Urteil des AG Tiergarten vom 15.03.2017

AG Tiergarten: tötung auf verlangen, absehen von strafe, wohnung, einwilligung des opfers, professor, alleinerziehende mutter, stiftung, testament, zustand, behandlung

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Gericht:
AG Tiergarten
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(237) 1 Kap Js
2655/04 Ls (19/05)
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 21 StGB, § 60 StGB, § 216
StGB
Tötung auf Verlangen bei Vergiftung des schwerstbehinderten
Sohns mit dessen Einwilligung durch die betreuende Mutter im
Zusammenhang mit einem beabsichtigten Doppelselbstmord;
Absehen von Strafe im Hinblick auf die psychischen Folgen der
Tat
Tenor
Die Angeklagte ist wegen Tötung auf Verlangen schuldig.
Von der Verhängung einer Strafe wird abgesehen.
Die Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen zu tragen.
§§ 216 Abs. 1, 21, 60 StGB
Gründe
(abgekürzte Fassung gemäß § 267 Abs. 4 StPO)
I.
Die heute 53 Jahre alte Angeklagte ist seit 6. Dezember 1978 geschieden. Sie hatte
einen ehelichen Sohn, Ri R. Dieser wurde am 14.12.2004 gegen 14.30 Uhr in der
Wohnung der Angeklagten im ... in B tot aufgefunden.
Die Angeklagte ist gelernte Bankkauffrau und war nach einer Fortbildung zur
Diplombetriebswirtin bis zu ihrer Rente berufstätig. Sie bezieht zurzeit eine
Erwerbsunfähigkeitsrente in nicht bekannter Höhe. Sie bezahlt ca. 600,00 Euro Miete für
die Wohnung. Das Einfamilienhaus in Forst hat die Angeklagte im Jahre 2004 verkauft
und ist seitdem in der Wohnung ... in B wohnhaft.
Nähere Angaben zu ihrem Einkommen bzw. ihrer finanziellen Situation wollte die
Angeklagte nicht machen.
Die Angeklagte wurde in dieser Sache am 16. Dezember 2004 vorläufig festgenommen
und befand sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom
selben Tage, (Aktenzeichen: 352 Gs 4884/04) von diesem Tag an in Untersuchungshaft,
zunächst im Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten in der Justizvollzugsanstalt
Berlin und dann bis zum 28. Dezember 2004 in der Justizvollzugsanstalt Moabit. Durch
Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. Dezember 2004 (Aktenzeichen: 352 Gs
4945/04) wurde sie vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont.
Der neue Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten nach Maßgabe der Anklageschrift vom
23. März 2005 wurde der Angeklagten am 15. April 2005 verkündet. Mit Beschluss des
Amtsgerichts Tiergarten vom selben Tage wurde die Angeklagte erneut vom weiteren
Vollzug der Untersuchungshaft verschont. Sie befand sich in der Zeit vom 23. Februar
bis 25. Mai 2005 im DRK-Klinikum, Klinik für psychische Störungen, Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, in stationärer Behandlung.
Die Angeklagte ist nicht vorbestraft. Im Bundeszentralregisterauszug vom 3.8.2005 ist
keine Eintragung verzeichnet.
II.
Nach Durchführung der Hauptverhandlung steht folgender Sachverhalt fest:
Die am ... 1952 in ... geborene Angeklagte heiratete 1973 ihren Ehemann, L R. Aus
dieser Ehe ging der am 6. Oktober 1975 geborene Sohn Ri hervor. Auf Betreiben des
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dieser Ehe ging der am 6. Oktober 1975 geborene Sohn Ri hervor. Auf Betreiben des
Kindesvaters wurde die Ehe bereits am 6. Dezember 1978 geschieden. Der Kindesvater
hatte 1995 letztmalig Kontakt mit der Familie.
Die Angeklagte war damit seit dem 3. Lebensjahr ihres Sohnes Ri alleinerziehende
Mutter und kümmerte sich neben ihrer Berufstätigkeit ausschließlich um ihren Sohn.
Zwischen ihr und ihrem Sohn Ri entstand ein sehr enges und vertrautes Verhältnis. Ri
war ein guter Schüler und bestand das Abitur im Juni 1995 mit einem entsprechend
guten Notendurchschnitt von 1,8. Er wünschte sich ein Motorrad, für das er gemeinsam
mit seiner Mutter Geld angespart hatte und das er von der Mutter zum Abitur geschenkt
bekam. Mit diesem Motorrad verunglückte Ri am 12. Juni 1995, dem Tag seiner
Abiturfeier, im Alter von 19 Jahren schwer. Er erlitt ein schweres Schädelhirntrauma.
