Urteil des AG Marburg vom 26.01.2006

AG Marburg: internationale zuständigkeit, gerichtliche zuständigkeit, schutz der gläubiger, sitz im ausland, lex fori, erläuternder bericht, anwendungsbereich, vollstreckung, verordnung, belgien

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Gericht:
OLG Frankfurt 15.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
15 U 200/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 1 Abs 2 Buchst b EGV
44/2001, Art 2 Abs 1 EGV
44/2001, Art 3 Abs 1 EGV
1346/2000, § 129 InsO, §§
129ff InsO
(Europäische Insolvenz: Internationale Zuständigkeit für
Insolvenzanfechtungsklagen des Insolvenzverwalters)
Gründe
Der Kläger nimmt als Insolvenzverwalter über das Vermögen der A GmbH (im
Folgenden: Gemeinschuldnerin) die beklagte Gesellschaft belgischen Rechts
aufgrund Insolvenzanfechtung in Anspruch.
Die Gemeinschuldnerin mit Sitz in O1, eingetragen im Handelsregister des
Amtsgerichts Frankenberg unter HRB …, betrieb in ca. 200 Großflächenmärkten in
ganz Deutschland den Handel mit Heimwerkerbedarf, insbesondere
Wandbekleidungen und Bodenbelägen. Im Jahr 2001 kam es zu erheblichen
Geschäftsverlusten und Umsatzeinbrüchen. Die finanzielle Lage des
Unternehmens war derart angespannt, dass die Gesellschaft nicht mehr in der
Lage war, die laufenden Kosten aus den erwirtschafteten Umsätzen zu erbringen.
Ende 2001 bis März 2002 wurden der Gemeinschuldnerin die dafür erforderlichen
Mittel durch eine Ihrer Hauptgesellschafterinnen, die B mit Sitz in O2, Belgien, zur
Verfügung gestellt. Am 11. 03. 2002 teilte die B mit, keine weitere finanzielle
Unterstützung zu gewähren. Auch die weitere Hauptgesellschafterin, die C KGaA,
lehnte die Bereitstellung von finanziellen Mitteln mit Schreiben vom 11. März 2002
ab. Der von der Geschäftsleitung der Gemeinschuldnerin vorgelegte
Sanierungsplan wurde als zu kostenintensiv und risikobehaftet zurückgewiesen.
Am 14. März 2002 tätigte die Gemeinschuldnerin auf elektronischem Wege eine
Sammelüberweisung von ihrem Konto … der Sparkasse O3 von vier Teilbeträgen
zu insgesamt 210.000,00 €. Eine Überweisung in Höhe von 50.000,00 € erfolgte
auf das Konto der Beklagten mit der Konto Nummer … bei der D Bank mit Sitz in
O4. Am 15. März 2002 stellte die Gemeinschuldnerin bei dem Insolvenzgericht
Marburg Insolvenzantrag, mit der Begründung sie könne ihre Verbindlichkeiten
nicht mehr erfüllen. Mit Beschluss vom gleichen Tage wurde gemäß §§ 21, 22 InsO
durch das Insolvenzgericht – Amtsgericht Marburg – zur Sicherung der Masse die
vorläufige Verwaltung des Vermögens der Gemeinschuldnerin angeordnet und der
Kläger zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Mit Beschluss vom 01. 06. 2002
ordnete das Amtsgericht Marburg – Insolvenzgericht – die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gemeinschuldnerin an.
