Urteil des AG Nürtingen vom 23.04.2009

AG Nürtingen: vollmacht, bevollmächtigung, verfolgungsverjährung, höchstgeschwindigkeit, akteneinsicht, zustellung, einspruch, ordnungswidrigkeit, verwaltungsbehörde, verfügung

AG Nürtingen Urteil vom 23.4.2009, 16 OWi 73 Js 13396/09
Wirksamkeit der Zustellung des Bußgeldbescheids an den Verteidiger: Nachträgliches Berufen auf fehlende schriftliche Vollmacht
Leitsätze
Ein Verteidiger, der seine Bevollmächtigung versichert und gegenüber der Verwaltungsbehörde als solcher auftritt, kann sich im Bußgeldverfahren
nicht auf eine fehlende schriftliche oder beschränkte Vollmacht berufen. Zustellungen an ihn sind wirksam.
Tenor
Die Betroffene wird wegen einer Ordnungswidrigkeit der fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb
geschlossener Ortschaften um 21 km/h zu der
Geldbuße von 50,- EUR
verurteilt.
Die Betroffene trägt die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen.
Gründe
I.
1
Über die persönlichen Verhältnisse der Betroffenen ist wenig bekannt, da sie von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der
Hauptverhandlung entbunden wurde.
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Sie wurde am … 1974 in K. geboren.
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Im Verkehrszentralregister liegen keine Eintragungen vor.
II.
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Am 03.09.2008 um 06.28 Uhr fuhr die Betroffene mit dem PKW Audi, amtliches Kennzeichen ES-..., in der N. Str. in W. mit einer
Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug) von 71 km/h, obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h betrug. Die Betroffene hat somit
die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 21 km/h überschritten.
III.
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Diese Feststellungen beruhen auf der über ihren Verteidiger erfolgten Einlassung der Betroffenen sowie auf den in der Hauptverhandlung
verlesenen Urkunden.
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Die Fahrereigenschaft der Betroffenen und die Richtigkeit der Messung wurden nicht bestritten bzw. angezweifelt.
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Die Betroffene ist jedoch der Auffassung, es sei Verfolgungsverjährung eingetreten, da der Bußgeldbescheid vom 01.12.2008 -trotz Fehlens
einer schriftlichen Vollmacht in den Akten- an den Verteidiger, und somit nicht wirksam, zugestellt wurde.
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Dieser Auffassung konnte jedoch nicht gefolgt werden. Der Bußgeldbescheid vom 01.12.2008 wurde wirksam zugestellt. Eine
Verfolgungsverjährung ist nicht eingetreten. Ein Verfahrenshindernis liegt somit nicht vor.
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Die dreimonatige Verjährungsfrist nach § 26 Abs. 3 StVG wurde zunächst am 03.11.2008 durch die Anordnung/Verfügung der Anhörung der
Betroffenen gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG wirksam unterbrochen, aus der sich eindeutig die Betroffenenstellung ergibt („…Ihnen wird
zur Last gelegt…“ ; Betroffenenbelehrung nach § 55 OWiG).
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Des Weiteren wurde die Verfolgungsverjährung nochmals am 01.12.2008 durch den Erlass des Bußgeldbescheids, welcher innerhalb der
Zwei-Wochen-Frist am 05.12.2008 an den Verteidiger zugestellt wurde, gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG wirksam unterbrochen.
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Die Zustellung an den Verteidiger war wirksam (§ 51 Abs. 3 S. 1 Halbs.1 OWiG). Jedenfalls unter Berücksichtigung des von dem
Rechtsanwalt der Betroffenen gezeigten Verhaltens war vom Vorliegen einer Verteidigervollmacht im Sinne der genannten Vorschrift
auszugehen, auch wenn sich -bis heute- keine schriftliche Vollmacht bei den Akten befindet.
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Die Bevollmächtigung eines Verteidigers bedarf keiner bestimmten Form. Deshalb ist im Einzelfall zu prüfen, ob aus der Gesamtheit der -
auch äußeren - Umstände auf das Vorliegen einer Verteidigungsvollmacht geschlossen werden kann (Thüringer OLG VRS 112, 360; OLG
Dresden VerkMitt 2007 Nr. 63; OLG Zweibrücken, 8.4.2008, 1 Ss 51/08 bei JURIS; OLG Düsseldorf, 17.4.2008, IV-2 Ss (OWi), bei JURIS).
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Vorliegend hat der Verteidiger am 20.11.2008 im „Bußgeldverfahren gegen A.“ mitgeteilt, dass er von der Betroffenen beauftragt worden sei,
eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert und gleichzeitig Akteneinsicht beantragt. Des Weiteren hat er in der Folgezeit
Einspruch eingelegt, Fristverlängerung beantragt, den Einspruch mehrmals begründet, nochmals Akteneinsicht beantragt, dann beantragt,
die Betroffene vom Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden und ist dann schließlich auch in der Hauptverhandlung für die
Betroffene -weiterhin ohne Vorlage einer schriftlichen Vollmacht- erschienen. Dies alles stellt eine typische Verteidigertätigkeit in
Bußgeldsachen dar (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 01.07.2008, Az. 2 Ss 71/08 ; Thüringer OLG VRS 112, 360; OLG Dresden VerkMitt 2007
Nr. 63; OLG Zweibrücken, 8.4.2008, 1 Ss 51/08 bei JURIS; OLG Düsseldorf, 17.4.2008, IV-2 Ss (OWi), bei JURIS, vgl. auch OLG
Brandenburg VRS 113, 343). Diese Umstände lassen ohne weiteres den Schluss zu, dass die Betroffene den Verteidiger zur Wahrnehmung
der Verteidigung in einer Bußgeldsache betraut hat, zumal nicht ersichtlich ist, welche anderen Vertretungshandlungen insbesondere
zivilrechtlicher Art der Rechtsanwalt in vorliegender Sache, bei der keinerlei Drittbeteiligung erkennbar ist, hätte vornehmen sollen (OLG
Dresden VerkMitt 2007 Nr. 63; vgl. auch OLG Brandenburg VRS 113, 343).
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Im Vertrauen hierauf hat die Verwaltungsbehörde den Bußgeldbescheid vom 01.12.2008 an den Verteidiger zugestellt.
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Sich dann auf eine fehlende schriftliche Vollmacht und auf die Verfolgungsverjährung zu berufen, erscheint rechtsmissbräuchlich, da man
von Anfang an durchgehend den Anschein erweckt hat, dass eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung vorliegt (sog. „Verjährungsfalle“ ; vgl.
hierzu OLG Karlsruhe, Beschluss vom 01.07.2008, Az. 2 Ss 71/08 ; OLG Dresden VerkMitt 2007 Nr. 63; OLG Zweibrücken, 8.4.2008, 1 Ss
51/08 bei JURIS; OLG Düsseldorf, 17.4.2008, IV-2 Ss (OWi), bei JURIS).
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Des Weiteren war auch der Zustellungsadressat ausreichend bezeichnet, da sich hieraus eindeutig der Name des Verteidigers ergibt.
IV.
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Die Tat ist eine Ordnungswidrigkeit gem. §§ 3 Abs. 3, 49 StVO, 24 StVG, 11.3.4 BKAT.
V.
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Nr. 11.3.4 BKat sieht als Regelgeldbuße 50,- EUR (und die Eintragung von 1 Punkt in das Verkehrszentralregister) vor.
19
Dem Gericht erschien auch die Verhängung der Regelgeldbuße in Höhe von 50,- Euro als angemessen. Für ein Abweichen von einem
Regelfall ist hier kein Grund ersichtlich.
VI.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 I OWiG, 465 I StPO.