Infolge der komplexen Hirnschädigung litt er unter einer spastischen Tetraparese
(Lähmung aller vier Extremitäten) mit Harn- und Stuhlinkontinenz. Bei sämtlichen
Verrichtungen des Alltags war er auf fremde Hilfe angewiesen, eine eindeutige verbale
Kommunikation war mit ihm nicht möglich. Allerdings schien das Sprachverständnis gut
erhalten gewesen zu sein und er konnte hören und auf entsprechende verbale
Aufforderung adäquat reagieren. In Abhängigkeit von seiner Motivation und seiner
psycho-emotionalen Verfassung war mit ihm über Augenschluss und/oder Kopfnicken
eine Ja-Nein-Kommunikation möglich. Insbesondere war nach den Beobachtungen des
Pflegepersonals die Kommunikation zwischen Ri und seiner Mutter besonders gut. So
bestand zwischen ihm und seiner Mutter sowie dem Pflegepersonal, die Regelung, dass
einmal Augenzwinkern ein Bejahen, zweimal oder mehrmaliges Augenzwinkern ein
Verneinen bedeuten sollte.
Die Angeklagte übernahm die Betreuung ihres Sohnes Ri und hatte selbst nahezu keine
eigenen sozialen Kontakte. Etwa im Jahre 1999 zogen beide wegen der besseren
Versorgungssituation von Forst nach Berlin. Seit dem 5. Juni 2002 befand sich ihr Sohn in
der St. Elisabeth-Stiftung, Einrichtung der Inneren Medizin, Eberswalder Straße 17/18 in
10437 Berlin zur Pflege. Er hielt sich regelmäßig von Montags bis Freitags in der
Einrichtung auf. Samstagsvormittags wurde er mit dem Telebus zu seiner Mutter in die
Wohnung ... in Berlin-Neukölln gebracht. Er verbrachte dann das Wochenende bei der
Mutter und wurde am Sonntagabend wieder vom Telebus abgeholt und in die St.
Elisabeth-Stiftung zurückgebracht.
Wegen seines Gesundheitszustandes musste die Flüssigkeitszufuhr durch mehrere
Magensonden erfolgen. Dies verursachte Ri jedoch starke Schmerzen, die ab Mai 2004,
nachdem es zu Infektionen an einer neu gelegten Sonde und einer
Bauchdeckenentzündung gekommen war, noch zunahmen. Im Dezember 2004 wurde
der Geschädigte Ri R in das Klinikum Friedrichshain eingewiesen, wo die Entzündung der
Bauchdecke jedoch nicht behandelt werden konnte. Daher sollte am 13. Dezember 2004
eine neue Magensonde angelegt werden.
In dieser Zeit hatte die Angeklagte auch zunehmend Probleme, eine optimale
Versorgung für ihren Sohn sicherzustellen. Die Unterbringung in der St. Elisabeth-
Stiftung wurde sowohl von ihr als auch ärztlicherseits nicht mehr als angemessen
angesehen, da die Förderung und Versorgung von Ri in dem gebotenen Umfang dort
nicht erfolgen konnte. Hinzu kamen Schwierigkeiten mit dem Sozialamt bezüglich der
Finanzierung der Unterbringung.
Am Tattag, Samstag den 11. Dezember 2004 gegen 10.00 Uhr wurde der Geschädigte
wieder mit dem Telebus von der St. Elisabeth-Stiftung in die Wohnung der Angeklagten,
dem ... in Berlin-Neukölln gebracht und ihrer Obhut übergeben. Mit der Einrichtung war
vereinbart worden, dass die Angeklagte ihren Sohn Ri am 13. Dezember 2004 in das
Krankenhaus Neukölln zu dem geplanten Eingriff der Neulegung der Magensonde
bringen sollte. Danach sollte Ri wieder in die Pflegeeinrichtung zurückgebracht werden.
Vor diesem schmerzhaften Eingriff hatte Ri Angst und zeigte dies seiner Mutter
gegenüber auch dadurch, dass er sehr unruhig und depressiv war. Die gesundheitliche
Beeinträchtigung, insbesondere seine körperliche Unbeweglichkeit machten Ri schwer zu
schaffen, was sich zum Teil in Aggressionszuständen äußerte. Auch die Probleme seiner
Mutter hinsichtlich seiner Versorgung und Unterbringung blieben ihm offenbar nicht
verborgen. Deshalb hatte er bereits im Sommer 2004 ab und an seiner Mutter, der
Angeklagten gegenüber zu verstehen gegeben, dass er unter diesen Bedingungen nicht
weiterleben möchte.
