Urteil des AG Köln vom 03.11.2010

AG Köln (eugh, kläger, verspätung, grundsatz der gleichbehandlung, auslegung, völkerrechtlicher vertrag, verhältnis zu, anwendungsbereich, flug, flughafen)

Amtsgericht Köln, 142 C 535/08
Datum:
03.11.2010
Gericht:
Amtsgericht Köln
Spruchkörper:
Abt. 142
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
142 C 535/08
Tenor:
Der Vorlagebeschluss des Gerichtes vom 04.10.2010 wird auf Antrag
der Beklagten berichtigt, ergänzt und nunmehr wie folgt gefasst :
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von
Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (VO 261/2004 EG) des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über
eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und
Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung
und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur
Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 folgende Fragen zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Handelt es sich bei dem in Art. 7 der VO geregelten
Ausgleichsanspruch um einen nicht kompensatorischen
Schadensersatzanspruch im Sinne von Art. 29 Satz 2 des Montrealer
Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die
Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28.05.1999 (MÜ)?
2. In welchem Verhältnis steht der nach Massgabe der Entscheidung
des EuGH vom 19.11.2009 (C-402/07) auf Art. 7 gestützte
Ausgleichsanspruch, wenn der Fluggast sein Endziel nicht früher als
drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit erreicht, zu dem in Art. 19
MÜ geregelten Schadensersatzanspruch für Verspätung unter
Berücksichtigung des Ausschlusses nach Art. 29 Satz 2 MÜ?
3. Wie ist der der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 (C-402/07)
zugrundeliegende Auslegungsmaßstab, der eine Ausdehnung des
Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der VO auf Verspätungsfälle zulässt, mit
dem Auslegungsmassstab, den der EuGH in seiner Entscheidung vom
10.01.2006 (C – 344/04) auf die VO anwendet, vereinbar ?
Gründe:
1
I.
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Die Kläger machen gegen das beklagte Luftfahrtunternehmen mit dem Klageantrag zu
1.) Ansprüche aus der VO 261/2004 EG geltend. Mit dem Klageantrag zu 2.) begehrt der
Kläger zu 1.) darüber hinaus Ersatz von nutzlos aufgewendeten Transportkosten. Mit
dem Klageantrag zu 3.) begehren die Kläger Schmerzensgeld wegen einer behaupteten
Lebensmittelvergiftung.
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Der Kläger zu 1.) ist der Vater der Kläger zu 2.) und 3.). Er buchte bei der Beklagten für
sich und seine Söhne einen Flug von Frankfurt a. Main/ Deutschland nach Lagos /
Nigeria am 27.07.2007 und einen Rückflug von Lagos nach Frankfurt a. Main am
27.03.2008. Geplante Abflugzeit für den Rückflug mit der Flugnummer MI … am
27.03.2008 war 22.50 Uhr Ortszeit Lagos. Die Kläger fanden sich am 27.03.2008
rechtzeitig auf den Flughafen in Lagos ein. Gegen 2.00 Uhr am 28.03.2008 wurde der
Heimflug zunächst abgesagt und die Kläger wurden in einem Hotel untergebracht.
Ursache der Absage war ein technischer Defekt in Gestalt einer defekten
Bugradsteuerung an der eingesetzten Maschine. Um 16.00 Uhr Ortszeit am 28.03.2008
wurden die Kläger abgeholt und zum Flughafen gebracht. Der Abflug des Fluges MI …
erfolgte mit einer durch die Beklagte aus Frankfurt a. Main überführten Ersatzmaschine
unter derselben Flugnummer und weitestgehend denselben Passagieren um 1.00 Uhr
Ortszeit am 29.03.2008. Der Flug erreichte Frankfurt a. Main um 7.10 Uhr mit einer mehr
als 24 stündigen Verspätung gegenüber der geplanten Ankunftszeit.
4
II.
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Mit dem Klageantrag zu 1.) beantragen die Kläger die Beklagte wegen der Verspätung
zu verurteilen, an die Kläger jeweils 600,00 Euro auf Grundlage von Art. 5 Abs. 1 lit. c,
Art. 7 Abs. 1 Satz 1 lit. a der VO 261/2004 EG nebst Zinsen zu zahlen. Der Kläger zu 1.)
beantragt weiter, die Beklagte zu verurteilen an ihn 150,00 Euro nebst Zinsen zu zahlen.
Dazu behauptet er, dass er in dieser Höhe bereits ein Transportunternehmen in
Frankfurt bezahlt habe, welches zum ursprünglichen Ankunftstermin den Transfer zu
seinem Wohnort habe vornehmen sollen, was jedoch wegen der von der Beklagten zu
vertretenen Verspätung nicht möglich gewesen sei, so dass diese Aufwendung nutzlos
gewesen sei. Schliesslich begehren die Kläger von der Beklagten Schmerzensgeld in
Höhe von mindestens 300,00 Euro pro Person. Hierzu behaupten sie, dass sie sich in
dem Hotel, in dem sie übergangsweise vom 27.03. auf den 28.03.2008 untergebracht
worden seien, beim Frühstück durch die Einnahme von Ei und Toast eine
Lebensmittelvergiftung zugezogen haben, was sich die Beklagte zurechnen lassen
müsse.
