am 20.10. unterrichtete uns Frau V3xxxxx um 5:30 Uhr, dass Sie an einem Streik
teilnehmen würden.
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Sie haben sich an dem Streik beteiligt. Aus Ihrem Bezirk befand sich ein Teil der
Zeitungen an Ihrer Ablagestelle. Uns war nicht bekannt, welche Straßen betroffen
waren bzw. welche Haushalte Sie nicht beliefert hatten. Von daher waren wir
gezwungen, Ihren kompletten Bezirk nachzutragen.
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Sehr geehrte Frau L1xx, dieses Verhalten verstößt gegen Ihre
arbeitsvertraglichen Pflichten. Sie hätten uns mitteilen müssen, welche Kunden
noch nicht beliefert waren. Das haben Sie entgegen Ihren arbeitsvertraglichen
Nebenpflichten unterlassen. Infolge dessen erteilen wir Ihnen eine
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Abmahnung.
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Sie müssen damit rechnen, dass wir im Wiederholungsfall weitere
arbeitsrechtliche Konsequenzen, bis hin zu einer Kündigung, einleiten werden.
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Diese Abmahnung nehmen wir zu Ihrer Personalakte."
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Die Klägerin nahm am 20.10.2005 an dem von der Gewerkschaft ver.di organisierten
Streik für die Zeitungszusteller und –zustellerinnen teil; Ziel des Streiks war und ist der
Abschluss eines Entgelttarifvertrages sowie Manteltarifvertrages für die Beschäftigten im
Zustellbereich.
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Die Klägerin hält die ausgebrachte Abmahnung für unwirksam, da sie in ihrem
Verhalten ein arbeitsvertragswidriges Verhalten nicht erkennen könne. Sie habe ihre
arbeitsvertraglichen Pflichten auch während des Streiks erfüllt, in dem sie die Beklagte
über Frau V3xxxxx die Information habe zukommen lassen, dass sie sich im Streik
befinde und dass die noch auszutragenden Zeitungen zu der Ablagestelle
zurückgebracht worden seien. Keinesfalls sei die Klägerin verpflichtet gewesen, die
Beklagte darauf hinzuweisen, welche Kunden bereits beliefert worden sind und welche
nicht. Eine solche Verpflichtung ergäbe sich weder automatisch, noch könne sie aus der
Teilnahme am Streik abgeleitet werden. Eine solche Verpflichtung hätte sich allenfalls
dann ergeben können, wenn die Beklagte die Klägerin konkret hiernach gefragt hätte.
Das ist unstreitig jedoch nicht erfolgt.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung vom 20.10.2005 aus der
Personalakte der Klägerin zu entfernen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte meint, dass die Klägerin, die über die Zustellliste verfügt, diese bei
Streikbeginn hätte kennzeichnen müssen, so dass es der Beklagten möglich gewesen
wäre, unmittelbar zu erkennen, welche Haushalt bereits beliefert worden waren und
welche noch nicht. Dass die Beklagte am 20.10.2005 die gesamten Tageszeitungen im
Bezirk der Klägerin erneut und vollständig habe ausgetragen müsse, stehe in keinem
Verhältnis zu der Pflicht der Klägerin, mittels z. B. eines Hakens in der täglichen
Zustellliste eine entsprechende Kenntlichmachung herbeizuführen. Diese Verpflichtung
folge auch aus der Schadensminderungspflicht der Klägerin. Auch in anderen
Bereichen seien entsprechende Nebenpflichten anerkannt, z. B. bei Montageleistungen,
die durch einen Streik unterbrochen werden.
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Wegen des gesamten Vortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen und Protokolle verwiesen, die sämtliche Gegenstand der mündlichen
Verhandlung waren.