An diesem Tag, dem 11. Dezember 2004 suchte die Sexualbegleiterin, die Zeugin ... De
V, den Geschädigten Ri auf, wie dies regelmäßig Samstags der Fall war, und traf ihn in
deprimierter Stimmung an. Sie blieb auch an diesem Tage, wie üblich, eine Stunde, bis
ca. 16.00 Uhr bei Ri. Nachdem die Zeugin De V wie immer bei diesen Besuchen, danach
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ca. 16.00 Uhr bei Ri. Nachdem die Zeugin De V wie immer bei diesen Besuchen, danach
mit der Angeklagten eine Kaffee getrunken und sich mit ihr unterhalten hatte, verließ sie
gegen 16.45 Uhr die Wohnung. Die Angeklagte begab sich im Abschluss an diesen
Besuch zu ihrem Sohn. Da dieser auch an diesem Tage unter großen Schmerzen litt und
angesichts der anstehenden Operation unruhig und deprimiert war und die Angeklagte
jede Hoffnung auf Besserung seines nunmehr fast seit 10 Jahren anhaltenden
Gesundheitszustandes verloren hatte, fragte sie ihn gegen Abend, ob er sterben
möchte. Auf diese Frage schloss ihr Sohn Ri einmal die Augen, was nach ihrer Regelung
ein "Ja" bedeutete. Danach bereitete sie das Abendessen, sie nahm den Geschädigten Ri
aus dem Bett und sie setzten sich im Wohnzimmer zusammen. Nachdem sie mit ihm
über den Plan und die Vorgehensweise sprach, stellte die Angeklagte Ri noch einmal
dieselbe Frage und auch dieses Mal schloss ihr Sohn einmal die Augen. Nach dem
Abendessen brachte die Angeklagte Ri in sein Bett zurück. Sodann, etwa gegen 20.00
Uhr suchte die Angeklagte alle in der Wohnung befindlichen Medikamente,
Psychopharmaka, Schmerzmittel und diverse andere Medikamente zusammen, teilte
diese in zwei Teile auf und löste einen Teil davon in Wasser auf. Bevor sie nunmehr
diesen in Wasser aufgelösten Medikamentencocktail dem Geschädigten über die
Magensonde zuführte, stellte sie dem Geschädigten erneut dieselbe Frage. Daraufhin
hat er noch einmal seine Augen einmal geschlossen, was die Angeklagte als ein "Ja" und
als Einverständnis zu ihrem Handeln verstand. Anschließend führte sie ihrem Sohn Ri –
wie zuvor besprochen – über die Magensonde den in Wasser aufgelösten
Medikamentencocktail zu. Die Angeklagte blieb bis zum Schluss bei ihrem Sohn. Sie
hielt seine Hand und beobachtete, wie sein Atem immer flacher wurde und schließlich
aussetzte.
Nachdem die Angeklagte überzeugt war, dass Ri an den Folgen der Vergiftung gestorben
war, begab sie sich in das Wohnzimmer und verfasste am dortigen Esstisch folgendes
Schreiben:
"Testament
Es fällt so schwer. Aber ich bin müde. Bitte ermöglichen Sie uns eine Seebastung in der
östlichen Ostsee. Keinesfalls wünsch ich, dass an meinem Sohn Ri R und an mir
lebensverlängernde Maßnahmen durchgeführt werden. Unser Vermögen geht nach
Abzug evtl. Forderungen des Sozialamtes zu gleichen Teilen an
– St. E-Stift
– L-Stiftung
– E E, B
– B S, N
11.12.04
gez. ...
Im Anschluss daran fügte sich die Angeklagte mehrere Schnitte am rechten Unterarm
zu und nahm den verbleibenden, hälftigen Teil der Medikamente nach und nach ein, bis
sie auf der Wohnzimmercouch sitzend, das Bewusstsein verlor.
Am Dienstag, dem 14. Dezember 2004 erstattete die St. Elisabeth-Stiftung
Vermisstenanzeige, da ... R nicht wie vereinbart zurückgekehrt war. Am 14.12.2004
gegen 14.30 Uhr stellten dann die Polizeibeamten bei der Nachschau fest, dass in der
Wohnung ... in Berlin sämtliche Jalousien heruntergelassen, die Fenster verschlossen
waren und die Tür zweimal von innen zugeschlossen war. Nachdem sie schließlich
gewaltsam in die Wohnung eingedrungen waren, fanden sie den Leichnam von Ri und die
noch lebende, jedoch bewusstlose Angeklagte auf der Couch im Wohnzimmer sitzend in
der Wohnung auf.
