Urteil des AG Potsdam vom 02.04.2017

AG Potsdam: strafverfahren, marketing, systematische auslegung, hinreichender tatverdacht, beweismittel, auskunftspflicht, beweisverwertungsverbot, geschäftsführer, ausnahmefall, arbeitsentgelt

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Gericht:
LG Potsdam 7. Kleine
Strafkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
27 Ns 23/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 97 Abs 1 S 3 InsO, § 206a Abs
1 StPO, § 266a Abs 1 StGB
Vorenthalten von Arbeitsentgelt: Prozesshindernis bei
Verwendung von eigenen im Insolvenzverfahren gemachten
Angaben des Schuldners; Selbstbelastungsfreiheit
Leitsatz
1. § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO normiert nicht nur ein Beweisverwertungsverbot, sondern ein
umfassendes Verwendungsverbot. Mit dieser Norm ist es schon nicht vereinbar, dass die
Angaben, die der Schuldner bzw. dessen Geschäftsführer im Insolvenzverfahren gemacht hat,
ohne dessen Zustimmung an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben werden, um
Ermittlungen gegen diesen oder gegen seine Angehörigen zu führen.
2. Stützt sich eine Anklage insgesamt ausschließlich auf die unzulässige Verwertung der
insolvenzverfahrensrechtlichen Angaben der Gemeinschuldnerin bzw. deren Geschäftsführer,
so liegt in der unzulässigen Verwendung dieser Angaben ein Prozesshindernis, das sich auf
das gesamte Verfahren bezieht. Anders gilt nur, soweit die Ermittlungen auf andere
Erkenntnisquellen - etwa Insolvenzanträge dritter - zurückgehen.
Tenor
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens werden der Staatskasse auferlegt, die auch die notwendigen
Auslagen trägt, die der Angeklagten in dem Verfahren entstanden sind.
Gründe
I.
Die Angeklagte war seit September 1998 Geschäftsführerin der C. Marketing GmbH mit
Sitz im Technologiepark in L.. In dieser Eigenschaft führte sie auch die Geschäfte
weiterer Tochtergesellschaften der C. Marketing GmbH, an denen diese jeweils als
persönlich haftende Gesellschafterin und die Angeklagte jeweils als Kommanditistin
beteiligt waren. Eine dieser Tochtergesellschaften war die C. Marketing GmbH & Co. Ph.
KG mit Sitz in L.. Die zuletzt genannte Gesellschaft hatte zwischen Januar und Oktober
2001 mindestens zwei versicherungspflichtige Angestellte, nämlich Herrn Dr. D. und
Herrn B..
Mit zwei gesonderten Schreiben vom 5. November 2001, die beide am Folgetag beim
Amtsgericht Potsdam eingingen, stellte die Angeklagte selbst jeweils für die
Muttergesellschaft C. Marketing GmbH und für die Tochtergesellschaft C. Marketing
GmbH & Co. Ph. KG Anträge auf die Eröffnung von Insolvenzverfahren. Auf einem
Fragebogen, der ihr vom Amtsgericht Potsdam zugesandt worden war, gab die
Angeklagte unter dem 4. Dezember 2001 die Rückstände der C. Marketing GmbH & Co.
Ph. KG bei den Sozialversicherungsträgern an und bezifferte diese wie folgt: Bei der IKK
bestehe für den Zeitraum August bis Oktober 2001 ein Zahlungsrückstand von 7.381,23
DM und bei der TKK bestehe für den Zeitraum März bis Oktober 2001 ein
Zahlungsrückstand von 13.476,08 DM. Mit Beschluss vom 9. Januar 2002 (Gz.: 35 IN
879/01) lehnte das Amtsgericht Potsdam die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über
das Vermögen der Muttergesellschaft C. Marketing GmbH und mit Beschluss vom 27.
Februar 2002 (Gz.: 35 IN 889/01) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das
Vermögen der Tochtergesellschaft C. Marketing GmbH & Co. Ph. KG jeweils mangels
Masse ab.