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Entscheidungsgründe :
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die Klägerin hat Anspruch auf Entfernung der Abmahnung vom 20.10.2005 aus ihrer
Personalakte in entsprechender Anwendung der §§ 242, 1004 BGB. Nach der
Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts kann die Entfernung einer zu Unrecht
erteilten Abmahnung aus einer Personalakte verlangt werden, wenn die Abmahnung
formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist, sie unrichtige
Tatsachenbehauptungen enthält, sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt
oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitsgebers am Verbleib der Abmahnung in
der Personalakte mehr besteht (so z.B. BAG vom 11.12.2001 in NzA 2002, Seite 965).
Die ungerechtfertigte Abmahnung wird dabei als Verletzung des Persönlichkeitsrechts
des Arbeitnehmers verstanden, das nach § 823 Abs.1 BGB geschützt ist.
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Soweit dem Arbeitnehmer eine Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten
vorgeworfen wird, kommt es nicht darauf an, ob dieser Pflichtenverstoß dem
Arbeitnehmer subjektiv vorwerfbar ist, vielmehr reicht es aus, wenn der Arbeitgeber
einen objektiven Verstoß des Arbeitnehmers gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten
rügt. Eine solche Rüge ist nach der Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts
(a.a.O.) nicht nur ungerechtfertigt, wenn sie unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält,
sondern auch dann, wenn sie auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des
Verhaltens des Arbeitnehmers beruht.
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Die Abmahnung vom 20.10.2005 hält der Klägerin unberechtigt vor, gegen
arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen zu haben. Die Teilnahme der Klägerin am
Streik vom 20.10.2005 war unstreitig rechtmäßig. Eine Verpflichtung der Klägerin, bei
Streikbeginn auf der Zustellerliste kenntlich zu machen, welche Haushalte zum
Zeitpunkt des Streikbeginns bereits beliefert waren und welche noch nicht, bestand
nicht. Grundsätzlich suspendiert der Streik zwar nur die Hauptleistungspflichten;
Nebenleistungspflichten sind jedoch nur unter besonderen Umständen noch zu erfüllen
und von sogenannten Erhaltungsarbeiten abzugrenzen. Erhaltungsarbeiten sind dabei
solche Arbeiten, die auch während eines Arbeitskampfes zu leisten sind und erforderlich
werden, um Anlagen und Betriebsmittel während des Arbeitskampfes so zu erhalten,
dass nach Beendigung des Streiks die Arbeit fortgesetzt werden kann. Dabei hat das
Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 30.03.1982, 1 AZR 265/80 (in AP
Grundgesetz Art. 9 Arbeitskampf Nr. 74) unter III. 4. der Gründe ausgeführt, dass solche
Arbeiten keine Erhaltungsarbeiten sind, die nur deswegen erforderlich werden, weil
nichtstreikende, arbeitswillige Arbeitnehmer weiter beschäftigt werden sollen.
Erhaltungsarbeiten dienen danach dazu, die Fortführung des Betriebes mit
arbeitswilligen Arbeitnehmern zu ermöglichen. Ist deren Weiterbeschäftigung in Folge
des arbeitskampfbedingten Wegfalls anderer Arbeitsleistungen nicht möglich, greifen
die Grundsätze zum Betriebs- bzw. Arbeitskampfrisiko ein. Dieses trägt im vorliegenden
Fall die Beklagtenseite. Die Klägerin hat mit der Ankündigung der Streikteilnahme und
ihrer Arbeitsniederlegung alles Erforderliche getan. Sie hat auch mitgeteilt, an welchem
Platz sich die noch auszutragenden Zeitungen befanden. Eine unmittelbare
Verpflichtung der Mitteilung, welche Haushalte bereits beliefert worden waren und
welche nicht, ergibt sich nicht aus der Streikteilnahme der Klägerin zum Zeitpunkt des
20.10.2005. Insofern liegt der Rechtsstreit anders, als bei einer auftretenden
Arbeitsunfähigkeit. Während man in solchen Fällen dem Arbeitnehmer unter
Berücksichtigung der aufgetretenen Arbeitsunfähigkeit durchaus noch Nebenpflichten
unter Berücksichtigung der Einzelumstände abverlangen kann, bedeutet die
Streikteilnahme die unmittelbare Arbeitsniederlegung. Da zu diesem Zeitpunkt die
unmittelbare Verpflichtung zur Führung der Auslieferungslisten an sich nicht bestand,
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kann sie auch von der Beklagten über die Abmahnung nicht eingefordert werden.
