Urteil des AG Tiergarten vom 15.03.2017

AG Tiergarten: cocain, abstraktes gefährdungsdelikt, cannabis, geldstrafe, verkehr, grenzwert, konsum, vergehen, rückgriff, trunkenheit

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Gericht:
AG Tiergarten
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(310 Cs) 3033 PLs
10607/09 (144/09),
310 Cs 144/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 316 Abs 1 StGB, § 316 Abs 2
StGB, § 52 StGB, § 69 StGB, §
69a StGB
Leitsatz
Ein Kraftfahrer, bei dem 352 ng/ml Benzoylecgonin, ein Abbauprodukt von Cocain, im Serum
zur Tatzeit festgestellt wurden und bei dem der nach der Empfehlung der
Grenzwertekommission für Cocain ermittelte verbindliche Grenzwert an Benzoylecgonin um
mehr als das 4,6 Fache übertroffen ist, ist im Sinne von § 316 StGB fahruntauglich, ohne dass
es auf den Nachweis von Ausfallerscheinungen oder Fahrfehlern ankommt.
Tenor
Der Angeklagte wird wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr infolge
Rauschmittelkonsums in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu
einer Geldstrafe von
50 (fünfzig) Tagessätzen zu je 15,00 (fünfzehn) Euro
verurteilt.
Die Verwaltungsbehörde darf ihm vor Ablauf von 12 (zwölf) Monaten keine Fahrerlaubnis
erteilen.
Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen.
Gründe
(abgekürzte Fassung nach § 267 Abs.4 StPO)
I.
II.
Obwohl der Angeklagte nicht im Besitz der dazu erforderlichen Fahrerlaubnis war,
darüber hinaus hoch dosiert und kurz vor Fahrtantritt Cocain und Cannabis konsumiert
hatte, dies jeweils wusste und seine hierauf bedingte Fahruntauglichkeit hätte erkennen
können, setzte er sich am 09. Juli 2009 ans Steuer des Kraftfahrzeuges mit dem
amtlichen Kennzeichen und befuhr gegen 09.15 Uhr in Berlin u.a. den.
Auf Grund des Gutachtens der kriminaltechnischen Untersuchungsstelle des LKA Berlin
vom 02.09.2009 - LKA KT 41 – TV - 2009/32993 - UA 41/09/9880 wurden in der zum
Zeitpunkt der Blutentnahme um 10.45 Uhr des 09. Juli 2009 gewonnenen Serumprobe
des Angeklagten 352 ng/ml Benzoylecgonin, ein Abbauprodukt von Cocain, 8,5 ng/ml
Cocain und ca. 97,7ng/ml Ecgoninmethylester, ein Abbauprodukt von Cocain,
nachgewiesen. Dies ist ein massiv hoher Wert , der den aktiven, deutlichen und aktuellen
Konsum von Cocain offenbarte. Denn nach der Empfeh-lung der Grenzwertekommission,
die unter der Leitung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
und aufgrund der Entscheidung der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft
„Bundeseinheitlicher Tatbestandskatalog“ vom 04.09.2007 - verbindliche Grenzwerte
erarbeitet hat, bei deren Vorliegen sicher eine rauschbedingte Fahruntauglichkeit
anzunehmen ist (sog. absolute Grenzwerte), und Grenzwerte, denen sich die
Rechtsprechung insoweit angenommen hat, als dass auch Feststellungen darunter zu
einer Verurteilung führen können (also erweiterte Anwendung), beträgt der analytische
Grenzwert, ab dem sicher mit dem Auftreten von Ausfall-erscheinungen, also mit einer
Einschränkung der Fahrtüchtigkeit im Sinne der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zu rechnen ist, für Benzoylecgonin 75 ng/ml. Beim
Angeklagten lag der festgestellte Wert mehr als 4,6 Fache höher als dieser Grenzwert.