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Die Beklagte beantragt, die Klage insgesamt abzuweisen.
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Die Beklagte hat gegenüber dem Klageantrag zu 1.) zunächst eingewandt, dass es sich,
da der Flug durchgeführt worden sei, um keine Annullierung nach Massgabe von Art. 2
lit. l) der VO handele, vielmehr eine Verspätung vorliege, für die die VO keine
Ausgleichsansprüche vorsehe. Hinsichtlich der Klageanträge zu 2.) und 3.) hat sie den
Vortrag der Kläger im tatsächlichen bestritten.
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Das Gericht hat daraufhin das Verfahren in Hinblick auf die zu erwartende Entscheidung
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des EuGH in dem Verfahren C – 402/07 ausgesetzt. Nach der Entscheidung des EuGH
vom 19.11.2009 ist das Verfahren wieder aufgenommen worden.
Die Beklagte wendet nunmehr ein, dass der von dem EuGH angenommene
Ausgleichanspruch auch bei Verspätungen, bei denen der Fluggast sein Endziel nicht
früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten
Ankunftszeit erreichen konnte, sich nicht der Regelung von Schadensersatzansprüchen
in dem Montrealer Übereinkommen in Einklang bringen lässt. Sie wendet weiter ein,
dass mit der genannten Entscheidung die Grenzen der Jurisdiktionsbefugnis des EuGH
überschritten worden seien.
10
III.
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1.
12
Der Erfolg des Klageantrages zu 1.) hängt zunächst davon ab, ob der seitens des EuGH
in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 auf Verspätungen ausgedehnte
Anwendungsbereich des Ausgleichsanspruches nach Art. 7 der VO 261/2004 EG (im
Folgenden: VO) mit den Vorschriften von Art. 19 /29 des Montrealer Übereinkommens
(im Folgenden MÜ) vereinbar ist. Hierzu bedarf es der Auslegung des Art. 7 der VO
hinsichtlich seines Rechtscharakters. Diesbezüglich ist das Verfahren vor dem
erkennenden Gericht auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union
gemäss Art. 267 AEUV vorzulegen.
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Der vorliegende Fall fällt in den Anwendungsbereich der VO.
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Der streitbefangene Flug von Lagos nach Frankfurt vom 27.03.2008 sollte durch die
Beklagte, einem in Deutschland und damit in der Europäischen Union ansässigen
Luftfahrtunternehmen, aus einem Drittstaat – Nigeria – nach Deutschland zum
Flughafen Frankfurt a. Main durchgeführt werden, so dass der Anwendungsbereich der
VO nach Artikel 3 Abs. 1 lit. b) eröffnet ist.
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Auf Grundlage der VO steht den Klägern auch der in dem Klageantrag zu 1.) geltend
gemachte Anspruch zu.
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Da die Beklagte unstreitig den zunächst für den 27.03.2008 vorgesehenen Flug nach
Frankfurt unter Einsatz einer Ersatzmaschine am 29.03.2008 unter Aufrechterhaltung
der ursprünglichen Planung durchführte, lag keine Annullierung im Sinne von Art. 2 lit l.)
der VO vor, der in unmittelbarer Anwendung von Art. 5, 7 der VO den Klägern
Ausgleichsansprüche gewährt hätte. Angesichts der unstreitig über 24 – stündigen
Verspätung fällt der vorliegende Fall aber in den durch das Urteil des EuGH vom
19.11.2009 auf Verspätungen mit einer Überschreitung der geplanten Ankunftszeit von
drei Stunden und mehr erweiterten Anwendungsbereich von Art. 5, 6, 7 der VO. Nach
dem Urteil des EuGH vom 19.11.2009 steht den Klägern, da ausreichende
Ausschlussgründe nach Art. 5 Abs. 3 VO nicht vorliegen, bei der über 3.500 km
hinausgehenden Flugstrecke daher ein Ausgleichsanspruch in Höhe von jeweils 600,00
Euro zu.
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Der vorliegende Fall fällt auch in den Anwendungsbereich des MÜ.
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Bei dem streitbefangenen Flug handelt es sich um eine internationale Beförderung im
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Sinne von Art. 1 Abs. 2 MÜ. Sowohl Nigeria als auch Deutschland sind Vertragsstaaten
des MÜ. Da der Abgangsort der Flughafen Lagos in Nigeria und Bestimmungsort der
Flughafen Frankfurt a. Main in Deutschland war, ist auch der Anwendungsbereich des
MÜ eröffnet. Art. 19 MÜ gewährt dem Reisenden einen Schadensersatzanspruch
hinsichtlich der Schäden, die durch eine Verspätung bei der Luftbeförderung von
Reisenden entstanden sind. Damit können die Kläger bei Vorliegen der
Voraussetzungen des Art. 19 MÜ dem Grunde nach auch Ansprüche gestützt auf das
MÜ geltend machen.
