Urteil des AG Minden vom 13.03.2007

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Amtsgericht Minden, 32 F 53/07
Datum:
13.03.2007
Gericht:
Amtsgericht Minden
Spruchkörper:
Familiengericht
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
32 F 53/07
Tenor:
Den Kindeseltern wird die Gesundheitsfürsorge und das
Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen der Gesundheitsfürsorge für
das Kind X, geb. am 22.10.2002, entzogen und auf das Stadtjugendamt
der Stadt M., das insoweit als Pfleger bestellt wird, über-tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten werden
nicht erstattet.
G r ü n d e :
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I.
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Die Beteiligten zu 1. bis 2. sind die Eltern des betroffenen Kindes X. üben das
Sorgerecht gemeinsam aus.
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Am 18.08.2006 erlitt X. im Rahmen einer diagnostischen Maßnahme einen Herz-Atem-
Stillstand mit einem wahrscheinlich über mehr als 30 Minuten anhaltenden
Sauerstoffmangel. Der Sauerstoffmangel hat unter anderem zu einem hypoxischen
Hirnschaden geführt. Seit diesem Zeitpunkt befindet sich X. einem apallischen Zustand.
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Seit dem 11.09.2006 hält sich X. mit einer kurzen Unterbrechung als Patientin in der
Pädiatrie der Reha-Klinik in H. auf. Aufgrund einer durchgeführten
Rehabilitationsbehandlung mit pflegerischen, physiotherapeutischen,
heilpädagogischen und ärztlichen Maßnahmen besserte sich der ursprüngliche Zustand
von X. der trotz hoher Medikation von vegetativen Entgleisungen geprägt war, insoweit,
als sie diese überwinden konnte. X. leidet an schweren Tetraspastiken, die durch die
derzeitige Medikamentengabe in Form von Tabletten nicht ausreichend unter Kontrolle
gebracht werden können. Die Gliedmaßen von X. sind versteift.
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In den letzten Wochen verschlechterte sich der Zustand von X. dahingehend, dass die
vegetativen Phasen und die Schmerzphasen zugenommen haben.
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Bei Aufregungen und während einer Spastik lässt sie sich teilweise durch taktile Reize
beruhigen. Unklar ist, ob sie zeitweise in der Lage ist, Personen mit den Augen zu
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fixieren.
X. wird ausschließlich über eine transnasale Magensonde ernährt. Sie erhält
sedierende und schmerzlindernde Mittel, die die Schmerzen weitgehend, jedoch nicht
vollständig ausschließen können. Es ist zu vermuten, dass X. während eines
Krampfanfalles durchaus Schmerzen leidet. Zumindest stößt sie Klagelaute, die an ein
Weinen oder Schreien erinnern, aus. Bei entsprechender Pflege hat sie eine
Lebenserwartung von noch mehreren Jahren, wobei sich ihr Zustand nicht mehr
grundlegend ändert wird, da die Schädigung des Hirnes irreversibel ist.
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Die Eltern haben sich dazu entschlossen, X. mit nach Hause zu nehmen und die
Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr unter palliativ-medizinischer Betreuung durch einen
Facharzt zu beenden, was letztendlich zum Tode des Kindes führen soll.
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Sie vertreten die Auffassung, dass es dem Wohl von X. entspricht, sie "einschlafen" zu
lassen. Aufgrund der irreversiblen Hirnschädigung sei ein bewusstes Leben für X. nicht
mehr möglich und sie seien sich sicher, dass X. so nicht leben wolle.
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Mit Beschluss vom 24.01.2007 hat das Amtsgericht – Familiengericht – Minden den
Kindeseltern die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht im
Rahmen der Gesundheitsfürsorge für das Kind X. im Wege der einstweiligen Anordnung
vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache entzogen und auf das Jugendamt der
Stadt M., das insoweit zum Pfleger bestellt wurde, übertragen.