Damit ist die Grenze zur absoluten Fahruntauglichkeit im Sinne von § 316 StGB erreicht,
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Damit ist die Grenze zur absoluten Fahruntauglichkeit im Sinne von § 316 StGB erreicht,
ohne dass es der Feststellung weiterer Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler bedarf.
Ferner wurde festgestellt, dass in der Serumprobe des Angeklagten 2,5 ng/ml THC
(Tedrahydro-cannabinol), der Wirkstoff des Haschisch, ca. (161) ng/ml THC-Carbonsäure,
der Hauptmetabolit des THC und 1,6 ng/ml 11-Hydroxy-THC, ein Metabolit des THC,
nachgewiesen wurden. Es lag mithin ein aktueller Cannabiskonsum vor Fahrtantritt vor.
Der hohe THC-Carbonsäurewert beweist zudem einen regelmäßigen Konsum von
Cannabis-Produkten. Der THC-Wert betrug mehr als das zweieinhalbfache des von der
Grenzwertekommission empfohlenen Wertes von 1,0 ng/ml THC zum Beginn der
Fahruntauglichkeit bei Bußgeldsachen. Infolge der Wechselwirkung zum Cocain ist auch
hier die Grenze zur absoluten Fahruntauglichkeit im Sinne von § 316 StGB erreicht, ohne
dass es der Feststellung weiterer Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler bedarf.
Diese hier vertretenen Rechtsansichten zu absoluten Wirkstoffmengen bei Cocain und
Cannabis sind durchaus umstritten. Die obergerichtliche Rechtsprechung und die
herrschende Ansicht in der Literatur gehen bislang davon aus, dass sich im Strafrecht
für die Fahruntauglichkeit aufgrund von Betäubungsmitteln keine „absoluten"
Wirkstoffgrenzen feststellen lassen. Der Nachweis von Drogenwirkstoffen im Blut eines
Fahrzeugführers soll für sich allein noch nicht die Annahme der Fahruntüchtigkeit nach §
316 StGB rechtfertigen (BGH, Beschluss vom 25. Mai 2000, 4 StR 171/00, zitiert in
JURIS). Entscheidend seien die Gesamtschau der Umstände und die Beurteilung der
Beweisanzeichen (vgl. OLG München, Beschluss vom 30.01.2006, 4St RR 11/06 zitiert in
JURIS). Dieser Rechtsansicht wird nicht beigetreten. Denn sie berücksichtigt nicht die
inzwischen eingetretene wissenschaftliche Entwicklung in der chemischen Analyse der
Wirkstoffe sowie ihrer Abbauzeiten und –Werte sowie die mittlerweile gewonnenen
Erkenntnisse über die verkehrs-medizinisch relevanten Wirkungen von Cocain und
Cannabis sowie über den Verlauf des Cocain- und/oder Cannabisrausches. Diese
Entwicklungen und Erkenntnisse werden in der Recht-sprechung zunehmend anerkannt.