Der Kläger forderte die Beklagte unter Anfechtung der Zahlung vom 14. März 2003
zur Rückzahlung der überwiesenen 50.000,00 € bis 19. Mai 2004 auf. Dem kam die
Beklagte nicht nach.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, das Landgericht Marburg sei international
und national örtlich zur Entscheidung des Rechtsstreits zuständig. Die
Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen (EUGVÜ) v. 09. 10. 1978 wie auch das Lugano-Übereinkommen
über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 16. 9. 1988 (BGBl. 1994 II 2658)
seien nicht mehr anwendbar. Vielmehr seien die – wortgleichen – Bestimmungen
der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. 12. 2000 des Rates über die gerichtliche
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der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. 12. 2000 des Rates über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil-
und Handelssachen (Abl. EG Nr. L 12 v. 16. 01. 2001 S. 1 ff.) (im Folgenden:
EuGVVO) maßgebend. Die Bestimmungen der EuGVVO seien jedoch bei
insolvenzrechtlichen Anfechtungsklagen gemäß Art 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO nicht
anwendbar. Auch aus Art 3 Abs. 1 EuInsVO (Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des
Rates vom 29. 05. 2000 über Insolvenzverfahren (Abl. EG L 160 vom 29. 5. 2000 S.
1) folge keine abweichende internationale Zuständigkeit. Die Bestimmungen der
EuInsVO seien nach Art 43 S. 2 EuInsVO auf die am 14. 03. 2002 – vor Inkrafttreten
der EuInsVO - unternommenen Rechtshandlungen nicht anzuwenden. Demgemäß
bestimme sich mangels anderweitig positiv rechtlicher Ausgestaltung die
internationale Zuständigkeit nach dem innerstaatlichen Internationalen
Privatrecht. Danach bestehe eine internationale Notzuständigkeit des
Landgerichts Marburg; denn weder in Deutschland (§§ 13, 17, 32 ZPO) noch in
Belgien sei durch das Prozessrecht ein Gerichtsstand begründet. Nach belgischen
Prozessrecht erfolge gemäß Art 574 Abs. 2 und 631 der Belgischen
Gerichtsordnung eine Rückverweisung des Rechtsstreits an den Sitz des
Insolvenzgerichts (lex fori concursus).
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger als Insolvenzverwalter über das
Vermögen der A GmbH 50.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % - Punkten über
dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. Mai 2004 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass die internationale Zuständigkeit der belgischen Gerichte
für den Rechtsstreit begründet sei. Dies ergebe sich aus Art 2 EuGVVO i.V.m. Art 1
Abs. 1 EuGVVO. Ein Ausschlussgrund nach Art 1 Abs. 2 Lit.b EuGVVO liege nicht
vor. Vielmehr handele es sich bei dem hier geltend gemachten Anspruch aus
Insolvenzanfechtung um einen zivilrechtlichen und nicht um einen
insolvenzrechtlichen Rechtsstreit. Die Bestimmungen der EuInsVO begründeten
keine Zuständigkeit bei einer Insolvenzanfechtungsklage. Die Beklagte beruft sich
im übrigen auf die Verjährung des Klageanspruchs.
Die 2. Zivilkammer des Landgerichts Marburg hat mit Urteil vom 2. August 2005
die Internationale Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland und damit des
Landgerichts Marburg für den Rechtsstreit verneint und die Klage als unzulässig
abgewiesen. Zwar sei die EuGVVO gemäß § 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO nicht
anwendbar. Eine Notzuständigkeit der deutschen Gerichte sei aber nicht gegeben,
weil den belgischen Gerichten aufgrund der Bindung an das höherrangige
Europäische Recht eine Rückverweisung nicht möglich sei. Aus Art 18 Abs. 2
EuInsVO ergebe sich eine Klagebefugnis des Insolvenzverwalters in Belgien.
Der Kläger hat gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 4. August 2005
zugestellte Urteil am 5. September 2005 Berufung eingelegt und diese am 23.
September 2005 begründet.
Er rügt die Verletzung formellen Rechts und vertritt unter Ergänzung seines
erstinstanzlichen Vorbringens die Ansicht, das Landgericht Marburg sei aufgrund
einer internationalen Notzuständigkeit zur Entscheidung des Rechtsstreits berufen.