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Im Verhandlungstermin zur Hauptsache vom 13. März 2007 hat das Gericht die
Kindeseltern persönlich angehört. Die Verfahrenspflegerin von X. und der bestellte
Pfleger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Gericht hat im übrigen Beweis
erhoben durch uneidliche Vernehmung des sachverständigen Zeugen Herrn C.,
Bereichsleiter der Pädiatrie der Klinik H..
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Wegen der Einzelheiten des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll
der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2007 Bezug genommen.
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II.
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Die Entscheidung beruht auf § 1666 BGB.
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Nach dem Ergebnis der Anhörung der Beteiligten und der Vernehmung des Zeugen
Herrn C. ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass das Vorhaben der Eltern, X.
sterben zu lassen, eine Kindeswohlgefährdung darstellt.
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Die gemäß § 1666 BGB erforderliche missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge
setzt nicht voraus, dass es zum eigenen Vorteil und zur Befriedigung eigener Ziele
dient. So kann auch in Fällen wie diesem, in denen die Eltern davon überzeugt sind, sie
handelten zum Wohl des betroffenen Kindes, ein Sorgerechtsmissbrauch vorliegen.
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Die Kindeseltern haben nach Auffassung des Gerichts den ihnen nach § 1626 Abs. 1
BGB als Ausfluss des Grundrechts aus Artikel 6 GG eröffneten Ermessensspielraum im
Hinblick auf die Frage, ob eine ärztliche Behandlung fortgeführt oder abgebrochen
werden soll, durch ihr Vorhaben, X. den Abbruch der künstlichen Nahrungszufuhr
sterben zu lassen, überschritten. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der
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Sterbevorgang palliativmedizinisch begleitet werden soll, um X. schmerzfrei zu halten.
Grundsätzlich entscheiden die Eltern auch im Rahmen der Gesundheitsfürsorge
eigenständig, was sie für das Beste für ihr Kind erachten. Hier bedeutet die
Entscheidung der Eltern, die Zustimmung zur künstlichen Ernährung zu widerrufen, das
X. stirbt. Bei derart irreversiblen Entscheidungen muss genau überprüft werden, ob der
Rahmen des Elternrechts eingehalten wurde. Gesetzliche Vorgaben zur Frage der
Sterbehilfe für Fälle wie diese gibt es nicht.
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Bei der Frage, ob X. sterben darf, ist mithin nach Ansicht des Gerichts folgendes zu
berücksichtigen:
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Eine ärztliche Behandlung ist abzubrechen, wenn der einwilligungsfähige Patient seine
Einwilligung widerruft. Bei einwilligungsunfähigen Patienten entscheiden die
sorgeberechtigten Eltern oder bei Volljährigen die gegebenenfalls eingesetzten
Betreuer entsprechend dem zu ermittelnden mutmaßlichen Willen des Patienten.
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Da X. zum Zeitpunkt des Vorfalles erst 3 Jahre alt war, kann hier ein mutmaßlicher Wille
nicht ermittelt werden. Es reicht diesbezüglich auch nicht aus, dass die Eltern davon
überzeugt sind, dass X. ein solches Leben nicht hätte führen wollen.
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In solchen Fällen kann und muss nach der Entscheidung des BGH vom 13.09.1994
(NJW 1995, Seite 204 ff.) auf Kriterien zurückgegriffen werden, die den allgemeinen
Wertvorstellungen entsprechen (Erhebliche Bedenken äußernd allerdings OLG
Karlsruhe in seinem Beschluss vom 29.10.2001, 19 WX 21/01: der Rückgriff auf
Kriterien, die den allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen, erscheine mit der hohe
Bedeutung des Rechtsguts Leben nicht vereinbar). Welche diese Kriterien sind, führt der
BGH zumindest in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich aus. Jedenfalls aber verlangt
er, dass im Zweifel der Schutz des menschlichen Lebens Vorrang vor persönlichen
Überlegungen des Arztes oder der Angehörigen hat. Zu berücksichtigen sei zudem die
Aussichtslosigkeit der ärztlichen Prognose und wie nahe der Patient dem Tode sei. Sind
jedoch wesentliche Lebensfunktionen wie Atmung, Herzaktion und Kreislauf noch
erhalten, komme ein Abbruch der Behandlung nur in Betracht, wenn er dem
mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht (BGH NJW 1995, Seite 205).
