Urteil des AG Steinfurt vom 08.01.2008

AG Steinfurt: internationale zuständigkeit, verordnung, elterliche sorge, anknüpfungsleiter, abrede, scheidungsverfahren, staat, msa, sorgerecht, inhaber

Amtsgericht Steinfurt, 10 F 9/07
Datum:
08.01.2008
Gericht:
Amtsgericht Steinfurt
Spruchkörper:
Familiengericht
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 F 9/07
Schlagworte:
Internationale Zuständigkeit für ein selbständiges Sorgerechtsfragen bei
Rechtshängigkeit einer Ehesache mit einer Folgesache Sorgerecht
Normen:
Brüssel IIa-Verordnung Artt. 8 (1), 8 (2), 12, 19
Leitsätze:
Die besondere internationale Zuständigkeit für Sorgerechtsfragen als
Verbundsache verdrängt die allgemeine internationale Zuständigkeit
nach Art. 8 (1) Brüssel IIa-Verordnung auch dann, wenn zeitlich früher
ein (Prozesskostenhilfegesuch für ein) isoliertes Sorgerechtsverfahren in
einem anderen Staat eingereicht wurde.
Tenor:
Unter Zurückweisung des Antrags der Antragstellerin erklärt sich das
Amtsge-richt – Familiengericht – S für international unzuständig.
Die Parteien haben jeweils die Hälfte der Gerichtskosten zu tragen, im
übrigen findet kein Kostenausgleich statt.
Der Gegenstandswert wird auf 3.000 € festgesetzt.
Gründe:
1
I.
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Die Kindeseltern heirateten am 27.4.2006 in P, am 2.8.2006 wurde dann das betroffene
Kind O in D geboren, wohin die Kindesmutter inzwischen gegangen war. In P aufgrund
der Antragsschrift des Antragsgegners in diesem Verfahren datierend vom 27.3.2007 ein
Scheidungsverfahren rechtshängig. In diesem Verfahren hat der Antragsgegner unter
anderem auch einen Antrag zum Sorgerecht gestellt. Mit Antragsschrift vom 10.1.2007
hat die Kindesmutter nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe den vorliegenden
Sorgerechtsantrag gestellt.
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Die Kindesmutter begründet ihren Sorgerechtsantrag damit, dass es anlässlich von
Besuchskontakten immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Kindesvater
komme, in deren Verlauf dieser androhe, O bis zu dessen Erstkommunion in P behalten
zu wollen.
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zu wollen.
Die Antragstellerin beantragt,
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ihr die alleinige Sorge bezüglich des gemeinsamen Kindes O, geboren am
2.8.2006, zu übertragen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Sorgerechtsantrag zurückzuweisen.
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Er trägt vor, dass die Antragstellerin zwei Wochen vor der Geburt des Sohnes O
plötzlich aus P verschwunden sei. Sie sei dann zwar im September 2006 noch einmal
nach P zurückgekehrt, nicht aber in das Haus des Antragsgegners eingezogen. Die ihm
vorgeworfene Androhung, das Kind O bei sich behalten zu wollen, stellt er in Abrede.
Jedoch wünscht sich der Antragsgegner wohl, dass die Kindesmutter mit dem Kind in P
und nicht in D lebt.
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Mit Scheidungsantragsschrift vom 27.3.2007 beantragt der Kindesvater in P die
Scheidung der Ehe und hat u.a. auch folgenden Sorgerechtsantrag gestellt:
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"2. die Übertragung der elterlichen Sorge über das gemeinsame, minderjährige
Kind O (geb. am 2.8.2006) auf die Mutter und das Überlassen des
Mitentscheidungsrechts bei dem Kläger in den für das Kind relevanten
Angelegenheiten.
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3. die Regelung der Kontakte zwischen dem Kläger und dem minderjährigen Kind
...."
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Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachvortrags wird Bezug genommen auf die
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verfahrensakte #####
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II.
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Die internationale Zuständigkeit des Amtsgerichts – Familiengericht – S ist nicht
gegeben, so dass der Antrag der Kindesmutter aus formalen Gründen zurückzuweisen
war.
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Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für das Sorgerechtsverfahren
beurteilt sich nach der Verordnung der EG Nr. ####/#### des Rates vom 27.11.2003 –
ABl. L 338 vom 23.12.2003, S. 1 ff – (kurz: Brüssel IIa–Verordnung). Denn die
Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Artt. 8 ff Brüssel IIa-Verordnung sind
nach Art. 61 lit. a Brüssel IIa-Verordnung vorrangig gegenüber der
Zuständigkeitsregelung in Art. 1 des Übereinkommens über die Zuständigkeit der
Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von
Minderjährigen vom 5.10.1961, BGBl. 71 II, S. 217 (kurz:
Minderjährigenschutzabkommen oder MSA).