Die Bestimmung des Art 18 Abs. 2 EuInsVO sei nicht anwendbar, weil sie nur im
Rahmen eines hier nicht vorliegenden Partikularinsolvenzverfahrens nach Art 3
Abs. 2 S. 2 EuInsVO Rechte des Insolvenzverwalters begründe und keine
Kompetenzzuweisung an das angerufenen Gericht enthalte. Selbst wenn die
EuInsVO auf die am 14. 03. 2002 erfolgten Rechtshandlungen anwendbar wäre –
was im Hinblick aus Art 43 S. 2, 47 EuInsVO nicht zutreffe -, sei nach Art 3 Abs. 1
EuInsVO die Zuständigkeit des Landgerichts Marburg am Sitz des
Insolvenzgerichtes auch für Annexverfahren wie die Insolvenzanfechtungsklage
gegeben.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des am 2. August 2004 verkündeten Urteils der 2.
Zivilkammer des Landgerichts Marburg – 2 O 209/04 - zu verurteilen, an den
Kläger als Insolvenzverwalter über das Vermögen der A GmbH 50.000,00 € nebst
Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Mai
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Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Mai
2004 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil.
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung hat in der Sache keinen
Erfolg.
Die Zivilkammer hat im Ergebnis zurecht entschieden, dass das Landgericht
Marburg für die Entscheidung der von dem Kläger gegen die Beklagte erhobenen
Rückgewähransprüche aus Insolvenzanfechtung nicht zuständig ist.
Die internationale Zuständigkeit bestimmt sich für den hier geltend gemachten
Anspruch aus Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO nach den Regelungen
der EuGVVO; denn es handelt sich um einen Rechtsstreit auf dem Gebiet des Zivil-
und Handelsrechts, Art. 1 Abs. 1 EuGVVO. Nach Art. 2 Abs. 1 EuGVVO ist
maßgebend, ob das verklagte Unternehmen einen Sitz oder eine Niederlassung
im Inland hat. Dies ist nicht der Fall. Die Beklagte hat ihren Geschäftssitz in O5,
Belgien.
Nach Art 5 Abs. 1 Ziff. 3 EuGVVO ist ebenfalls kein Gerichtsstand im Inland
begründet; denn der Kläger trägt keinen Sachverhalt vor, aus dem sich eine
Haftung aus deliktischem oder quasi deliktischem Handeln der Beklagten ergeben
könnte. Er macht lediglich geltend, dass die Gemeinschuldnerin die
Sammelüberweisungen getätigt habe und die Beklagte - in Kenntnis der
Überschuldung der Gemeinschuldnerin - die Zahlungen in Empfang genommen
habe. Schlüssiger Vortrag für einen Anspruch aus § 826 BGB ist nicht gehalten und
offensichtlich auf nicht beabsichtigt. Es fehlt an der Darlegung einer vorsätzlichen
Gläubigerbenachteiligung bzw. sittenwidrigen Schädigung.
Die Bestimmungen der EuGVVO sind nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 EuGVVO auch
anzuwenden. Der vorliegende Rechtsstreit ist ein solcher auf dem Gebiet des Zivil-
und Handelsrechts. Die Anwendung der EuGVVO ist nicht durch die Regelung des
Art 1 Abs. 2 lit b EuGVVO ausgeschlossen. Nach dieser Bestimmung ist die
EuGVVO nicht auf Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren anzuwenden. Indes
zählt die Insolvenzanfechtung nicht zu den ausgenommene Verfahren. Vielmehr
handelt es sich hier um ein Einzelverfahren, das lediglich als Annex zu der
Anordnung des Insolvenzverfahrens dem Insolvenzverwalter zur Verwirklichung der
Ziele des Insolvenzverfahrens die Rückforderung von durch die Gemeinschuldnerin
vor Insolvenzeröffnung fortgegebenen Vermögensgegenständen ermöglicht.