Das Insolvenzgericht des Amtsgerichts Potsdam übersandte der Staatsanwaltschaft
Potsdam jeweils gemäß Abschnitt 12a Nr. 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 der Anordnung über
Mitteilungen in Zivilsachen (MiZi) einen Abdruck der genannten Beschlüsse. Auf die
Anforderungen der Staatsanwaltschaft übersandte das Insolvenzgericht jeweils auch die
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Anforderungen der Staatsanwaltschaft übersandte das Insolvenzgericht jeweils auch die
Insolvenzakten. Die Staatsanwaltschaft wertete die Insolvenzakten im Rahmen ihrer
Vorermittlungen aus. Aufgrund der Angaben der Angeklagten, die diese unter dem 4.
Dezember 2001 in den Fragebogen des Insolvenzgerichts eingetragen hatte, erbat die
Staatsanwaltschaft von den genannten Krankenkassen jeweils eine nach Arbeitgeber-
und Arbeitnehmeranteilen aufgegliederte Aufstellung der Rückstände der C. Marketing
GmbH & Co. Ph. KG. Nach Durchführung der Beschuldigtenvernehmung am 29.
November 2002 erhob die Staatsanwaltschaft Potsdam mit Anklageschrift vom 19.
Dezember 2002 auf der Grundlage der von den Krankenkassen übermittelten
Aufstellungen Anklage zum Strafrichter des Amtsgerichts L..
Das Amtsgericht eröffnete mit Beschluss vom 19. Dezember 2002 das Hauptverfahren
gegen die Angeklagte. Mit Schriftsatz vom 25. November 2003, der am 1. Dezember
2003 beim Amtsgericht L. einging, verweigerte der Verteidiger namens der Angeklagten
eine Zustimmung zu einer Verwertung derjenigen Angaben der Angeklagten, die diese
im Insolvenzverfahren gemacht hat. Eine nach mehreren Terminsverlegungen auf den
27. Mai 2004 angesetzte Hauptverhandlung wurde ausgesetzt. In der Hauptverhandlung
am 5. Dezember 2005 verurteilte das Amtsgericht L. die Angeklagte mit dem
angefochtenen Urteil wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gemäß
§ 266a Abs. 1 StGB - betreffend die Abrechnungszeiträume Januar bis Juli 2001 - unter
Freispruch im Übrigen - betreffend die Tatvorwürfe wegen der Abrechnungszeiträume
August bis Oktober 2001 - zu einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 10,00
Euro. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Berufung und die Angeklagte ein
nicht näher bezeichnetes Rechtsmittel eingelegt; beide Rechtsmittel sind am 12.
Dezember 2005 beim Amtsgericht L. eingegangen. Während die Staatsanwaltschaft eine
Verurteilung der Angeklagten auch wegen der Abrechnungszeiträume August bis
September 2001 erwirken will, strebt die Angeklagte unter Hinweis auf die lange Dauer
des Verfahrens und auf die Regelung des § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO einen Freispruch an.
II.
Das Verfahren ist gemäß § 206a Abs. 1 StPO einzustellen, da ein nicht zu beseitigendes
Verfahrenshindernis besteht. Dieses Verfahrenshindernis ergibt sich nicht schon aus der
Dauer des Ermittlungs- und Strafverfahrens (hierzu 1.), sondern aus der unzulässigen
Verwendung der Angaben der Angeklagten zu Ermittlungszwecken (hierzu 2.); es kann
nicht behoben werden (hierzu 3.).