So reicht es - entsprechend dem Charakter der Vorschrift als eines abstrakten
Gefährdungsdelikts - aus, eine Konzentration festzustellen, die es als möglich
erscheinen lässt, dass der untersuchte Kraftfahrzeugführer in seiner Fahrtüchtigkeit
eingeschränkt war und dennoch am Straßenverkehr teilgenommen hat (vgl. OLG Köln,
Beschluss vom 30. Juni 2005, 8 Ss-OWi 103/05 zu § 24a StVG, zitiert in JURIS – Das
Gericht nimmt dabei Bezug auf §24a StVG als abstraktes Gefährdungsdelikt). Es kann
eine berauschende Wirkung angenommen werden, wenn die betreffende Substanz in
einer Konzentration nachweisbar ist, die eine Be-einträchtigung der Fahrsicherheit
zumindest als möglich erscheinen lässt (OLG Köln, aaO.). Daher wurden unter Rückgriff
auf die Empfehlungen der Grenzwertkommission von der Rechtsprechung im
Bußgeldbereich zu § 24a StVG Grenzen zwischen ungefährlichen und gefährlichen
Wirkstoff-mengen gezogen, ohne dass es für die Verurteilung auf die Feststellung und
Beschreibung von Ausfallerscheinungen oder sonstigen Beweisanzeichen ankam. Das ist
nunmehr im Bußgeld-bereich gängige Meinung. Es besteht aber keinerlei Rechtfertigung,
derlei Grenzziehung beim abstrakten Gefährdungsdelikt nach § 24a StVG zuzulassen,
beim abstrakten Gefährdungsdelikt nach § 316 StGB aber abzulehnen, zumal die
Rechtsprechung, die diese Unterscheidung zwischen § 316 StGB und § 24a StVG
vollziehen will, sie nicht schlüssig begründen kann. Wenn ausgeführt wird, bei § 24a StVG
handele es sich wegen der generell-abstrakten Gefährlichkeit des Genusses von Drogen
um einen abstrakten Gefährdungstatbestand als Vorfeld- oder Auffang-tatbestand
gegenüber der an engere Voraussetzungen geknüpften Strafvorschrift des § 316 StGB
(OLG Zweibrücken, Entscheidung vom 03. Mai 2001, 1 Ss 87/01, zitiert in JURIS), handelt
es sich um eine schlichte Behauptung, nicht aber um eine Begründung. Absolute
Grenzwerte sind bei Alkohol längst anerkannt, nachdem sie von der Wissenschaft und
Rechtsprechung entwickelt worden sind. Dies hat auch bei Rauschmitteln zu gelten. Ein
Kraftfahrer, bei dem 352 ng/ml Benzoylecgonin, ein Abbauprodukt von Cocain, im Serum
zur Tatzeit festgestellt wurden und bei dem der nach der Empfehlung der
Grenzwertekommission für Cocain ermittelte verbindliche Grenzwert an Benzoylecgonin
um mehr als das 4,6 Fache übertroffen ist, ist im Sinne von § 316 StGB fahruntauglich,
ohne dass es auf den Nachweis von Ausfallerscheinungen oder Fahrfehlern ankommt.
Der Angeklagte war ohne Einschränkungen schuldfähig, denn er hatte die Lage vor Ort
zielsicher erfasst, den Entschluss zur Fahrt, seine Zuweisung zur Verkehrskontrolle sowie
die Maßnahmen schlüssig getroffen, erfasst und ausgeführt sowie die Abwägung seines
Motivs zur Handlung vornehmen können. Laut ärztlichem Protokoll zur Blutentnahme
war seine Orientierung vollständig, das Urteilsvermögen sicher, der Denkablauf geordnet
und die Sprache deutlich. Der Angeklagte ist ausweislich der gutachterlichen
Feststellungen und der in der Vergangenheit erwirkten Sanktion Dauerkonsument beider
Rauschmittel. Im Gesamteindruck wurde dem Angeklagten durch den Arzt eine leichte
Beeinflussung durch Betäubungsmitteln attestiert. Er handelte fahrlässig, hätte er
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Beeinflussung durch Betäubungsmitteln attestiert. Er handelte fahrlässig, hätte er
nämlich seine rauschmittelbedingte Fahruntauglichkeit unter Rückgriff auf das
Vorbenannte erkennen können.
III.
Infolge des festgestellten Sachverhalts hat sich der Angeklagte eines Vergehens der
fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs.1, Abs. 2 StGB in Tateinheit nach §
52 StGB mit dem Vergehen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21
Abs.1 Nr.1 StVG schuldig gemacht. Bei tateinheitlicher Begehung ist nach § 52 StGB auf
nur eine Strafe zu erkennen, wobei sich das Strafmaß nach dem Gesetz bestimmt,
welches die schwerste Strafe androht. Das Gesetz sieht jeweils zur Ahndung die
Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe vor.