Bei der Auslegung des Art 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO ist eine einheitliche
gemeinschaftsrechtliche Definition des Regelungsbereiches zu entwickeln. Nicht
das Recht des jeweiligen Mitgliedsstaates ist für die Begriffsbildung maßgebend,
sondern es sind die Zielsetzungen und die Systematik des Übereinkommens
sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die die Gesamtheit der innerstaatlichen
Rechtsordnungen ergeben, heranzuziehen (vgl. EuGH 14. 10. 1976 – Rs 29/76
LTU/Eurocontrol Slg. 1976, 1541, 1550 Nr. 3). Bei der Auslegung ist zu
berücksichtigen, dass es sich bei dem in Art 1 Abs. 2 EuGVVO bestimmten
Ausschluss von Rechtsgebieten um Ausnahmetatbestände handelt. Dies folgt aus
der enumerativen Aufzählung der von der Anwendung der EuGVVO
auszuschließenden Rechtsgebiete. Zudem legt die generalklauselartige
Bestimmung des Art 1 Abs. 1 EuGVVO eine Interpretation nahe, welche die durch
die EuGVVO angestrebte umfassende Vereinheitlichung der Regelungen in der
Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Zivil- und Handelsstreitigkeiten
berücksichtigt. Diese Zielvorstellung ist den Erwägungsgründen der Präambel zur
EuGVVO zu entnehmen. Nach Absatz 7 der Präambel zur EuGVVO soll der
Anwendungsbereich der Verordnung sich, von einigen genau festgelegten
Rechtsgebieten abgesehen, auf den wesentlichen Teil des Zivil- und Handelsrechts
erstrecken, um das nach Absatz 2 der Präambel zur EuGVVO formulierte Ziel einer
Vereinheitlichung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit auf dem
Gebiet des Zivil- und Handelsrechts zu erreichen. Diese Vorgaben sind nur bei
einem möglichst umfassenden Anwendungsbereich des Regelungswerkes zu
erzielen.
Diesen Erwägungen folgend ist der Begriff des „Konkursverfahrens“ im Rahmen
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Diesen Erwägungen folgend ist der Begriff des „Konkursverfahrens“ im Rahmen
des den Anwendungsbereich der EuGVVO beschränkenden Art 1 Abs. 2 lit b
EuGVVO eng auszulegen. Es sind nur solche Verfahren, welche die Anordnung
eines solchen Konkurses selbst zum Gegenstand haben, als nicht von dem
Ausnahmetatbestand erfaßt anzusehen. Demgemäß sind nur die
insolvenzrechtlichen Sammelverfahren von dem Anwendungsbereich der EuGVVO
auszunehmen, die nach dem jeweiligen Recht der Mitgliedstaaten auf der
Zahlungsunfähigkeit, Zahlungseinstellung oder Kreditunwürdigkeit des jeweiligen
Schuldners beruhen und zur kollektiven zwangsweisen Liquidierung des
Vermögens oder lediglich zu einer Kontrolle der Betätigung des Schuldners durch
die Gerichte führen (vgl. EuGH 22. 2. 1979 – RIW 1979, 273; BGH RIW 1980, 81; NJW
1990, 991, 991; Geimer in Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Auflg. Art 1
EuGVVO Rn. 129). Zu derartigen Verfahren zählt auch das durch die Regelungen
der Insolvenzordnung bestimmte Insolvenzverfahren.
Die in §§ 129 ff. InsO bestimmte Insolvenzanfechtung stellt hingegen ein
kontradiktorisches Parteiverfahren dar, das zwar unmittelbar aus dem
Insolvenzverfahren hervorgeht und zudem mit dem Insolvenzverfahren in engem
und unmittelbarem Zusammenhang steht, weil es die Kontrolle und die kollektive
zwangsweise Liquidierung von Vermögen zum Schutz der Gläubiger ermöglicht,
indem weggegebene Vermögensgegenstände wieder zur Masse gezogen werden
können und der Aufsicht durch den Insolvenzverwalter unterstellt werden. Dies
rechtfertigt es aber nicht die Insolvenzanfechtung aus dem Regelungsbereich der
EuGVVO nach Art 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO auszunehmen. Vielmehr steht die
gebotenen enge Auslegung des Ausnahmetatbestandes einer dahingehenden -
teleologisch motivierten Ausdehnung des Regelungstatbestand des Art 1 Abs. 2 lit
b EuGVVO entgegen (a.A. EuGH RIW 1979, 221; BGH NJW 1990, 991; OLG Frankfurt
NJW 1978, 221 ff. zu der wortgleichen Regelung des Art 1 Abs. 2 lit. b
EuGVÜ/Luganer-Abkommen). Die eng und in unmittelbaren Zusammenhang mit
dem Insolvenzverfahren stehenden Einzelverfahren – auch die
Insolvenzanfechtung – unterfallen nicht dem Ausschlusstatbestand des Art 1 Abs.