1. Ein nicht zu beseitigendes Verfahrenshindernis im Sinne von § 206a Abs. 1 StPO
ergibt sich nicht bereits aus der Dauer des Ermittlungs- und Strafverfahrens. Eine
Verletzung des aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK resultierenden Beschleunigungsgebotes
begründet grundsätzlich kein Verfahrenshindernis; sie ist vielmehr bei der
Strafzumessung zu berücksichtigen. Etwas anderes gilt grundsätzlich nur in
außergewöhnlichen Einzelfällen, wenn nämlich eine angemessene Berücksichtigung
eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen einer Sachentscheidung
nicht mehr möglich ist (EGMR, StV 2001, 489; BVerfG, NJW 1984, 967, NJW 1992, 2472
und NJW 2004, 2398; BGHSt 46, 159; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Art. 6 EMRK, Rz. 9
m.w.N.; vgl. auch LG Potsdam, NJ 2004, 276). Ein derart krasser Ausnahmefall ist
vorliegend nicht gegeben. Zwar dauert das Strafverfahren ungewöhnlich lange an: Seit
der Beschuldigtenvernehmung, durch welche die Angeklagte erstmals von dem
Ermittlungsverfahren Kenntnis erlangt hat, sind mehr als vier Jahre verstrichen. In der
Ausgangsinstanz hat das Verfahren nach der Aussetzung des Verhandlungstermins vom
24. Mai 2004 etwa eineinhalb Jahre geruht, bis ein neuer Verhandlungstermin anberaumt
wurde und auch in der Berufungsinstanz ist nunmehr über ein Jahr verstrichen. Diese
Verzögerungen könnten jedoch im Falle einer Verurteilung im Rahmen der
Strafzumessung berücksichtigt werden.
2. Ein Verfahrenshindernis ergibt sich jedoch daraus, dass die Staatsanwaltschaft unter
Verstoß gegen das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO die Auskünfte,
welche die Angeklagte in dem Insolvenzverfahren gemacht hat, ohne deren
Zustimmung zu Ermittlungszwecken im Strafverfahren verwendet hat. Dies wird durch §
97 Abs. 1 Satz 3 InsO untersagt.
Die Vorschrift des § 97 InsO regelt die Mitwirkungspflichten des Schuldners im
Insolvenzverfahren. Gemäß Absatz 1 dieser Norm ist der Schuldner verpflichtet, im
Insolvenzverfahren über alle das Verfahren betreffende Verhältnisse Auskunft zu geben.
Hierbei muss er auch Tatsachen offenbaren, die geeignet sind, eine Verfolgung wegen
einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit herbeizuführen. Hieran anknüpfend regelt §
97 Abs. 1 Satz 3 InsO:
„Jedoch darf eine Auskunft, die der Schuldner gemäß seiner Verpflichtung nach Satz
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„Jedoch darf eine Auskunft, die der Schuldner gemäß seiner Verpflichtung nach Satz
1 erteilt, in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem Gesetz über die
Ordnungswidrigkeiten gegen den Schuldner oder einen in § 52 Abs. 1 der
Strafprozessordnung bezeichneten Angehörigen des Schuldners nur mit Zustimmung
des Schuldners verwendet werden“
Diese Vorschrift normiert nicht nur ein Beweisverwertungsverbot, sondern ein
umfassendes Verwendungsverbot. Mit ihr ist es schon nicht vereinbar, dass die
Angaben, die der Schuldner bzw. dessen Geschäftsführer im Insolvenzverfahren
gemacht hat, ohne dessen Zustimmung an die Strafverfolgungsbehörden
weitergegeben werden, um Ermittlungen gegen diesen oder gegen seine Angehörigen
zu führen.
a) Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist nicht bloß die Verwertung der Angaben zu
Beweiszwecken, sondern jedwede „Verwendung“ der Angaben des Schuldners im
Strafverfahren verboten. Dieses Verbot erstreckt sich auf das gesamte Strafverfahren,
also auch auf die dem eigentlichen Strafverfahren vorgelagerten Ermittlungen der
Strafverfolgungsbehörden. Die Formulierung ist vom Gesetzgeber bewusst weit gewählt
worden: Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung griff die Formulierung auf, die das
Bundesverfassungsgericht in seinem sog. „Gemeinschuldnerbeschluss“ vom 13. Januar
1981 (BVerfGE 56, 37) in Anlehnung an die Verwertungsverbote gemäß § 136a StPO und
§ 393 Abs. 2 AO verwendet hatte, und sprach lediglich von dem Verbot der
„Verwertung“; diese Formulierung ist jedoch im Gesetzgebungsverfahren bewusst durch
eine umfassendere Wendung ersetzt worden.