Die Angeklagte wurde auf die Intensivstation des Benjamin-Franklin-Krankenhauses
gebracht. Sie war bei Einlieferung in einem akut lebensbedrohlichen Zustand. Sie war
stark unterkühlt, litt an einer Lungenentzündung mit einem beginnenden Gewebszerfall
und wurde komatös beatmet. Erst am 16. Dezember 2004 wachte sie dort wieder auf.
Noch an diesem Tage wurde sie vorläufig festgenommen. Nachdem gegen sie ein
Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten wegen Totschlags ergangen war, wurde sie
zunächst in das Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten verbracht. Am 28.
Dezember 2004 wurde sie haftverschont.
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Danach war sie in der Zeit vom 23. Februar bis 25. Mai 2005 in stationärer Behandlung
im DRK-Klinikum Berlin, Klinik für Psychogene Störungen, Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie. Dort stabilisierte sich ihr psychischer Zustand. Allerdings litt sie
weiterhin unter Depressionen. Bis zum heutigen Tage befindet sich die Angeklagte in
psychotherapeutischer Behandlung.
Der Leichnam des Ri wurde am 15. Dezember 2004 im Institut für Rechtsmedizin Charité
– Universitätsmedizin Berlin, 14195 Berlin, Hittorfstraße 18 obduziert. Die
rechtsmedizinischen Sachverständigen Professor Dr. med. S und Dr. med. G gelangten
unter anderem zu folgendem Ergebnis:
"Die Obduktion des 29 Jahre alt gewordenen Ri erbrachte keine krankhaften
Organveränderungen, die den Todeseintritt erklären könnten. Im Mageninhalt zeigten
sich zahlreiche kleinste Partikel als mögliche Tablettenreste. Anhand der Vorgeschichte
ist von einer Tablettenvergiftung als Todesursache auszugehen, zu deren Sicherung
chemisch-toxikologische Untersuchungen sowie eine Blut- und Harnalkoholuntersuchung
eingeleitet wurden, deren Ergebnisse gesondert nachgereicht werden."
Eine von Professor Dr. S und Dr. Sch dort vorgenommene chemisch-toxikologische
Untersuchung der Leichenasservate ergab, dass dem Geschädigten Ri Codein, Morphin,
Paracetamol, Diphenhydramin und Trimipramin zugeführt worden war. Hierzu enthält
das Gutachten folgende Bewertung:
"Codein ist Bestandteil zahlreicher Medikamente zur Linderung von Hustenanfällen.
Strukturell ist es mit Morphin verwandt, zu dem es teilweise metabolisiert wird. Toxische
Plasmaspiegel für Codein liegen oberhalb von 0,5 µg/ml, letale oberhalb 1,8 µg/ml. Der
vorliegende Blutspiegel von 2,5 µg/ml liegt daher bereits im letalen Bereich. Der
festgestellte Morphingehalt ist hier als Abbauprodukt des Codeins zu werten."
"Trimipramin ist ein Psychopharmakon zur Behandlung von Depressionen und
Angstzuständen. Plasmakonzentrationen oberhalb von 0,5 µg/ml sind als toxisch
einzustufen.
Insgesamt ist im vorliegenden Fall von einer multiplen Intoxikation auszugehen, die nicht
unmittelbar zum Tode geführt hat, sondern eine gewisse Zeit überlebt worden ist, wie
die hohe Paracetamol-Konzentration im Harn zeigt. Andererseits zeigen die hohen
Wirkstoffspiegel im Magen, dass die Resorption noch nicht abgeschlossen war, woraus
insgesamt auf große Mengen verabreichter Medikamentenwirkstoffe zu schließen ist."
Nach dem Gutachten und den Bekundungen der Sachverständigen Frau Dr. G im
Hauptverhandlungstermin war nach der Obduktion des Geschädigten R als
Todesursache "multiple Intoxikation" festzustellen.
Der genaue Todeszeitpunkt des R konnte jedoch nicht festgestellt werden.
Auch der Mageninhalt der Angeklagten wurde chemisch-toxikologisch untersucht. Das
chemisch-toxikologische Gutachten des LKA PTU 41 vom 21. Januar 2005 stellt dazu
fest:
"Der Mageninhalt wurde enzymimmunologisch mit dem CEDIA-Test der Fa. M
untersucht. Die Stoffgruppen Opiate und Benzodiazepine wurden nachgewiesen.
