Urteil des AG Sigmaringen vom 16.09.2008

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AG Sigmaringen Beschluß vom 16.9.2008, 1 F 277/08
Sorgerecht: Ersetzung der Kündigung eines Mietverhältnisses und Verbot der Wohnungsnutzung wegen
eines gesundheitsgefährdenden Zustandes
Leitsätze
Wird das Kindeswohl dadurch gefährdet, dass die Eltern die gebotene fristlose Kündigung des Mietverhältnisses
für eine gesundheitsgefährdende Wohnung unterlassen, kann das Familiengericht diese ersetzen, dem Vermieter
kündigen und den Eltern die weitere Nutzung der Wohnung verbieten.Die Mietwohnung, in der die Eltern und die
Kinder leben, befand sich in einem vom Gesundheitsamt bestätigten gesundheitsgefährdenden Zustand. Nachdem
eine Beseitigung der Mängel nicht erfolgte und die Eltern untätig blieben, hat das Gericht deren Erklärung einer
fristlosen Kündigung ersetzt und die weitere Nutzung der Wohnung untersagt. Außerdem wurde die Eltern
angewiesen, für den regelmäßigen Besuch des Kindergartens durch eines der Kinder, welches
Entwicklungsrückstände hat, zu sorgen.
Die Wohnung wurde nach Rechtskraft der Entscheidung von Mieter und Vermieter renoviert, so dass das
Nutzungsverbot durch den Beschluss vom 16.12.2008 (1 F 452/08) aufgehoben werden konnte; es ist ein neuer
Mietvertrag abgeschlossen worden.
Tenor
1. Folgende einseitige Willenserklärung von Frau K. und Herrn H. wird ersetzt:
Das Mietverhältnis mit Herrn J.H., wohnhaft in I. über die Wohnung, Erdgeschoß, in der Stadt S. wird fristlos
gekündigt.
2. Den Eltern wird untersagt, die Familien-Mietwohnung in der ....Str., Stadt S. ab Rechtskraft der Entscheidung
mit den Kindern P., geb. 21.01.2002, J., geb. 14.05.2004, L., geb. 24.01.2007, zu nutzen.
3. Die Eltern Frau K. und Herrn H. werden verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das Kind J., geb. 14.05.2004,
regelmäßig den Kindergarten besucht.
4. Die Eltern tragen gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens.
5. Geschäftswert: 3.000,00 EUR
Gründe
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1. Frau K. und Herr H. sind nicht miteinander verheiratet. Sie sind Eltern der Kinder J., geb. 14.05.2004, und L.
, geb. 24.01.2007. In der Familie lebt außerdem das Kind P. , geb. 21.01.2002, dessen Vater Herr R. K. ist. Die
elterliche Sorge für P. steht der Mutter allein zu; für die Kinder J. und L. üben sie die Eltern gemeinsam aus.
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Die Mutter ist seit kurzem berufstätig; während der Probezeit stellte sich allerdings heraus, dass sie nicht die
vom Arbeitgeber erwartete Arbeitsleistung (über 60 Stunden in der Woche als Bedienung) ohne - weitere -
Beeinträchtigung des Kindeswohles und ihres eigenen gesundheitlichen Zustandes erbringen kann; es ist offen,
inwieweit eine Reduzierung der Arbeitszeit möglich ist.
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Der Vater ist nicht berufstätig. Die Familie hatte bisher von Sozialleistungen gelebt.
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Die Familie K./H. wohnt in einer Erdgeschosswohnung des Hauses in Sigmaringen. Es handelt sich um eine
Mietwohnung. Vermieter ist Herr J.H., in der Gemeinde I.
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2. Bereits in dem vorausgegangenen Verfahren 1 F 263/07 hat der erkennende Richter bei einem Augenschein
am 22.08.2007 (vgl. Aktenvermerk Bl. 6 jener Akten) erhebliche, auch gesundheitsgefährdende Mängel der
Wohnung festgestellt. Der Vater hatte daraufhin zugesagt, zusammen mit dem Vermieter in Eigenarbeit diese
Mängel abzustellen. Die Eltern haben auch die Miete gemindert. Außerdem war zugesagt worden, dass man
sich intensiv um eine andere Wohnung bemühe. Die Eltern hatten bisher keinen Erfolg, was seine Ursache
einerseits in der nachlässigen Art der Eltern, wie sie organisatorische Fragen angehen, ihren Grund hat,
andererseits aber auch daran, dass es für eine sozialschwache Familie mit 3 Kindern nicht einfach ist, eine -
auch nach den Kriterien der ARGE S. angemessene - Wohnung zu bezahlbarem Mietzins zu finden. Die
Zustände in der Wohnung haben sich mittlerweile so verschlechtert, dass eine erhebliche Gesundheitsgefahr
besteht. Nicht nur, dass von 8 Glasscheiben 3 defekt sind und dass der Hausflur nicht vor eindringendem
Regenwasser geschützt ist, es gibt weitere erhebliche Mängel. Insbesondere ist darauf zu verweisen, dass die
Wohnung schimmlig ist, dass Abflüsse im Badezimmer verstopft sind, dass die Heizung nicht regulierbar ist
und deutliche Anzeichen dafür bestehen, dass die Wohnung von Ratten befallen ist. Nach wie vor sind in Flur
und Küche Fliesen und Boden so defekt sind, dass Wasser aus dem Untergrund in die Wohnräume steigt.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Feststellungen des Amtes für Gesundheit des Landratsamtes S. vom
27.08.2008 (Bl. 11/12 d.A.) Bezug genommen.
