Urteil des AG Melsungen vom 04.07.2007

AG Melsungen: dolus eventualis, beleidigung, form, kennzeichen, verkehr, fahrzeug, geschwindigkeitskontrolle, messung, strafbefehl, behörde

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Gericht:
AG Melsungen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
44 Cs 9012 Js
44909/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 185 StGB
Beleidigung der Polizeibeamten an einer mobilen
Geschwindigkeitsmessstelle durch "Stinkefinger"
Tenor
Der Angeklagte wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die
Staatskasse.
Gründe
Der Angeklagte ist ... Jahre alt. Er ist ledig. Unterhaltsverpflichtungen bestehen
nicht. Monatlich verdient er 1.600,– Euro.
Mit Strafbefehl vom 03.04.2007 wurde dem Angeklagten vorgeworfen, am
05.12.2006 mit seinem Pkw BMW, amtliches Kennzeichen ... auf der N Straße in K,
als er auf die von dem Zeugen ... betriebene mobile Geschwindigkeitsmessanlage
zufuhr, deutlich sichtbar den Mittelfinger der rechten und der linken Hand in
Richtung der Messanlage gehalten und dadurch eine Beleidigung begangen zu
haben. Gegen den Strafbefehl hat der Angeklagte durch Schriftsatz seines
Verteidigers vom 19.04.2007 form- und fristgerecht Einspruch eingelegt.
Von dem Vorwurf der Beleidigung war der Angeklagte nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme aus tatsächlichen Gründen freizusprechen, da ihm nicht mit der
erforderlichen Sicherheit zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden
konnte, dass er vorsätzlich handelte.
Nach der durchgeführten Beweisaufnahme ist zur Überzeugung des Gerichts von
folgendem Sachverhalt auszugehen:
Der Angeklagte befuhr am 05. Dezember 2006 gegen 13.18 Uhr mit seinem Pkw,
amtliches Kennzeichen ... auf der N Straße in K. Er näherte sich der dort
aufgestellten mobilen Radaranlage, die von dem Zeugen ... betrieben wurde. Bei
der Radaranlage handelte es sich nicht um ein "Blitzgerät". Vielmehr zeichnet die
Radaranlage mittels einer Videokamera den gesamten auffließenden Verkehr auf,
wobei zusätzlich die jeweils gefahrene Geschwindigkeit angezeigt wird. Der
Angeklagte ging, als er an der Radaranlage vorbeifuhr und diese erkannte, davon
aus, dass es sich um eine "übliche Blitzanlage" handelt und nur solche
Verkehrsteilnehmer aufgezeichnet werden, die geblitzt wurden und die zulässige
Höchstgeschwindigkeit überschritten hatten. Der Angeklagte fuhr bei der
fraglichen Fahrt nicht mit überhöhter Geschwindigkeit, so dass er davon ausging,
dass sein Fahrzeug auch nicht aufgezeichnet wurde. Als er die mobile Radaranlage
passierte, hielt er beide Hände am Lenkrad, wobei jedoch deutlich sichtbar jeweils
die Mittelfinger beider Hände nach oben gestreckt wurden und der Angeklagte in
Richtung Kamera schaute. Zum Zeitpunkt des Vorbeifahrens an der Radaranlage
konnte der Angeklagte den die Messung durchführenden Beamten nicht sehen.
Dieser befand sich in dem Fahrzeug und bediente die Kamera, was jedoch von
außen für den Angeklagten nicht sichtbar war. Beim späteren Auswerten des
Filmmaterials bemerkte der Zeuge ..., dass der Angeklagte mit zwei
ausgestreckten Mittelfingern an der Kamera vorbeigefahren ist und wertete dies
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ausgestreckten Mittelfingern an der Kamera vorbeigefahren ist und wertete dies
als Beleidigung. Der erforderliche Strafantrag wurde gemäß § 194 Abs. 3 StGB
durch die Behörde – hier der Bürgermeister der Stadt M – form- und fristgerecht
gestellt.
Der oben festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus den Angaben des Angeklagten,
soweit ihnen gefolgt werden konnte, den uneidlichen Aussagen des Zeugen ...
sowie den vorgelegten Fotos, die den Angeklagten zum Zeitpunkt des
Vorbeifahrens an der Geschwindigkeitsmessanlage zeigen. Soweit sich der
Angeklagte dahingehend eingelassen hat, dass er mit seinen Fingern zur Musik auf
dem Armaturenbrett getrommelt habe, sodass die Haltung seiner Finger rein
zufällig entstanden sei, ohne dass er die Geschwindigkeitskontrolle erkannt hätte
und jemanden habe beleidigen wollen, ist dies nach Auffassung des Gerichts als
reine Schutzbehauptung zu werten. Diesbezüglich bleibt zunächst das Bildmaterial
zu berücksichtigen, welches eindeutig zeigt, dass der Angeklagte sich der
Geschwindigkeitsmessung nähert, in diese Richtung sieht und dann die Finger in
der oben beschriebenen Art und Weise in Richtung des Radargerätes und der
Kamera hält. Ein Trommeln ist gerade nicht zu erkennen, zumal sich dann auch
die Fingerposition während des Vorbeifahrens verändern müsste, was gerade nicht
der Fall ist.