Bei Durchführung der 2. Untersuchungsmethode mittels REMEDI HS Screeningsystem
waren Medazepam (ein Benzodiazepin, Diphenhydramin, Codein (ein Opium-Alkaloid)
und ein Abbauprodukt trizyklischer Antidepressiva nachweisbar."
Nach dem verlesenen chemisch-toxikologischen Gutachten waren die zugeführten
Medikamente im tödlichen Bereich. Bereits Codein für sich alleine genommen war im
tödlichen Bereich.
In der Wohnung der Angeklagten wurde am 14.12.2004 dann auf dem Esszimmertisch
neben dem "Testament" ein Messer mit Blutanhaftungen aufgefunden. Der Mülleimer in
der Küche war übervoll mit leeren Tablettenschachteln.
Nach den Feststellungen des Sachverständigen Professor Dr. C, Chefarzt für Neurologie,
befand sich der Geschädigte Ri ohne jeden Zweifel nicht in einem sogenannten
"Wachkoma", keinem apallischem Syndrom. Während diese Patienten nicht in der Lage
sind irgend etwas willentlich zu tun, war der Geschädigte in der Lage, seinen Willen durch
Verhalten zu äußern. So konnte er Zustimmung und Ablehnung ohne jeden Zweifel
äußern. Er hatte eine schwere ausgedehnte Hirnschädigung und eine Minderversorgung
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äußern. Er hatte eine schwere ausgedehnte Hirnschädigung und eine Minderversorgung
des Gehirns. Dennoch ist es aus medizinisch/neurologischer Sicht möglich, dass er diese
Entscheidung über sein Leben so treffen und auch die Bedeutung erfassen konnte. Es ist
nach den Ausführungen des Sachverständigen auch davon auszugehen, dass Ri
unheilbar krank war, er an seiner Situation gelitten hat und er Schmerz und Verzweiflung
über diese Situation empfunden hat.
Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. med. habil. P, Hochschullehrer für
Psychiatrie, bildeten die Angeklagte und ihr schwerkranker, behinderter Sohn eine
Einheit, eine Symbiose. Die Angeklagte hat sich ihr ganzes Leben lang um den Sohn
gekümmert, er war ihr Lebensinhalt. Sie befand sich im Tatzeitpunkt in einer insgesamt
verzweifelten Situation und wollte ihrem Sohn helfen. Ihre Entscheidung, ihrem Leben ein
Ende zu setzen, beruhte jedoch auf einer freien Willensbildung und auf einem freien
Entschluss. Ihr Suizidversuch war "bilanzierend" und ernst gemeint. Sie hat alle
Vorbereitungen dahingehend getroffen, eine Entdeckung zu vermeiden. Hierzu wurde die
Wohnung komplett verschlossen, Jalousien heruntergelassen und die Türen zweimal
verschlossen. Sie befand sich beim Auffinden in einem akut lebensbedrohlichen
Zustand. Vorliegend handelt es sich angesichts der Umstände um einen erweiterten
Suizid oder einen sogenannten "Mitnahmesuizid".
III.
Diese Feststellungen sind nach Durchführung der Beweisaufnahme erwiesen. Die
Angeklagte hat den Tatvorwurf, so wie er festgestellt wurde, glaubhaft und voll
umfassend geständig eingeräumt.
Ihre Bekundungen stehen, soweit nachprüfbar, in Einklang mit dem Ergebnis der
Ermittlungen.
Die Feststellungen zu Punkt II. beruhen danach auf dem glaubhaften Geständnis der
Angeklagten, den Bekundungen der Zeugen KOK S PM S, den Bekundungen der
sachverständigen Zeugin Dr. med G, zur Obduktion bei dem Geschädigten R, den
Bekundungen des sachverständigen Zeugen Dr. med. H zur Frage des
lebensbedrohlichen Zustandes der Angeklagten bei der Einlieferung auf die
Intensivstation, den Bekundungen des Sachverständigen Professor Dr. med. C, Chefarzt
für Neurologie, zur Frage des Bewusstseinszustandes des Geschädigten R, den
Bekundungen des Sachverständigen Dr. med. habil. P zur Frage der Schuldfähigkeit der
Angeklagten und dem insoweit verlesenen chemisch-toxikologischen Gutachten des LKA
PTU 41 vom 21. Januar 2005 (Blatt 147 bis 151 Band I), dem chemisch-toxikologischen
Gutachten vom 7.3.2005 (Blatt 91 ff Band II der Akte), dem verlesenen und in
Augenschein genommenen handschriftlichen Schreiben der Angeklagten als
"Testament" bezeichnet (Blatt 51 Band I der Akte) und dem in Augenschein
genommenen und verlesenen weiteren Testament der Angeklagten (Blatt 143 bis 144
Band I der Akte) sowie der in Augenschein genommenen Lichtbildmappe, insbesondere
Blatt 56 (Mülleimer in der Küche) und Blatt 60 (Messer mit Blutanhaftungen und
Testament) und Blatt 76 bis 77 (Kalender der Angeklagten).
