Urteil des AG Neuss vom 14.03.2017

AG Neuss (akupunktur, verfassungskonforme auslegung, bundesrepublik deutschland, anerkennung, wirksamkeit, avb, erstattung, forschung, erfahrung, gutachten)

Amtsgericht Neuss, 37 C 198/76
Datum:
04.08.1977
Gericht:
Amtsgericht Neuss
Spruchkörper:
Richter am Amtsgericht
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
37 C 198/76
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
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Die Klägerin ist bei der Beklagten vertraglich gegen Krankheitskosten versichert.
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Am 21. und 24.11.1975 ließ sie sich von dem Facharzt für Lungenkrankheiten
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Dr. wegen cervicaler Migräne mittels Ohrakupunktur behandeln. Seine Leistungen
stellte der Arzt der Klägerin unter dem 26.11.1975 mit 250,-- DM in Rechnung.
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Die Beklagte verweigert der Klägerin die Erstattung dieser Kosten unter Hinweis auf §
11 Ziff. 1e ihrer Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) mit der Begründung, die
Akupunktur sei eine wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode.
Sie sei deshalb nach ihren AVB von der Leistungspflicht befreit.
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Die Klägerin trägt vor:
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Die Aktupunktur zählte heute zu den wissenschaftlich allgemein anerkannten
Behandlungsmethoden. Sie gehöre zum Rüstzug eines jeden in China ausgebildeten
Arztes und werde auch in Deutschland mit Erfolg angewandt. Im vorliegenden Fall sei
sie von einem Vollmediziner angewandt worden, der sich wissenschaftlich mit der
Aurikulo-Medizin befasse. Im übrigen dürfte die Unklarheit des von der Beklagten
verwendeten Begriffs der allgemeinen wissenschaftlichen Anerkennung nicht zu Lasten
der Klägerin gehen.
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Sie beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an sie 250,--DM zuzüglich 4 % Zinsen seit dem
23.02.1976 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Klage abzuweisen.
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Sie trägt vor:
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In der medizinischen Literatur sei die Akupunktur keinesfalls anerkannt. Dort heiße es,
die anwendenden Ärzte hätten den Beweis der Richtigkeit dieser Methode noch nicht
erbracht. Es fehle noch an der Feststellung der statistisch signifikanten Wirksamkeit. Ihre
vereinzelte Anwendung stehe dem nicht entgegen. Noch 1975 habe ein Mitglied des
Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer als Zwischenbericht seiner
Untersuchen festgehalten, die Akupunktur beziehe ihre teilweise Wirksamkeit mehr aus
ihrem suggestiven und hypnotischen Einfluss auf den Patienten als auf ihrer direkten
Einwirkung. Die Deutsche Akademie für Akupunktur und für Aurikulo-Medizin habe noch
im Januar 1976 geschrieben, sie arbeite daran, die Anerkennung der Akupunktur als
Therapieform zu erreichen. Der Arbeitskreis des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesärztekammer werde voraussichtlich erst im Oktober dieses Jahres über eine
mehrjährige Prüfung dieser Frage in Form eines Votums informieren.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen
Inhalt der Akten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist nicht begründet.
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Die Klägerin kann von der Beklagten die Erstattung der Kosten die
Ohrakupunkturbehandlung vom 21.04.11.1975 nicht verlangen.
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Die Beklagte verweigert die Leistung zurecht mit der Berufung auf § 11 Nr. 1 e ihrer
AVB, dessen vertragliche Geltung zwischen den Parteien unumstritten ist.
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In dieser Bestimmung zeichnet die Beklagte sich von der Leistungspflicht für Kosten frei
die durch wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethoden
entstehen. Zurecht weist zwar die Klägerin daraufhin, dass dieses
Abgrenzungsmerkmal problematisch ist und fließende Grenzen aufweist. Wissenschaft
zeichnet sich dadurch aus, dass sie forscht, in Frage stellt, anzweifelt, fortschreitet und
Argumenten auch zu Beweise des Gegenteils des bisher angenommenen zugänglich
ist. Dem steht vom Ansatz her eine allgemeine Anerkennung als statistisches Element
entgegen. hat deshalb (in NJW 1976, S. 357) der Verwendung dieses Kriteriums in
Rechtsvorschriften erheblich Bedenken entgegengesetzt und zumindest die
verfassungskonforme Auslegung dahin gefordert, dass "Aufwendungen für Mittel, deren
Wirksamkeit durch keine Erfahrung bestätigt wird" von der Erstattung ausgeschlossen
sein sollen.