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Nach dem Ergebnis der Anhörung und der Beweisaufnahme steht fest, dass X. zwar
einen irreversiblen hypoxischen Hirnschaden erlitten hat, der ein früheres "normales"
Leben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals möglich werden lässt.
Insoweit hat der Zeuge Herr C. ausgesagt, dass eine Verbesserung des Zustandes von
X. höchstens bedeuten könne, dass mit Hilfe einer verbesserten Medikation der
Teufelskreis von Schmerz und Spastik durchbrochen werden könne, was zu einer
größeren Zufriedenheit von X. und zu einer größeren Teilhabe auf einer basalen, nicht
aber kognitiven Ebene, an ihrer Umgebung führen könne.
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Jedenfalls sind unstreitig wesentliche Körperfunktionen erhalten geblieben:
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X. kann eigenständig atmen. Nierenfunktion, Herzfunktion und auch der Kreislauf
funktionieren. Sie benötigt zwar regelmäßig sedierende und schmerzstillende
Medikamente, leidet jedoch nur phasenweise an Schmerzen, sofern dies überhaupt
feststellbar ist.
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Der Zeuge Herr C. hat weiter ausgesagt, dass X. auf taktile Reize reagiere und sich
durch Berührungen beruhigen lasse. Den Kindeseltern zufolge gebe X. Klagelaute bei
Schmerzen oder Unwohlsein von sich. Dies konnte die Verfahrenspflegerin, Frau
Rechtsanwältin E., bestätigen. Überdies werde X., so die Verfahrenspflegerin, bei
unbekanntem Lärm unruhig. Fraglich ist, ob X. in der Lage ist, ihr gegenüber für kurze
Zeit mit den Augen zu fixieren. Hier klaffen möglicherweise Wunsch und Wirklichkeit der
mit X. befassten Menschen auseinander.
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X. habe – so der Zeuge Herr C. – bei entsprechender Pflege und künstlicher Nahrungs-
und Flüssigkeitszufuhr eine Lebenserwartung von mehreren Jahren.
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Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH und nach Abwägung des
Elternrechts aus Artikel 6 GG mit dem Recht des Kindes auf Leben aus Artikel 2 Abs. 2
GG und der Würde von X. aus Artikel 1 GG muss nach Auffassung des Gerichts bei
Abbruch der Behandlung eine Kindeswohlgefährdung angenommen werden. Bei X.
handelt es sich gerade nicht um ein willenloses passives Objekt der Intensivmedizin, die
ohne Sinn angewandt wird mit der Folge, dass ihre Würde gerade durch die
Behandlung verletzt würde (hierzu allgemein: Hufen in NJW 2001, Seite 849 (851)).
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X. ist nicht nur im biologischen Sinne noch am Leben, sondern nimmt in einer sehr
basalen - gesunden Menschen weitgehend verschlossen bleibenden – Art und Weise
(Beruhigen durch taktile Reize, Unruhe bei Lärm, Klagelaute bei Unwohlsein) am Leben
und ihrer Umgebung teil. Darüber hinaus ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass
sich ihr Zustand bei verbesserter Medikation bessern kann, wenngleich X. aufgrund der
Irreversibilität des Hirnschadens ihre kognitiven Fähigkeiten nicht wiedererlangen wird.
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Da die Eltern ihr Vorhaben, X. nach Hause zu nehmen, nur bis zum rechtskräftigen
Abschluss dieses Verfahrens ausgesetzt haben, grundsätzlich aber an der
Entscheidung festhalten, dass X. nicht mehr künstlich ernährt werden soll, war das
Sorgerecht im Hinblick auf die Gesundheitsfürsorge und das
Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen der Gesundheitsfürsorge den Kindeseltern zu
entziehen und auf einen Dritten zu übertragen.
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Die Übertragung ist auch verhältnismäßig. Weniger einschneidende Maßnahmen
kommen nicht in Betracht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 13 a FGG, § 94 KostO.
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