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Nach Art. 8 (1) Brüssel IIa-Verordnung sind grundsätzlich die Gerichte im Staat des
gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes im Zeitpunkt der Antragstellung international für
die Entscheidung über Fragen der elterlichen Sorge zuständig sind. Im vorliegenden
Fall ist davon auszugehen, dass das betroffene Kind O seinen gewöhnlichen Aufenthalt
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bei seiner Mutter in R und damit in D hat. Aus Art. 8 (2) Brüssel IIa-Verordnung ergibt
sich jedoch, dass die Regelungen in den Art. 9, 10 oder 12 Brüssel IIa-Verordnung
besondere Zuständigkeiten begründen, die der allgemeinen Zuständigkeit nach Art. 8
(1) Brüssel IIa-Verordnung vorgehen. Die internationale Zuständigkeit ist bei
Entscheidungen über die elterliche Verantwortung also gestaffelt, es handelt sich um
eine sog. "Anknüpfungsleiter". Das hat zur Folge, dass die Artt. 8 – 15 Brüssel IIa-
Verordnung keine gleichrangig nebeneinander stehenden internationalen
Zuständigkeiten begründen wie beispielsweise die Artt. 3, 4 oder 5 Brüssel IIa-
Verordnung für die Ehesache.
Im vorliegenden Fall wird die allgemeine internationale Zuständigkeit der deutschen
Gerichte aus Art. 8 (1) Brüssel IIa-Verordnung durch die besondere
Verbundzuständigkeit mit der Ehesache nach Art. 12 Brüssel IIa-Verordnung verdrängt.
Für das Scheidungsverfahren besteht nach Artt. 1, 3 Abs. 1 lit. a Brüssel IIa –
Verordnung die internationale Zuständigkeit p Gerichte, weil die Parteien in P ihren
letzten gemeinsamen Wohnsitz hatten und weil der Antragsgegner dort bereits seit über
einem Jahr seinen Wohnsitz hat. Die internationale Verbundzuständigkeit ist dann nach
Art. 12 Brüssel IIa-Verordnung in P für die Folgesache elterliche Sorge gegeben. Denn
in P ist weiterhin die Ehesache rechtshängig und beide Ehegatten sind (noch) Inhaber
der elterlichen Verantwort im Sinne der Verordnung. Soweit ersichtlich haben die
Parteien auch in P nicht die internationale Zuständigkeit für den Sorgerechtsantrag in
Abrede gestellt und auch ein Verstoß gegen die Kindeswohlinteressen ist nicht
ersichtlich.
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Das Amtsgericht – Familiengericht – S hat seine internationale Zuständigkeit von Amts
wegen zu prüfen (Art. 17 Brüssel IIa-Verordnung). Da nach den vorstehenden
Ausführungen eine vorrangige internationale Zuständigkeit der polnischen Gerichte
gegeben ist, haben sich deutsche Gerichte für international unzuständig zu erklären.
Sofern die polnischen Gerichte aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes O in
D, der nach Art. 2 MSA – welches auch von P gezeichnet worden ist – möglicherweise
auch zur Anwendung deutschen Sachrechts führen kann, von einer größeren Sachnähe
der deutschen Gerichte ausgehen sollten, könnten deutsche Gerichte erst nach einer
Verweisung im Sinne von Art. 15 Brüssel IIa-Verordnung zuständig werden.
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Auf die Frage, ob die Einreichung einer Antragsschrift mit Prozesskostenhilfevorbehalt
eine Anhängigkeit im Sinne Artt. 16, 19 Brüssel IIa-Verordnung begründet, kommt es im
vorliegenden Fall nicht an. Denn aufgrund der besonderen internationalen Zuständigkeit
p Gerichte nach Art. 12 Brüssel IIa-Verordnung fehlt bereits die internationale
Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Art. 8 (1) Brüssel IIa-Verordnung, jedenfalls ist
eine solche Zuständigkeit mit der Einreichung der Scheidungsantragsschrift verbunden
mit dem Sorgerechtsantrag wieder entfallen. Denn nach Art. 19 (2) Brüssel IIa-
Verordnung könnte allenfalls die polnischen Gerichte gehalten sein, das Verfahren über
die Folgesache elterliche Verantwortung auszusetzen, bis möglicherweise früher
angerufene deutsche Gerichte ihre internationale Zuständigkeit geklärt haben. Diese
Regelung soll sich widersprechende Entscheidungen innerhalb des Geltungsbereichs
der Brüssel IIa-Verordnung vermeiden. Durch diese Regelung soll aber nicht die im
Bereich der elterlichen Sorge geltende Anknüpfungsleiter für die internationale
Zuständigkeit nach der Brüssel IIa-Verordnung abgeändert werden. Daher ist auch eine
spätere Antragstellung bei einem Gericht, dessen besondere internationale
Zuständigkeit nach der Brüssel IIa-Verordnung gegeben ist, grundsätzlich bis zum
rechtskräftigen Abschluss des Erstverfahrens beachtlich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 13 a FGG.
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