2 lit b EuGVVO (vgl. Geimer in Europ. Zivilverfahrensrecht , Art 1 Rn 128; Reinhart,
Müko-Insolvenzrecht III, Art 3 EuInsVO Rz. 4; Baumbach/Lauterbach, ZPO 61. Auflg.
Rz. 8 zu Art 1 EuGVÜ mwN.).
Dies ergibt sich insbesondere aus der bei der Auslegung der Reichweite des
Ausschlusstatbestandes nach Art 1 Abs.2 lit. b EuGVVO heranzuziehenden
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. 05. 2000 über
Insolvenzverfahren (Abl. EG L 160 vom 29. 5. 2000 S. 1). Die EuInsVO war zum
Zeitpunkt der zu den - mit Art 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO wortgleichen – Regelungen
des Art 1 Abs. 2 Ziff 2 Lugano – Übereinkommens vom 16. 9. 1988 (BGBl. 1994, II
S. 2658) bzw. des Art 1 Abs. 2 Ziff. 2 Brüsseler Übereinkommens über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in
Zivil- und Handelssachen idF. der Beitrittsabkommen vom zuletzt 29.11. 1996
(EuGVÜ) – ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des
Bundesgerichtshofes nicht bekannt oder im Entwurf vorhanden. Zielsetzung der
EuInsVO ist nach dem Erwägungsgrund Ziffer 2 der Präambel zur EuInsVO die
Verwirklichung eines reibungslos funktionierenden Binnenmarktes durch effiziente
und wirksame Regelung grenzüberschreitender Insolvenzverfahren. Dieses Ziel soll
nach Erwägungsgrund 8 der Präambel zur EuInsVO auch durch Bestimmungen
über den Gerichtsstand erreicht werden. Dazu will die Verordnung nach Ziffern 6
und 15 der Präambel EuInsVO die internationale Zuständigkeit festlegen, dass
heißt, die Mitgliedsstaaten benennen, deren Gerichte Insolvenzverfahren eröffnen
dürfen. Dabei wird in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine
umfassende Regelung für den Bereich des Insolvenzverfahrens angestrebt.
Demgemäß ist eine Auslegung des Art 1 Abs.2 lit. b. EuGVVO angezeigt, die dieser
Bedeutung der EuInsVO als Regelung der internationalen Zuständigkeit auf dem
Gebiet der Insolvenzverfahren Rechnung trägt. Wie bereits ausgeführt wird mit der
EuGVVO die Intention einer umfassenden Vereinheitlichung der Regelungen über
die internationale Zuständigkeit auf dem Gebiet des gesamten Zivil- und
Handelsrechts verfolgt. Da das Insolvenzverfahren ein besondere Teil des
Zivilrechts ist und die Regelungen der EuInsVO gerade die internationale
Zuständigkeit der Gerichte in diesem Bereich regeln will, besteht zwischen den
Verordnungen ein abgestuftes Verhältnis, wobei die EuGVVO die allgemeinen
Vorschriften für alle Zivil- und Handelsrechtsstreitigkeiten normiert und die
EuInsVO als lex specialis den besonderen Bereich des Insolvenzrechts abdeckt. Die
Auslegung der Bestimmung des Art 1 Abs. 2 lit. b. EuGVVO hat dem Rechnung zu
tragen. Die durch die EuInsVO getroffenen Regelungen für das Insolvenzverfahrens
sind - weil spezieller - aus dem Anwendungsbereich der EuGVVO auszunehmen.
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sind - weil spezieller - aus dem Anwendungsbereich der EuGVVO auszunehmen.