In der genannten Entscheidung hatte das BVerfG die Regelungen der damals noch
geltenden Konkursordnung im Wege der Auslegung ergänzt. § 100 KO sah eine mit § 97
Abs. 1 Satz 1 InsO vergleichbare umfassende Auskunftspflicht des Gemeinschuldners
vor, traf jedoch keine mit § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO vergleichbare Regelung über die
Verwertung dieser Auskünfte im Strafverfahren. Im Wege der ergänzenden
Gesetzesauslegung, deren Hintergründe noch näher zu beleuchten sind, verknüpfte das
BVerfG diese Auskunftspflicht mit einem an § 136a StPO, § 393 Abs. 2 AO angelehnten
Verwertungsverbot. Ausdrücklich wies das BVerfG dabei darauf hin, dass es
grundsätzlich dem Gesetzgeber obliege, dieses Verwertungsverbot näher
auszugestalten und durch Offenbarungsverbot abzusichern. Im Unterschied hierzu weist
das Sondervotum des Verfassungsrichters Heußner darauf hin, dass zum Schutz des
Gemeinschuldners ein bloßes Verwertungsverbot nicht ausreichend sei, sondern dieses
durch ein Offenbarungsverbot abgesichert sein müsse. Nur das Verbot der Offenbarung
könne den erstrebten Zweck sichern, dem Gemeinschuldner eine umfassende
Auskunftserteilung an die Gläubiger zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund stelle jede
Weitergabe der im Insolvenzverfahren vom Gemeinschuldner erteilten Auskünfte an die
Strafverfolgungsbehörden eine Zweckentfremdung dar und verletze das
Persönlichkeitsrecht des Gemeinschuldners und das Verhältnismäßigkeitsprinzip.
Im Zuge der parlamentarischen Beratung der Insolvenzordnung hat der
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages auf Anregung des Bundesbeauftragten
für Datenschutz vorgeschlagen, das noch im Regierungsentwurf verwendete Wort
„verwertet“ (§ 109 Abs. 1 Satz 2 RegE, BR-Drs. 1/92; vgl. Hefendehl, wistra 2003, 1, 3)
durch das Wort „verwendet“ zu ersetzen. Durch die Wahl der weitgreifenderen
Formulierung hat der Gesetzgeber ein weiter reichendes Verbot statuiert. Darüber
hinaus greift der Gesetzgeber mit der von ihm gewählten Formulierung des
Verwendungsverbotes genau diejenige Unterscheidung auf, die in dem genannten
Sondervotum thematisiert worden ist. Nur am Rande sei erwähnt, dass auch der
Bundesbeauftragte für Datenschutz, von dem die entscheidende Anregung im
Rechtsausschuss ausging, dem Wort „verwenden“ einen umfassenden Sinn beilegt:
Nach der Begrifflichkeit des BDSG ist jede Nutzung und Verarbeitung von Daten als
deren „Verwendung“ anzusehen (§ 3 Abs. 5; vgl. auch § 4f Abs. 2 Satz 2, § 31 und § 45
Satz 1 BDSG). Nach der Begründung, die der Rechtsausschuss seinem
Änderungsvorschlag beigegeben und die der Gesetzgeber übernommen hat, soll durch
das Verwendungsverbot verhindert werden, „dass die Auskünfte des Gemeinschuldners
strafrechtlichen Ermittlungen auch nur als Ansatzpunkt dienen“ (BT-Drs. 12/7302; vgl.
Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl., § 97, Rz. 8; Wimmer [Hg.]/App, Frankfurter Kommentar zur
Insolvenzordnung, 4. Aufl. [Zitierweise im Weiteren: FK/Bearbeiter], § 97, Rz. 12;
Hefendehl, wistra 2003, 1, 2; Danckert, ZRP 2000, 476, 478).
b) Der Regelungszweck des § 97 Abs. 1 InsO liegt gerade darin, den Schuldner zu einer
umfassenden Auskunftserteilung gegenüber dem Insolvenzverwalter, dem
Insolvenzgericht und den Organen der Gläubiger zu verpflichten. Dem Satz 3 der Norm
kommt in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, diese umfassende Auskunftspflicht
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kommt in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, diese umfassende Auskunftspflicht
gegenüber dem Strafverfahren abzugrenzen und dafür Sorge zu tragen, dass die
Auskünfte, die der Schuldner im Insolvenzverfahren erteilt, ohne dessen Zustimmung
nicht als Ansatzpunkt für strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn selbst oder einen nahen
Angehörigen verwendet werden. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die
Gesetzeslücke geschlossen, auf die das BVerfG schon mit dem bereits erwähnten sog.
„Gemeinschuldnerbeschluss“ (BVerfGE 56, 37) hingewiesen hat. Die Regelung trifft
einen Ausgleich dafür, dass der Schuldner im Insolvenzverfahren zur Erteilung von
Auskünften verpflichtet ist, zu denen er im Strafverfahren nicht gezwungen werden kann.
Dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (auch als Verbot der Selbstbezichtigung
oder Grundsatz des bezeichnet) kommt im
Strafverfahren eine sehr viel weiter reichende Bedeutung zu, als im Insolvenzverfahren.
Das Verbot der Selbstbezichtigung wird im Strafprozess als eine durch Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Wertentscheidung zugunsten des
Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten aufgefasst, hinter dem das
Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit zurückzutreten hat; die Menschenwürde
gebietet, dass der Beschuldigte frei darüber entscheiden kann, ob er sich selbst als
Werkzeug zu seiner eigenen Überführung zur Verfügung stellt (BVerfGE 56, 37 m.w.N.).
Diesem Grundsatz tragen prozessuale Schweigerechte des Beschuldigten Rechnung
(vgl. beispielsweise §§ 136, 163a, 243 Abs. 4 StPO). Das Verbot der Selbstbezichtigung
gilt nicht in gleicher Weise in einem anderen Kontext für denjenigen, der aus besonderen
Rechtsgründen verpflichtet ist, einem anderen oder einer Behörde die für diese
notwendigen Informationen zu erteilen: Hier kollidiert das Interesse des
Auskunftspflichtigen mit dem Informationsbedürfnis anderer Personen. Dies gilt in
besonderem Maße für den Schuldner im Insolvenzverfahren: Anders als der Beschuldigte
im Strafverfahren steht er zu den von ihm geschädigten Gläubigern in einem
besonderen Pflichtenverhältnis. Ohne die Auskunft des Schuldners werden die Gläubiger
oftmals ihre Rechte nicht geltend machen können (FK/App, a.a.O., § 97, Rz. 12). § 97
Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO räumt daher dem Auskunftsinteresse der Gläubiger einen
Vorrang vor dem Interesse des Schuldners an einem Schutz gegen erzwungene
Selbstbezichtigungen ein; die Auskunftspflicht kann gemäß § 98 InsO sogar zwangsweise
durchgesetzt werden. Würde der Schuldner wissentlich falsche Angaben über
insolvenzverfahrensrechtliche Umstände beschwören, so würde er sich des Meineides
strafbar machen ohne Rücksicht darauf, ob die Auskunft strafbare Handlungen zum
Gegenstand hätte (BGH St 3, 309; RG St 66, 152; FK/App, a.a.O., § 97, Rz. 12). Es würde
das im Strafrecht verbürgte Schweigerecht des Beschuldigten aushöhlen, wenn in
diesem Verfahren Selbstbezichtigungen verwendet werden dürften, die außerhalb des
Strafverfahrens unter rechtlichem Zwang drohender Zwangsmaßnahmen geäußert
worden sind (BVerfGE 56, 37). § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO trägt dem unterschiedlichen
Gewicht, das der Selbstbelastungsfreiheit im Insolvenz- und im Strafverfahren zukommt,
Rechnung. Die Norm erfüllt den Zweck, jedwede Verwendung der Angaben des
Schuldners, die dieser im Insolvenzverfahren gemacht hat, im Strafverfahren
auszuschließen. Unzulässig ist daher nicht nur die unmittelbare, sondern auch die
mittelbare Verwertung der im Insolvenzverfahren vom Schuldner gegebenen Auskünfte.