Bei der Strafzumessung konnten zugunsten des Angeklagten die Umstände Gewichtung
finden, dass er im vollen Umfang geständig und hinsichtlich seines Fehlverhaltens
einsichtig war. Er trat kooperativ auf. Demgegenüber durfte strafschärfend Beachtung
finden, dass der Angeklagte bei Tatbegehung bereits vorbestraft, darüber hinaus
einschlägig im Straßenverkehr aufgefallen war, auch wenn dies im Bußgeldbereich
geahndet wurde und das Gericht nicht verkannte, dass die Freiheitsstrafe länger
zurücklag und ihre Vollstreckung bereits erlassen wurde. Unter Abwägung aller für und
gegen ihn sprechenden Umstände bedurfte es noch nicht des Rückgriff auf § 47 StGB
und der Verhängung einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe zur Verteidigung der
Rechtsordnung oder zur Einwirkung auf den Angeklagten. Vielmehr reichte es vorliegend
aus, gegen den Angeklagten eine - wenn auch höhere - Geldstrafe zu verhängen. Denn
er hatte durch sein Geständnis zu erkennen gegeben, dass er in der Lage ist,
Verantwortung für sein Tun zu übernehmen sowie das Unrecht seiner Tat zu erfassen. Er
weiß, dass jede weitere Verfehlung zur Freiheitsstrafe führen kann. Die Vollziehung der
Geldstrafe wird ihn aufgrund seines geringen Einkommens ohnedies länger begleiten.
Das wird die gebotene Mahnung sein, die Rechtsordnung einzuhalten. Insgesamt
betrachtet war eine Geldstrafe von 50 (fünfzig) Tagessätzen für das Vergehen der
fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs.1, Abs. 2 StGB in Tateinheit nach §
52 StGB mit dem Vergehen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21
Abs.1 Nr.1 StVG der Tat- und der Schuld angemessen, weshalb diese verhängt wurde.
Die Höhe des jeweiligen Tagessatzes wurde anhand der Angaben des Angeklagten zum
Einkommen sowie unter Beachtung der Unterhaltsverpflichtungen berechnet und auf
jeweils 15,00 (fünfzehn) € festgesetzt. Dies entsprach einem Nettoeinkommen im Monat
in Höhe von 450,00 (vierhundertundfünfzig) €, über das der Angeklagte allemal verfügt.
Denn die Bezahlung der Miete durch das Job Center ist ein wirtschaftlicher Vorteil,
welcher nicht außer Ansatz bleiben kann.
Durch sein Tatverhalten hat sich der Angeklagte als charakterlich ungeeignet zum
Führen von Kraftfahrzeugen nach § 69 Abs.1, Abs.2 Nr.2 StGB erwiesen, weshalb die
Verwaltungsbehörde nach § 69a Abs.1 StGB angewiesen wurde, dem Angeklagten nicht
vor Ablauf von 12 (zwölf) Monaten eine Fahrerlaubnis zu erteilen. Der Angeklagte wird
nachzuweisen haben, dass er verinnerlicht hat, dass der Konsum von Drogen – hier
Cocain sowie Cannabis - mit der Teilnahme am Straßenverkehr nicht in Einklang zu
bringen ist und welche Gefahren dadurch entstehen können. Auch wird er nachzuweisen
haben, dass er dem ungehemmten Rauschmittelkonsum entsagt hat. Er wird
mindestens 12 Monate benötigen, um seine charakterliche Reife zurück zu gewinnen. Er
verstieß massiv gegen die Anforderungen, denen er als Fahrzeuglenker unterliegt. Für
den Reifeprozess ist es absolut entscheidend, dass der Angeklagte das volle
Antragsverfahren auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis durchläuft. Weil dies geraume
Zeit in Anspruch nehmen wird, wurde seitens des Gerichts auf eine weitergehende
Sperrfrist verzichtet.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 464, 465 StPO.
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