Fehlt es an einer speziellen Regelung ist auf die allgemeinen Bestimmungen der
EuGVVO zurückzugreifen. Der Art 1 Abs. 2 lit b. EuGVVO bringt dieses abgestufte
Verhältnis zum Ausdruck: Die Ausschlußregelung ist so auszulegen, dass die
Regelungen der EuGVVO nur dann Platz greifen sollen, wenn die speziellere
EuInsVO in ihrem Anwendungsbereich nicht betroffen ist (vgl. Geimer in Zöller-ZPO
25. Auflg. Art 1 EuGVVO Rz. 35; ders. Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2.Auflg.
Art 1 EuGVVO Rz. 128; Reinhart, MüKo-Insolvenzrecht III, Art 25 EuInsVO Rz. 6/7; ;
Virgos Schmitt, Erläuternder Bericht Rn. 197; Duursma-
Kepplinger/Duursma/Chalupsky, Europäische Insolvenzordnung 2002, Art 25 Rz. 13
ff.).
Die EuInsVO regelt indes für die Insolvenzanfechtungsklage keine internationale
Zuständigkeit. Die Bestimmung des insoweit einschlägigen Art 3 Abs. 1 S. 1
EuInsVO begründet lediglich für die „Eröffnung des Insolvenzverfahrens“ eine
internationale Zuständigkeit der Gerichte desjenigen Mitgliedsstaats, in dessen
Gebiet der Gemeinschuldner den Mittelpunkt seiner Interessen hat. Der klare
Wortlaut der Regelung ist – entgegen einer vielfach vertretenen Ansicht - keiner
Auslegung zugänglich, welche die gebotene Harmonisierung der EuGVVO mit den
Bestimmungen der EuInsVO zur Vermeidung von Regelungslücken durch eine
Einbeziehung auch anderer sich im Zusammenhang mit der Insolvenz ergebender
Klagen in den Anwendungsbereich des Art 3 Abs. 1 EuInsVO herbeizuführen sucht
(so Virgos/Schmitt aaO Rn. 77; Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky,
Europäische Insolvenzordnung 2002, Art 25 Rz. 48; Haubold Iprax 2002, 159).
Insbesondere legt auch der Erwägungsgrund Ziff. 6 der Präambel zur EuInsVO
keine extensive Interpretation der EuInsVO zwingend nahe, wonach die EuInsVO
auch Regelungen für Entscheidungen treffen soll, die aufgrund des
Insolvenzverfahrens ergehen und in engem und unmittelbarem Zusammenhang
mit diesem stehen. Durch diesen Erwägungsgrund kann auch das Normziel einer
einheitlichen Anerkennung und Vollstreckung derartiger Entscheidungen
angesprochen sein. Der Verordnungsgeber hat jedenfalls mit der Regelung des Art
3 Abs. 1 EuInsVO eine Bestimmung über die internationale Zuständigkeit
geschaffen, die nach ihrem Wortlaut keine Kompetenzregelung für die hier
angesprochenen Annexverfahren – insbesondere die Insolvenzanfechtungsklage -
enthält. Vielmehr beschränkt sich die Regelung auf die internationale
Zuständigkeit für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Art 3 Abs. 1 EuInsVO) und
der Partikularinsolvenzverfahren (Art 3 Abs. 2 EuInsVO). Für eine über diesen
Wortlaut hinausgehende Erstreckung ihres Anwendungsbereiches auf
Annexverfahren zur gebotenen lückenlosen Harmonisierung der EuGVVO und
EuInsVO im Wege der analogen Anwendung des Art 3 Abs. 1 EuInsVO auf
Insolvenzanfechtungsklagen besteht kein Bedürfnis. Es fehlt insoweit an einer
planwidrigen Regelungslücke. Soweit die speziellere Regelung der EuInsVO keine
Reglung trifft, kann zwanglos – und dies gilt für die hier verfolgte
Insolvenzanfechtungsklage - auf die allgemeineren Bestimmungen des Art 1 Abs.