Es dürfen auch solche Tatsachen nicht verwendet werden, zu denen die im
Insolvenzverfahren erteilte Auskunft des Schuldners den Weg gewiesen hat (LG
Stuttgart, NStZ-RR 2001, 282; FK/App, a.a.O., § 97, Rz. 12; Eickmann/ Flessner/ Kirchhof/
Kreft/ Landfermann/ Marotzke/ Stephan, InsO, 4. Aufl., § 97, Rz. 13; Richter, wistra 2000,
440).
Das Verbot hindert nicht die Verwendung von Tatschen, die der Strafverfolgungsbehörde
bereits bekannt geworden sind (FK/App, a.a.O., § 97, Rz. 12¸ Eickmann/ Flessner/
Kirchhof/ Kreft/ Landfermann/ Marotzke/ Stephan, InsO, 4. Aufl., § 97, Rz. 13;
Braun/Kroth, InsO, § 97, Rz. 10). Dies gilt auch für solche Tatsachen, die der
Staatsanwaltschaft unabhängig von einer im Insolvenzverfahren erteilten Auskunft des
Schuldners bekannt werden - selbst dann, wenn diese Auskunft aus dem
Insolvenzverfahren bereits der Staatsanwaltschaft vorliegt. Alle Erkenntnisquellen, die
sich unabhängig von der pflichtgemäßen Auskunft des Schuldners erschließen, dürfen
Grundlage weiterer Ermittlungen sein (Bittmann/Rudolph, wistra 2001, 81). Das Verbot
greift hingegen dann ein, wenn die Strafverfolgungsbehörden die im Insolvenzverfahren
erteilten Auskünfte des Schuldners auswertet und aufgrund dieser Auswertung durch
Ermittlungen zu Beweistatsachen gelangt, da die Auskunft des Schuldners ohne seine
Zustimmung auch nicht als Ansatz für weitere Ermittlungen dienen darf (Uhlenbruck,
a.a.O., § 97, Rz. 8). Die Kritik von Uhlenbruck (a.a.O., § 97, Rz. 8, unter Hinweis auf
Blersch; vgl. auch Hefendehl, wistra 2003, 1, 6), wonach ein „mit hoher krimineller
Energie ausgestatteter Schuldner“ sich der Strafverfolgung gänzlich entziehen könne,
wenn er alle Straftaten bereits im Insolvenzverfahren offenbart, trifft jedoch nicht in
dieser Schärfe zu, da § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO keine „Sperrwirkung“ für bestimmte
Themen auslöst. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Ermittlungen der
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Themen auslöst. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft ihren Ausgangspunkt bei den Auskünften des Schuldners im
Insolvenzverfahren nehmen.
c) Auch eine systematische Auslegung des § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO führt dazu, dass
dieser Norm eine Fernwirkung in dem Sinne zukommt, dass im Strafverfahren auch
diejenigen Erkenntnisse nicht verwertet werden können, die erst durch die Auskunft des
Schuldners im Sinne von § 97 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO ermittelt worden sind. Im
Unterschied etwa zum US-amerikanischen Strafverfahren ist dem deutschen
Strafverfahrensrecht der Gedanke der sog.