Die Feststellungen zu den Vorstrafen beruhen auf dem insoweit verlesenen
Bundeszentralregisterauszug vom 3.8.2005.
Bei dieser Sachlage ist die Angeklagte der vorliegenden Tat überführt.
IV.
Die Angeklagte hat sich danach wegen Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB
schuldig gemacht.
Tatbestandsmäßiges Handeln setzt zunächst voraus, dass der Täter durch das
Verlangen des Opfers zur Tötung bestimmt worden ist. Das Verlangen muss dabei
ausdrücklich und ernsthaft sein, wobei Ausdrücklichkeit auch bei eindeutigen Gebärden
vorliegen kann.
Dies war hier der Fall. Der Geschädigte Ri, der aufgrund seiner schweren Hirnschädigung
nicht mehr in der Lage war, sich verbal zu äußern, konnte mit seiner Umwelt
insbesondere durch Schließen der Augen kommunizieren. Dabei war zwischen dem
Geschädigten und dem Pflegepersonal sowie seiner Mutter, der Angeklagten klar, dass
einmal Augenschließen ein "Ja" und mehrmaliges Augenschließen ein "Nein" bedeutet.
Am Tattag hat die Angeklagte erneut, wie schon oft in der Zeit davor, die besondere
Verzweiflung des Sohnes Ri wahrgenommen. Sie hat ihn deshalb gefragt, ob er sterben
wolle. Diese Frage hat Ri durch einmaliges Schließen seiner Augen und damit nach der
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wolle. Diese Frage hat Ri durch einmaliges Schließen seiner Augen und damit nach der
Vereinbarung eindeutig mit "Ja" beantwortet.
Nach den Bekundungen des Sachverständigen Professor C und nach Überzeugung des
Gerichts handelte es sich dabei auch um eine fehlerfreie Willensbildung eines Einsichts-
und Urteilsfähigen, so dass die erforderliche Ernsthaftigkeit zu bejahen ist.
Nach den Ausführungen des Sachverständigen Professor C lag bei dem Geschädigten Ri
eine schwere ausgedehnte Hirnschädigung mit einer Minderversorgung des Gehirns vor,
wobei mit einer Heilung oder entscheidenden Besserung nicht zu rechnen ist. Dennoch
war Ri in der Lage, Entscheidungen zu treffen und seinen Willen durch sein Verhalten zu
äußern, so dass er klar Zustimmung und Ablehnung ohne jeden Zweifel äußern konnte.
Soweit dies aus medizinischer Sicht durch eine dritte Person überhaupt beurteilt werden
kann, war es jedenfalls möglich, dass Ri angesichts seines Bewusstseinszustandes eine
Entscheidung dieser Art treffen konnte und er auch wusste, was es bedeutet.
Es handelte sich auch nicht um eine Augenblicksstimmung, einer vorübergehenden
Depression. Der Geschädigte Ri befand sich seit mehr als 9 Jahren in diesem Zustand.
Nach den insoweit vorliegenden Erkenntnissen und den glaubhaften Bekundungen der
Angeklagten, die ihren Sohn in dieser gesamten Zeit betreut und ihn gepflegt hat, kam
es immer wieder zu verzweifelten Ausbrüchen, in denen Ri seiner Mutter signalisierte,
dass er unter diesen Umständen nicht mehr leben möchte. Jedoch gelang es der
Angeklagten in diesen Phasen immer wieder, ihn zum Weiterleben zu bewegen, indem
sie ihm Mut zusprach und mit ihm diverse Unternehmungen machte, wie zum Beispiel
der gemeinsame Besuch von Rockkonzerten. Nach den auch insofern überzeugenden
Ausführungen des Sachverständigen Professor C ist davon auszugehen, dass er unter
seiner Lebenssituation gelitten und er auch Schmerz und Verzweiflung über diese
Situation empfunden hat, obwohl aus medizinischer/neurologischer Sicht nicht
abschließend beurteilt werden kann, auf welchem Niveau sich dieses Bewusstsein
bewegte.