1 EuGVVO zurückzugreifen werden. Dazu ist - wie oben ausgeführt – die
Bestimmung des Art 1 Abs. 2 Lit b EuGVVO lediglich entsprechend dem
Normverhältnis von EuGVVO und EuInsVO auszulegen (vgl. Geimer in
Europäisches Zivilverfahrensrecht 2. Auflg. Art 1 EuGVVO Rz. 129; ders. Zöller ZPO
25. Auflg. Art 1 EuGVVO Rz. 35 ff; Reinhart, Müko- Insolvenzrecht III, Art 3 Rz. 4, Art
25 EuInsVO Rz. 6 ff.; Schlosser, EU-Zivilprozeßrecht, 2. Auflg. Rz. 21e). Für diese
Interpretation spricht auch die Systematik der Regelungen der EuInsVO. Diese
steht einer analogen oder auch nur extensiven Auslegung des Art 3 Abs. 1
EuInsVO entgegen. So sieht Art 18 Abs. 2 S. 2 EuInsVO für Partikularverfahren
nach Art 3 Abs. 2 EuInsVO – Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens neben
dem Hauptverfahren oder unabhängig von diesem, wenn es am Hauptsitz des
Gemeinschuldners nicht zur Eröffnung kommt – eine Regelung über die
Zuständigkeit und Klagebefugnis bei Insolvenzanfechtungsklagen in einem
anderen Staat als dem des Partikularverfahrens vor. Die ausdrückliche Erwähnung
der „Anfechtungsklage“ verdeutlicht , dass der Verordnungsgeber bei Abfassung
der EuInsVO das Problem etwaiger Annexverfahren – Insolvenzanfechtungsklagen
– erkannt hatte. Eine planwidrige Regelungslücke die durch eine analoge
Anwendung des Art 3 Abs. 1 EuInsVO auf Annexverfahren zu schließen wäre, ist
danach nicht begründet. Zudem würde die erweiterte Auslegung des Art 3 Abs. 1
EuInsVO zu einer vis attractiva concursus führen, die für alle im engen und
unmittelbaren Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren stehenden Klagen
eine Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit des Mitgliedsstaats begründen würde, in
dem das Insolvenzverfahren durchgeführt wird. Dies sieht die Verordnung, wie die
Regelung des Art 18 Abs. 2 S. 1 EuInsVO zeigt, nicht vor (vgl. Reinhart, aaO Art 25
Rz 6 ff.; Geimer aaO, Art 1 Rz. 128). Lediglich in Art 25 Abs. 1 EuInsVO sind
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Rz 6 ff.; Geimer aaO, Art 1 Rz. 128). Lediglich in Art 25 Abs. 1 EuInsVO sind
Regelungen hinsichtlich der im engen und unmittelbaren Zusammenhang mit dem
Insolvenzverfahren stehende Einzelverfahren – wie der Insolvenzanfechtungsklage
- normiert. Diese betreffen – in Korrespondenz mit der hier angeführten
Überlegung zur Auslegung des Erwägungsgrundes Ziff 6 der Präambel zur EuInsVO
- die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, die im engen und
unmittelbaren Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren stehen. Nur insoweit
werden diese nach Art 31 ff. EuGVÜ und über die Verweisungsnorm des Art 68
Abs. 2 EuGVÜ den Regelungen der Art 31ff EuGVVO unterstellt, ohne dass zugleich
die internationale Zuständigkeit für diese Entscheidungen durch die EuInsVO
positiv geregelt wäre (vgl. Reinhart aaO, Art 25 EuInsVO Rz 6).