grundsätzlich fremd. Grundsätzlich besteht nach der StPO keine Fernwirkung in dem
Sinne, dass ein Beweisverwertungsverbot auch andere Beweismittel unverwertbar
macht, die erst durch Nutzung des nicht verwertbaren Beweismittels bekannt geworden
sind. Eine solche Fernwirkung wird bei einem Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot
- also für rechtswidrig erhobene Beweise - allerdings erwogen (Meyer-Goßner, a.a.O.,
Einl., Rz. 57 m.w.N.; Hefendehl, wistra 2003, 1, 6). Derartige Fernwirkungen sind jedoch
auch bei einer rechtmäßigen Gewinnung des Beweismittels nicht durch die
Rechtssystematik ausgeschlossen: So hat der BGH dem Beweisverwertungsverbot nach
dem G10 auch bei rechtmäßiger Entstehung des Beweismittels eine derartige
Fernwirkung beigemessen (BGHSt 29, 244 und NJW 1987, 2525; vgl. Meyer-Goßner,
a.a.O., Einl. Rz. 57). Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, Beweisverwertungs-
und Verwendungsverbote mit Fernwirkung zu statuieren. Mit Erlass des § 97 Abs. 1 Satz
3 InsO hat der Gesetzgeber hiervon Gebrauch gemacht: Mit dieser Norm hat der
Gesetzgeber klargestellt, dass ein Schuldnachweis nur auf selbständige, von der
Auskunft des Schuldners gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO unabhängige
Beweismittel gestützt werden kann, wie beispielsweise Auskünfte Dritter oder
Unterlagen, die unabhängig von der Auskunft des Schuldners ermittelt worden sind. Dies
hat zur Folge, dass im Zweifel im Strafverfahren nachgewiesen werden muss, dass ein
Beweismittel nicht auf der insolvenzverfahrensrechtlichen Auskunft des Schuldners
beruht; ist dies nicht nachweisbar, bleibt das Beweismittel unverwertbar (Hefendehl,
wistra 2003, 1, 7 m.w.N.).
d) Im Rahmen einer historischen Auslegung kann noch nicht auf eine erstarkte
strafgerichtliche Rechtsprechung zu § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO zurückgegriffen werden.
Soweit dies ersichtlich ist, hat sich lediglich das LG Stuttgart in einer Entscheidung vom
21. Juli 2000 mit dieser Norm auseinandergesetzt (NStZ-RR 2001, 282) und klargestellt,
dass nach dem Willen des Gesetzgebers auch solche Tatsachen nicht als Beweismittel
verwendet werden dürfen, zu denen die Auskunft den Weg gewiesen hat. Die
Entscheidung ist auf große, weitgehend zustimmende Resonanz in der Fachliteratur
gestoßen (vgl. Vahle, DSB 2000, Nr. 12 und 19; Richter, wistra 2000, 440; Weyand, ZInsO
2001, 108; Hefendehl, wistra 2003, 1; Tetzlaff, NZI 2005, 316). Hingegen kann die
Rechtsprechung des BGH zu § 393 AO nicht herangezogen werden. Diese Norm löst den
Konflikt zwischen der Selbstbelastungsfreiheit des Auskunftsverpflichteten (hier: des
Steuerpflichtigen) und dem Informationsbedürfnis des Auskunftsberechtigten (hier: der
Finanzbehörden) für den Bereich des Besteuerungs- und des Steuerstrafverfahrens in
abweichender Weise, indem sie dem Steuerpflichtigen nur ein begrenztes
strafrechtliches Verwertungsverbot gewährt. Im Unterschied zum Insolvenzverfahren
kann überdies im Besteuerungsverfahren eine Auskunft dann nicht mit Zwangsmitteln
durchgesetzt werden, wenn eine Selbstbelastung droht (§ 393 Abs. 1 Satz 2 AO; vgl.
BGH, wistra 2004, 309 und 2005, 148; BGH NJW 2005, 763; Klein, AO, 8. Aufl., § 393, Rz.