Schließlich konnte die Angeklagte aufgrund ihres eigenen, verzweifelten Zustandes über
diese ausweglose Lebenssituation den Sohn zuletzt nicht mehr vom Sinn des
Weiterlebens überzeugen, sie litt selbst an Depressionen und hatte am fraglichen Tattag
nach ihren Angaben "nichts mehr zuzusetzen", so dass sie dem Wunsch ihres Sohnes zu
sterben, entsprach.
Mit dem Entschluss ihres Sohnes sterben zu wollen, fasste die Angeklagte dann
gleichzeitig den eigenen Entschluss, ebenfalls mit dem Sohne aus dem Leben zu
scheiden, da sie mit dem Tode ihres Sohnes auch keinen Lebensinhalt mehr sah.
Sie fasste deshalb den Tatplan, ihren Sohn und sich selbst durch einen
Medikamentencocktail zu vergiften, wobei sie ihren Sohn zuvor in diesen Plan einweihte
und er hierzu wiederum mit einem einmaligen Augeschließen, einem "Ja", sein
Einverständnis hierzu gab. Anschließend bereitete sie den fraglichen
Medikamentencocktail, indem sie alle in der Wohnung befindlichen Medikamente,
Schmerzmittel und Psychopharmaka zusammensuchte und in zwei Hälften teilte. Sie
löste die für ihren Sohn bestimmten Medikamente in Wasser auf und während dieser
noch einmal durch einmaliges Augenschließen sein Einverständnis zu dieser Maßnahme
gab, führte sie ihm diese Flüssigkeit über die Magensonde zu.
Als sie davon überzeugt war, dass ihr Sohn in ihrem Beisein verstorben war, verfasste
sie ein "Testament", fügte sich mehrere Schnitte am rechten Unterarm zu und nahm
den anderen Teil der Medikamente zu sich, bis sie schließlich das Bewusstsein verlor.
Nach drei Tagen wurde sie in einem komatösen, akut lebensbedrohlichem Zustand in
der Wohnung gefunden, hat jedoch nach Behandlung in der Intensivstation eines
Krankenhauses ihren Suizid überlebt.
Bei einem solchen Fall, des sogenannten "fehlgeschlagenen Doppelselbstmordes" stellte
sich die Frage der Abgrenzung zur straflosen Selbstmordteilnahme. Nach einhelliger
Auffassung ist insoweit die Grenze entsprechend den Grundsätzen von Täterschaft und
Teilnahme zu ziehen (vgl. BGHSt. 19, 135). Dabei ist nach den Tatherrschaftskriterien
darauf abzustellen, ob das Opfer nach dem Gesamtplan den eigenen Tod nur duldend
entgegennimmt oder das äußere Geschehen steuernd in den Händen behält.
Nach diesen Kriterien war die Angeklagte zweifelsfrei Täterin.
Sie hatte eine überlegene Machtposition gegenüber dem behinderten,
bewegungsunfähigen Sohn, hatte den konkreten Tatplan und das Tötungsmittel in ihrer
Gewalt. Sie hatte in jedem Zeitpunkt des Geschehens die Tatherrschaft und war damit
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Gewalt. Sie hatte in jedem Zeitpunkt des Geschehens die Tatherrschaft und war damit
"Herrin des Geschehens", während der Sohn insoweit nach den gesamten Umständen
gänzlich unterlegen war und "den eigenen Tod durch das Handeln der Angeklagten nur
duldend entgegennahm" (vgl. dazu zustimmend Herzberg, Täterschaft und Teilnahme S.
79, zum Ganzen Leipziger Kommentar StGB, 10. Aufl. zu § 216 RN 15 m.w.Nw).
Die Angeklagte handelte auch rechtswidrig.
Zwar wird in einem solchen Fall in Rechtsprechung und Literatur die Möglichkeit eines
rechtfertigenden Notstandes gemäß § 34 StGB geprüft und verschiedentlich für
Grenzfälle der aktiven Euthanasie (sog. Gnadentodfälle) bejaht, aber auch in sonstigen
Ausnahmesituationen nicht ausgeschlossen (vgl. Instruktiv zum Ganzen, Neumann in
NOMOS-Kommentar, StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2005 vor § 211 RN 127 m.w.Nw.; "Der Fall
Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?", Aufsatz von Professor Dr. Herzberg,
Bochum, NJW 1986, 1635 ff.).