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Darum konnte es vorliegend indes nicht gehen, weil nicht die Verfassungsmäßigkeit
einer Rechtsform zu prüfen war, sondern die Bedeutung und die Wirksamkeit eine
vertraglichen Vereinbarung und das Vorliegen ihrer tatsächlichen Voraussetzungen. Es
muss davon ausgegangen werden, dass die Parteien die Geltung dieser
Vertragsklausel übereinstimmend gewollt haben. Das schließt nicht aus, bei
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Unklarheiten gemäß §§ 133, 157 BGB nach dem wirklichen Willen und dem objektiven
Erklärungsgehalt zu forschen. Dabei ist feststellen, dass die Beklagte zum Zwecke des
ökonomischen Umgangs mit den Beiträgen ihrer Mitglieder verpflichtet ist und ein
Interesse daran hat, die Erstattungsfähigkeit der Kosten von Heilbehandlungen dahin
einzugrenzen, dass nichts unwirksames verordnet werde und sie nicht das Risiko eins
ärztlichen medizinischen Experimentes oder medizinischer Forschung zu tragen habe.
Dem hat sie damit Rechnung getragen, dass sie einerseits auf der wissenschaftlichen
Herkunft der Behandlungsmethode besteht, andererseits den Bereich der
wissenschaftlichen Forschung und des Experimentes, dessen Arbeitshypothese sich
erst in der Zukunft bestätigt oder als falsch erweist, durch den Begriff der "allgemeinen
Anerkennung" ausklammert. Dieses Vorgehen ist nach Treue und Glauben nicht zu
beanstanden.
Es verbleibt die Frage, wann von einer allgemeinen Anerkennung gesprochen werden
kann. Auch diese Frage ist unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Diskussion
anders zu beurteilen als in der Erwägung der von Zwecken bestimmten
Parteiinteressen, wenn auch das eine im Bereich des anderen eine wesentliche Rolle
spielt. Für den Streit der Parteien kommt es dabei mehr darauf an, ob sich eine
Behandlungsmethode in der Schulmedizin und in der überwiegenden Praxis so
durchgesetzt und bewährt hat, dass nach der statistischen Wahrscheinlichkeit im
Einzugsbereich der Mitglieder der Beklagten und deren behandelnden Ärzte eine
beliebig reproduzierbarer therapeutischer Erfolg in der weitaus überwiegenden Zahl der
Fälle erreicht werden kann.
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Das hat die Klägerin mit dem durch seilangetretenen Beweis durch Sachverständigen-
Gutachten nicht bewiesen. Der Gutachter Prof. Dr. Dr. hat dazu ausgeführt, an der von
ihm vertretenen Universität würden seit 1970 Untersuchungen über die Wirksamkeit der
Aurikulo-Therapie durchgeführt. Zur Schmerzstillung sei man in fast 1000 Fällen
erfolgreich gewesen. Weitere Grundlagenforschungen würden in betrieben. Die Studien
würden auf Kongressen einem großen ärztlichen Interesse unterbreitet. Die
Universitäten und seien dabei, sich einzuarbeiten an 5 anderen Instituten und
Krankenhäusern der Bundesrepublik Deutschland werde das Verfahren ebenfalls
durchgeführt.
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Das Gutachten zeigt, dass diese Methode zur Analgesie und Therapie noch im Bereich
des Aufbaues, des Experimentes und der Forschung steht. Die wenigen führenden
Institutionen, die der Gutachter nennt, belegen auch die geringe quantitative
Ausbreitung und die daraus resultierende geringe Erfahrung der breiten Ärzteschaft.
Auch die Zahl von 1200 bis 1300 Akupunktur-Analgesien bis zum Beginn des Jahres
1976 zeigt die relativ geringe Höhe für eine statistische Signifikanz. Dieses
Beweisergebnis wird gestützt durch den unwidersprochenen und belegten Vortrag der
Beklagten, erst im Oktober 1977 sei ein informierendes Votum des Wissenschaftlichen
Beirats der Bundesärztekammer zu erwarten. Es wird weiterhin bekräftigt durch das dem
Gutachten vom Sachverständigen beigefügten Informationsmaterial, in dem er selbst
ausführt: " Ob sich diese Methode eingebürgert, das ist schlecht vorauszusagen... Es
bedarf dazu einer langjährigen Erfahrung... Sie (die medizinische Akupunktur) kann sich
nur dadurch abgrenzen, dass sie zunächst einmal die Akupunktur weiter erforscht und
den Medizinern... nahebringt." (Sonderdruck aus "Ärztliche Praxis" 28. Jahrgang, Nr. 82
vom 12. Oktober 1976, N2, Interview mit Prof. Dr. Dr. H Herget).
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Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 708 Nr. 11, 713 ZPO.
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