Insoweit liegt der vorliegende Rechtsstreit auch auf einer anderen Ebene als die
Entscheidung des LAG Hamm vom 25.05.1993, 4 Sa 11/93, bei der das LAG Hamm
feststellte, dass die Betätigung der elektronischen Stechuhr beim Verlassen des
Betriebes vor Teilnahme an dem Warnstreik und beim Betreten des Betriebes nach
Rückkehr als Nebenverpflichtung aus dem Arbeitsverhältnis bestehen bleibt. Der
Unterschied liegt darin, dass die hier streitgegenständliche "Nebenverpflichtung" gerade
nicht unabhängig von der Frage eines Streiks bestand, sondern allenfalls - so der
Ansatz der Beklagten – sich durch die Streikteilnahme selbst erst manifestieren soll und
damit erst hierdurch überhaupt entstehen könnte. Im vorliegenden Fall bestand jedoch
zu keinem Zeitpunkt die Nebenverpflichtung der Klägerin, die in ihrem Bezirk
ausgetragenen Zeitungen jederzeit anhand eines Auslieferungsprotokolls
nachvollziehbar für den jeweils aktuellen Auslieferungszustand festzuhalten. Damit
musste es bei dem oben festgestellten Ergebnis verbleiben
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Etwas anderes wäre es gewesen, wenn die Beklagte bei der Klägerin eine
entsprechende ausdrückliche Nachfrage gestellt hätte; hier wäre die Klägerin, unter
Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes während einer Streikteilnahme,
verpflichtet gewesen, entsprechende Auskünfte kurz zu erteilen. Von sich aus musste
die Klägerin jedoch bei der Arbeitsniederlegung keinerlei Angaben über den Stand der
Auslieferung machen.
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Somit rügt die Beklagte in der Abmahnung vom 20.10.2005 gegenüber der Klägerin zu
Unrecht ein arbeitsvertragswidriges Verhalten.
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Damit war der Klage stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die unterliegende Partei trägt die
Kosten des Rechtsstreits.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 61 Abs. 1 ArbGG i. V. m. § 3 ZPO und der
mündlichen Angabe im Kammertermin, dass der Bruttomonatsverdienst der Klägerin ca.
600,00 € betrage.
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Die Zulassung der Berufung auf Antrag der Beklagtenseite beruht auf § 64 Abs. 3 Satz 1
ArbGG; das Gericht hat sich dabei nicht allein davon leiten lassen, dass der normale
Berufungswert von 600,00 € aus § 64 Abs. 2 b) ArbGG nur äußerst knapp verfehlt
worden ist und die Angabe der Klägervertreterin im Kammertermin von ca. 600,00 € evtl.
auch die Annahme eines Streitwerts von 600,01 € gerechtfertigt hätte. Das Gericht ist
aber unabhängig davon zu der Entscheidung gelangt, dass der Rechtsstreit eine
grundsätzliche Bedeutung hat über den vorliegenden Einzelfall hinaus vor der
Hintergrund der noch laufenden Streikmaßnahmen bei der Beklagten und darüber
hinaus vor dem Hintergrund, dass ähnliche Rechtsfälle in der Frage der rechtlichen
Bewertung von Nebenpflichten im Rahmen der Streikteilnahme bisher noch nicht
hinreichend gerichtlich entschieden worden sind und eine Entscheidung über den
Bereich der Parteien hinaus von maßgeblichem Interesse ist.
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Rechtsmittelbelehrung:
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Gegen dieses Urteil kann von
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Berufung
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eingelegt werden. Für die Klägerin ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
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Fleer
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