Die Regelungen der EuInsVO sind auf den von dem Kläger vorgetragen
Sachverhalt auch in zeitlicher Hinsicht anzuwenden. Dies kann nach Art 43 S. 2
EuInsVO zweifelhaft sein, weil die Rechtshandlungen, die nach dem Vorbringen des
Klägers die Insolvenzanfechtung begründen sollen, am 14. März 2002
vorgenommen wurden und Art 43 S. 2 EuInsVO die Fortgeltung der bisherigen
Rechtsgrundlagen auf vor Inkrafttreten der EuInsVO vorgenommene
Rechtshandlungen bestimmt. Art 43 S. 2 EuInsVO ordnet indes lediglich die
Fortgeltung materiellen Rechts an. Nach Art 47 EuInsVO tritt nämlich die EuInsVO
zum 31. 05. 2002 in Kraft und ist gemäß Art 43 S. 1 EuInsVO auf solche Verfahren
anzuwenden, die nach ihrem Inkrafttreten eröffnet worden sind. Dadurch wird der
zeitliche Geltungsbereich der EuInsVO nicht für die Zeit vor dem 31. 05. 2002 - wie
der Kläger meint – ausgeschlossen; denn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens
bildet den Anknüpfungspunkt für die zeitlichen Geltung der EuInsVO. Der Eröffnung
des Insolvenzverfahren gehen aber zahlreiche Verfahrenshandlungen voraus –
insbesondere die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens selbst,
die nach Art 3 Abs. 1 EuInsVO der Gerichtsbarkeit des Mitgliedsstaates
überantwortet ist, in dessen Gebiet der Gemeinschuldner seinen Sitz hat (vgl BGH
WM 2004, 247, 247). Auch für die von dem Kläger verfolgte Insolvenzanfechtung
sind die Regelungen der EuInsVO beachtlich; denn nach §§ 129 ff. InsO steht dem
Insolvenzverwalter die Befugnis zur Vornahme dieser Rechtshandlung erst nach
Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu. Hier ist das Insolvenzverfahren erst am 01.
06. 2002 und mithin nach dem Stichtag des Art 47 EuInsVO eröffnet worden.
Nach dem vorstehend Ausgeführten bestimmt Art 3 Abs. 1 EuInsVO keine
internationale Zuständigkeit des Landgerichts Marburg; denn durch die Regelung
wird lediglich die internationale Zuständigkeit für die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens normiert.
Die Regelungen des §§ 13, 17, 32 ZPO führen ebenfalls nicht zur Zuständigkeit des
Landgerichts Marburg; denn die Beklagte hat ihren Sitz im Ausland – in O5/Belgien
-, und bei dem hier allein geltend gemachten Ansprüchen aus Insolvenzanfechtung
handelt es sich nicht um deliktische Forderungen im Sinne des § 32 ZPO (vgl. BGH
NJW 1990, 990).
Die Bestimmung in Art 102 Abs. 2 EGInsO begründet ebenfalls keinen
Gerichtsstand des Landgerichts Marburg. Diese Regelung betrifft nur die
Insolvenzanfechtung eines ausländischen Insolvenzverwalters im Inland (vgl.
Reinhart, MüKo-Insolvenzordnung III, Art 102 EGInsO Rz 138). Über die
internationale Zuständigkeit von Insolvenzanfechtungsklagen eines inländischen
Insolvenzverwalters verhält sich die Vorschrift nicht. Die Bestimmung des Art 102
EGInsO regelt lediglich das deutsche internationale Insolvenzrecht, ohne insoweit
Kompetenzzuweisungen zu treffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Regelung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 und 2, 709 S. 2 ZPO.
Die Revision war nach § 543 Abs. 2 Ziff. 1 und 2 ZPO zuzulassen; denn die
Fortbildung und Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine
Entscheidung des Revisionsgerichtes . Der Senat weicht in seiner Auslegung des
Art 1 Abs. 2 lit b. EuGVVO von der durch den Bundesgerichtshof (NJW 1990, 990 ff.)
und den Europäischen Gerichtshof (RIW 1979, 272) vorgenommenen Auslegung
des wortgleichen Art 1 Abs. 2 Ziff 2 EuGVÜ ab. Jedenfalls ist die Entscheidung von
grundsätzlicher Bedeutung, weil eine höchstrichterliche Entscheidung zur
Auslegung des Art 1 Abs. 2 lit b EuGVVO unter Berücksichtigung der späteren
Regelungen der EuInsVO noch nicht vorliegt. Die angeführten Entscheidungen
berücksichtigen noch nicht die sich aus dem Erlaß gerade der EuInsVO
möglicherweise ergebenden Änderungen im Verständnis des angeführten
Ausnahmetatbestandes.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.