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Auch wenn die Kinder die besondere und über das übliche Maß hinausgehende Fürsorge des Arztes Dr. Sch.
genießen, der auch dafür gesorgt hat, dass die notwendigen Impfungen, welche die Eltern vernachlässigt
hatten, nachgeholt wurden, muss von einer aktuellen Gefährdung der Kinder in diesen für Wohnzwecke nicht
mehr geeigneten Räumen ausgegangen werden.
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3. Da die Eltern bisher weder die Wohnung gekündigt haben noch die Suche nach einer Ersatzwohnung
erfolgreich gewesen ist - aus welchen Gründen auch immer - ist im Interesse des gesundheitlichen Wohles der
Kinder durch das Familiengericht dafür zu sorgen, dass diese ungeeignete Wohnung jedenfalls nicht länger als
unbedingt notwendig als Familienwohnung genutzt wird. Als mildestes Mittel, welches das Sorgerecht der
Eltern geringer tangiert als ein - teilweiser - Entzug, war deshalb gem. § 1666 Abs.3 Nr.5 BGB die einseitige
Willenserklärung einer fristlosen Kündigung aus gesundheitlichen Gründen gem. § 569 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §
543 BGB gegenüber dem Vermieter Herrn J.H., wohnhaft in I., zu ersetzen und durch diese Entscheidung
auszusprechen. Dem Vermieter ist der gesundheitsgefährdende Zustand der Wohnung seit langem bekannt,
ohne dass er Abhilfe geschaffen hat. (§ 543 Abs.3 S.2 BGB). Die Möglichkeit einer Ersetzung der
Willenserklärung der Eltern bestand bereits nach altem Recht ( so für die Zustimmung für ein Gutachten: OLG
Zweibrücken, FamRZ 1999, 521).
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4. Außerdem war zu verfügen, dass die Eltern gem. § 1666 Abs. 3 Nr. 3 BGB die von ihnen bewohnte und
jedenfalls für die Kinder gesundheitsgefährdende Wohnung nicht mehr ab Rechtskraft des Beschlusses nutzen
dürfen. Die Eltern sind daher verpflichtet, sich sofort intensiv um eine andere Wohnung zu bemühen. Dabei
haben sie die von Landkreis, ARGE und Stadt zur Verfügung gestellten Hilfen zu nutzen. Notfalls ist es
Aufgabe der Stadt Sigmaringen als Obdachlosenbehörde, die Familie so unterzubringen, dass die Kinder nicht
weiter gesundheitlich gefährdet sind.
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5. Die Wohnverhältnisse der Eltern der Kinder P. , J. und L. haben es mit sich gebracht, dass die Kinder nur
wenig Kontakt zu anderen Gleichaltrigen haben. Die Mutter ist aufgrund der Lebenssituation der Familie
manchmal so überfordert, dass sie sich nicht anders zu helfen weiß, als etwa das älteste Kind auch körperlich
mit Klapsen zu bestrafen, wohl wissend, dass Gewalt in der Erziehung verboten ist. Auch der Hausarzt der
Familie, den jene von der Schweigepflicht entbunden hat, vertritt aus ärztlicher Sicht die Auffassung, dass es
den Kindern von ihrer Entwicklung her förderlich ist, wenn sie regelmäßig den Kindergarten besuchen. Deshalb
hat das Gericht für J. [P. besucht seit September die Grundschule] eine entsprechende Anordnung nach §
1666 Abs.3 Nr.2 BGB getroffen. Der im Wortlaut der Vorschrift enthaltene Bezug zur Schulpflicht stellt ein
Regelbeispiel ( vergleiche „insbesondere“) dar; wenn - wie hier notwendig - kann auch der regelmäßige
Kindergartenbesuch vom Familienrichter verpflichtend gemacht werden, selbst wenn es keine gesetzliche
„Kindergartenpflicht“ (ähnlich der Schulpflicht) gibt.
10 6. Nicht erforderlich ist es derzeit, dass die Eltern, wie vom Jugendamt vorgeschlagen, mit einer ambulante
sozialpädagogische Familienhilfe einverstanden sind. Das Gericht hat sich in allen mündlichen Verhandlungen,
zuletzt in derjenigen vom 29.08.2008, davon überzeugt, dass die Kinder wohlerzogen und interessiert sind. Sie
gehen auf fremde Personen unbefangen und freundlich zu, ohne distanzlos zu sein. Die Kinder können ruhig
miteinander spielen und halten sich an die Bitten der Erwachsenen, ungestört ein Thema besprechen zu
können. Die Kinder wachsen in ihrer sozialen Umgebung auf, auch wenn diese objektiv nicht die besten
Entwicklungschancen bietet. Das staatliche Wächteramt der Jugendbehörden und des Familiengerichts lässt
es nicht zu, in die Familie einzugreifen, soweit nicht die Kinder objektiv gefährdet sind (BVerfG, JAmt 2006,516
und FamRZ 2008, 492; OLG Brandenburg FamRZ 2008, 1556 ff).
11 Es besteht die Erwartung, dass sich die Verhältnisse auch innerhalb der Familienbeziehungen nachhaltig
verbessern, wenn die Wohnsituation eine andere ist. Es ist zu erwarten, dass auch dann die vom Arzt des
Gesundheitsamtes festgestellten Vermüllungstendenzen ihr Ende finden.
12 7. Da die Eltern durch ihr Verhalten das Verfahren veranlasst haben, haben sie auch die Gerichtsgebühr zu
tragen.