16 ff.; Kühn/ Kuttner/ Hofmann, AO, 16. Aufl., § 393, Anm. 1).
e) Im vorliegenden Fall beruhen die Beweismittel, auf die sich die Anklage bezieht,
sämtlich auf den Auskünften der Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat
ihren Ermittlungen und der Anklage - ausschließlich - diejenigen Auskünfte zugrunde
gelegt, welche die Angeklagte am 4. Dezember 2001 gegenüber dem Insolvenzgericht
erteilt hat. Auf andere Erkenntnisquellen - etwa auf breit gestreute Anfragen an die
Einzugsstellen der Sozialversicherung oder auf von diesen gestellte Anzeigen - hat die
Staatsanwaltschaft nicht zurückgegriffen. Damit dienten ausschließlich die Auskünfte der
Angeklagten als Ausgangspunkt der Ermittlungen. Da die Angeklagte - über ihren
Verteidiger - mit Schriftsatz vom 25. November 2003 ausdrücklich der Verwertung
widersprochen hat, können diese Auskünfte in einem gegen sie selbst geführten
Strafverfahren nicht verwendet werden und auch nicht als Ausgangspunkt für
Ermittlungen dienen. Anders als das Amtsgericht angenommen hat, kann auch nicht auf
eine hypothetische Betrachtung zurückgegriffen werden, ob die Staatsanwaltschaft die
Tatsachen, auf die sie ihre Anklage stützt, auch auf andere - legale - Weise hätte
erlangen können. Durch eine solche Betrachtung würde der vom Gesetzgeber
ausdrücklich gewollte Schutz des Schuldners vor unzulässiger strafprozessualer
Verwertung seiner insolvenzverfahrensrechtlichen Angaben unterlaufen (vgl. Hefendehl,
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Verwertung seiner insolvenzverfahrensrechtlichen Angaben unterlaufen (vgl. Hefendehl,
wistra 2003, 1, 7). Es kann daher nur auf die tatsächlich genutzten Erkenntnisquellen
abgestellt werden. Auch die von den Sozialversicherungsträgern erteilten Auskünfte
beruhen - wenn auch nur mittelbar - auf den unzulässig verwerteten Auskünften und
dürfen daher nicht als Beweismittel dienen.
3. Da sich die von der Staatsanwaltschaft Potsdam erhobene Anklage insgesamt
ausschließlich auf die unzulässige Verwertung der insolvenzverfahrensrechtlichen
Angaben der Angeklagten stützt, liegt ein Prozesshindernis vor, das sich auf das
gesamte Verfahren bezieht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Staatsanwaltschaft
weitere Erkenntnisquellen zur Verfügung stünden, mit denen sie unabhängig von der
unverwertbaren Auskunft der Angeklagten den anklagegegenständlichen Sachverhalt
aufklären könnte. Das Verfahrenshindernis hat daher dauerhaften Charakter. Außerhalb
der Hauptverhandlung ist das Verfahren daher gemäß § 206a StPO einzustellen (vgl.
Meyer-Goßner, a. a. O., Einl., Rz. 154). Hierdurch wird das angefochtene Urteil
gegenstandslos, ohne dass es eines besonderen Ausspruches bedürfte (Meyer-Goßner,
a. a. O., § 206a, Rz. 1).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO. Der Staatskasse waren auch
die notwendigen Auslagen der Angeklagten aufzuerlegen, da ein Ausnahmefall des § 467
Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nicht vorlag. Nach dieser Vorschrift kann bei einer Einstellung
wegen eines Verfahrenshindernisses davon abgesehen werden, die notwendigen
Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn die Schuld gerichtlich
festgestellt ist oder zumindest hinreichender Tatverdacht besteht und es ohne das
Verfahrenshindernis zu einer Verurteilung kommen würde (Meyer-Goßner, a.a.O., § 467,
Rz. 16). Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend nicht gegeben, da nicht festgestellt
werden kann, dass es ohne das Verfahrenshindernis in prozessual ordnungsgemäßer
Weise - also ohne Rückgriff auf die Angaben der Angeklagten - zu einem Schuldnachweis
gekommen wäre.
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