Dabei wird die Meinung vertreten, dass es sich nicht um den Schutz des individuellen
Rechtsguts "Leben" sondern um den von sozialen Normen der Lebensbewertung und
des Lebensschutzes geht, so dass bei einer Interessenabwägung im Einzelfall auch dann
zu Gunsten des Interesses des Sterbewilligen an der Beendigung seines
Leidenszustandes ausfallen kann, wenn man das Rechtsgut "Leben" mit der
überwiegenden Auffassung als einen der Abwägung entzogenen "Höchstwert" versteht
(vgl. dazu ausführlich Neumann in NOMOS-Kommentar, StGB, Band 2, 2. Aufl. 2005, zu
§ 216 RN 19 m.w.Nw.).
Diese Auffassung ist jedoch mit der h. M. abzulehnen (vgl. Aufsatz von Professor Dr.
Herzberg, Bochum, NJW 86, 1635 ff., NJW 96, 3943, 3048). Sie vernachlässigt nämlich die
durch § 34 StGB gebotene Güterabwägung. Die Unbeachtlichkeit der Einwilligung des
Opfers gilt auch über § 216 StGB hinaus für die gesamte Rechtsordnung. Eine aktive
Verkürzung des Lebens ist danach bei einem Moribunden auch in den Fällen durch bloße
Schmerztherapie nicht zu lindernden Qualen unzulässig, allenfalls wird man hier einen
übergesetzlichen Notstand annehmen oder jedenfalls von Strafe absehen können (vgl.
auch den Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 23.4.2004;
Instruktiv zum Ganzen Neumann in NOMOS-Kommentar StGB, Band 2, vor § 211 RN
127).
Die Angeklagte befand sich zwar in einer verzweifelten Ausnahmesituation, jedoch
handelte sie auch vorsätzlich und schuldhaft im Sinne des § 216 StGB.
V.
Der Strafrahmen des § 216 StGB beträgt Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf
Jahren.
Im Rahmen der Strafzumessung war zunächst eine Strafrahmenverschiebung gemäß §§
21, 49 StGB vorzunehmen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. med.
habil. P – wie unter Pkt. II. des Urteils bereits näher dargelegt – war aufgrund der
Depressionen der Angeklagten, die in einer persönlich verzweifelten, als ausweglos
empfundenen Situation, unter Medikamenteneinfluss einen ernsthaft gemeinten
Suizidversuch unternahm, jedenfalls eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne
des § 21 StGB anzunehmen. Eine Aufhebung der Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit im
Sinne des § 20 StGB liegt hingegen bei diesem sog. "bilanzierenden" Suizid nicht vor.
Das Gericht schließt sich nach eigener kritischer Würdigung dieser Beurteilung des
Sachverständigen vollumfassend an.
Darüber hinaus war strafmildernd zu berücksichtigen, dass die Angeklagte
vollumfassend geständig und nicht vorbestraft ist. Strafmildernd war auch die erlittene
Untersuchungshaft zu berücksichtigen. Erheblich strafmildernd war zudem zu
berücksichtigen, dass die Angeklagte aufgrund der verzweifelten Lage und der lang
anhaltenden schweren Belastung durch die Pflege und Betreuung des schwerst
hirngeschädigten Sohnes schließlich auch durch ihren Suizid aus dem Leben scheiden
wollte und nun als Überlebende vor Gericht steht.
Schließlich hat das Gericht bei alledem auch zu Gunsten der Angeklagten gewertet, dass
sie dieses schwere Schicksal all die Jahre ohne familiäre Unterstützung alleine bewältigt
hat.
Angesichts dieser Umstände hat das Gericht die Anwendung des § 60 StGB für
angezeigt erachtet. Die Voraussetzungen für das Absehen von Strafe im Sinne des § 60
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angezeigt erachtet. Die Voraussetzungen für das Absehen von Strafe im Sinne des § 60
StGB liegen hier vor. Zum einen ist hier nach den dargelegten Umständen keinesfalls
eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr für die vorliegende Tat verwirkt. Darüber
hinaus kann gemäß § 60 StGB dann von Strafe abgesehen werden, wenn der Täter von
den Folgen so schwer getroffen ist, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich
verfehlt wäre.
Dies ist hier der Fall. Die Angeklagte ist für ihr weiteres Leben durch diese vorliegende
Tat belastet. Sie wird ihr weiteres Leben die psychischen Folgen zu tragen haben, sie
wird verarbeiten müssen, dass sie in tragischer Weise den "Doppelselbstmord" überlebt
hat und ihren Sohn, der ihr ganzer Lebensinhalt war, selbst getötet hat. Diese Folgen
sind für die Angeklagte so schwer, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich
verfehlt wäre.
VI.
Aus diesen Gründen war die Angeklagte wegen Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB
schuldig zu sprechen.
Von der Verhängung einer Strafe war jedoch abzusehen.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus §§ 464, 465 StPO.
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