Auf Grund des oben festgestellten Sachverhaltes kam nach Auffassung des
Gerichts eine Verurteilung wegen Beleidigung nicht in Betracht. Unabhängig von
der zumindest in der Kommentarliteratur umstrittenen Frage, ob die Geste des
sogenannten "Stinkefingers" heute noch in jedem Fall in breiten
Bevölkerungskreisen einen beleidigenden Charakter hat oder ob hiermit vielmehr
nicht lediglich demonstrative Schadensfreude zum Ausdruck gebracht werden soll
(vgl. hierzu Tröndle/Fischer, Kommentar zu Strafgesetzbuch, 52 Auflage, § 185,
Randnummer 17), scheitert hier nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung
wegen Beleidigung daran, dass der Nachweis des subjektiven Tatbestandes nicht
geführt werden kann.
Vorsatz muss das Bewusstsein umfassen, dass die beleidigende Äußerung bzw.
hier die beleidigende Handlung auch von anderen wahrgenommen wird. Die
Beleidigung "im stillen Kämmerlein" stellt daher grundsätzlich keine Beleidigung
dar. Hier ist dem Angeklagten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch
nicht zu widerlegen, dass er davon ausging, dass er bei dem Vorbeifahren an der
Radaranlage gerade nicht gefilmt wird, sodass er nicht davon ausgehen konnte,
dass ein Dritter seine beleidigenden Gesten wahrnimmt. Insoweit unterscheidet
sich der vorliegend festgestellte Sachverhalt auch von dem, der der Entscheidung
des BayObLG vom 23.2.2000 zugrunde lag. Dort ging das Gericht davon aus, dass
der Angeklagte wusste, dass der Vorgang aufgezeichnet wurde, so dass das
BayOblG nachvollziehbar ihn auch verurteilte (vgl. BayOblG NZV 2000, 337).
Vorliegend war dem Angeklagten jedoch die Unkenntnis davon, dass er bei seiner
beleidigenden Geste mittels Kamera aufgezeichnet wurde, nicht zu widerlegen. Die
Ausführungen des Angeklagten hält das Gericht auch für glaubhaft, da die Art und
Weise der Geschwindigkeitsmessung wie sie vorliegend durchgeführt wurde,
insbesondere dass der gesamte auffließende Verkehr gefilmt wird, sicher nicht
allgemein bekannt sein dürfte. Vielmehr dürfte die von dem Angeklagten
dargelegte Auffassung, dass man nur bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung
aufgezeichnet und geblitzt wird, den in großen Bevölkerungskreisen als üblich
geglaubten Ablauf einer Geschwindigkeitskontrolle entsprechen. Ist dem
Angeklagten jedoch nicht zu widerlegen, dass er davon ausging, dass er nicht
gefilmt wurde, so konnte ihm weiter auch nicht unterstellt werden, dass er
Kenntnis davon hatte, dass – wie hier – später bei der Auswertung und Sichtung
des Filmmaterials eine dritte Person seine beleidigenden Gesten wahrnahmen
werde. War dies nach seiner eigenen und insoweit allein maßgeblichen Vorstellung
allerdings ausgeschlossen, so hat dies ebenfalls zur Folge, dass es an einem
"Kundgabevorsatz" bezüglich der Beleidigung bei dem Angeklagten fehlt, sodass
der Vorsatz insgesamt abzulehnen ist. Insoweit reicht auch der Hinweis auf den
"dolus eventualis" nicht aus, um den Vorsatz hier zu bejahen, da nach oben
Festgestelltem dem Angeklagten auch nicht unterstellt werden kann, dass er
zumindest billigend in Kauf nahm, dass der die Geschwindigkeit messende Beamte
seine Geste wahrnahm. Zum einen konnte er den Beamten gar nicht wahrnehmen
und zum anderen nach seiner Vorstellung von dem Ablauf der Messung auch
davon ausgehen, dass dieser nur den Fahrzeugen Beachtung schenkt, die die
Geschwindigkeit überschreiten. Vorsatz kann daher auch in der Form des "dolus
eventualis" dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden, sodass er mit der
Kostenfolge des § 467 Abs. 1 StPO freizusprechen war.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.