Die EU ist ebenfalls Mitunterzeichnerin des MÜ. Die Regelungen des MÜ
beanspruchen als von der EU geschlossener völkerrechtlicher Vertrag Vorrang vor den
Regelungen von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht und damit auch der VO.
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Nach Art. 29 Satz 1 MÜ kann ein Schadensersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch
beruht, sei es dem MÜ, einem Vertrag, einer unerlaubten Handlung oder einem
sonstigen Rechtsgrund nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen geltend
gemacht werden, die in dem MÜ vorgesehen sind. Nach Art. 29 Satz 2 MÜ ist bei einer
Klage jeder eine Strafe einschliessende, verschärfte oder sonstige nicht
kompensatorische Schadenersatz ausgeschlossen.
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Soweit aber ein Schadensersatzanspruch nach dem MÜ wegen Verspätung in Betracht
kommt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu den Ausgleichsansprüchen wegen
Verspätung nach der VO in der durch den EuGH mit Urteil vom 19.11.2009 gefundenen
Auslegung.
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Ansprüche, die unter Art. 19 MÜ fallen, werden von dem Kläger zu 1.) im vorliegenden
Fall in Gestalt der vergeblichen Aufwendungen für einen Transport zum ursprünglichen
Ankunftstermin in Höhe von 150,00 Euro gemäss dem Klageantrag zu 2.) erhoben, so
dass sich die Frage des Verhältnisses der Regelungswerke zueinander hier auch unter
Berücksichtigung der Anrechnungsbestimmung in Art. 12 der VO stellt.
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Wenn es sich bei dem Ausgleichsanspruch auch für Verspätungen nach Art. 7 der VO
um einen nicht-kompensatorischen Schadensersatzanspruch handeln würde, könnten
die VO und das MÜ denselben Tatbestand regeln. Nicht-kompensatorische
Ersatzansprüche sind solche, die unabhängig davon gewährt werden, ob der
Berechtigte tatsächlich einen Schaden erlitten hat. Dafür, dass es sich bei dem
Ausgleichanspruch wegen Verspätung um einen nicht kompensatorischen Anspruch
handelt, könnte sprechen, dass es zur Begründung des Anspruches nicht erforderlich
ist, dass tatsächlich Schäden immaterieller oder materieller Art entstanden sind; Es
reicht vielmehr der Nachweis der Überschreitung der geplanten Ankunftszeit von drei
Stunden und mehr. Dafür, dass es sich bei dem Ausgleichsanspruch weiter um
Schadensersatz handelt, könnte sprechen, dass die VO in Artikel 12 eine Anrechnung
auf Schadensersatz erwähnt und die Ansprüche damit gleichzustellen scheint und im
Übrigen in der englischen und französischen Fassung mit "compensation" und
"indemnisation" dieselben Begriffe wie im MÜ verwendet werden, die sich ins Deutsche
als Schadensersatz übersetzen lassen. Ob eine Identität der Regelungsbereiche
vorliegt, hängt daher von der Bestimmung des rechtlichen Charakters des
Ausgleichsanspruches ab.
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Über die Frage nach dem Rechtscharakter des Ausgleichsanspruches verhält sich die
Frage 1.) des Vorlagebeschlusses.
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Sollte es sich aber bei dem Ausgleichsanspruch um einen nicht kompensatorischen
Schadensersatzanspruch handeln stellt sich die Frage, ob ein Ausgleichsanspruch
wegen Verspätung angesichts der dann bestehenden Identität der Regelungsbereiche
wegen des Vorranges des MÜ Gültigkeit beanspruchen kann. Soweit dabei ein Vorrang
des MÜ festzustellen ist wäre im vorliegenden Fall der Klageantrag zu 1.) unbegründet
und wären die Kläger auf die Regelungen des MÜ zu verweisen.
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Über die Frage nach dem Verhältnis von VO zu MÜ verhält sich die Frage 2.) des
Vorlagebeschlusses.
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Zu diesen Fragen hat der EuGH – soweit ersichtlich – noch nicht Stellung genommen. In
der Entscheidung des EuGH vom 10.01.2006 ( C – 344/04) wird in Rz. 38 ff. (43, 48)
ausgeführt, dass die VO zwar an den Regelungen des MÜ zu messen ist, die
Unterstützungs- und Betreuungsleistungen nach Art. 6 der VO den Art. 19, 29 MÜ aber
nicht entgegenstehen. In der Entscheidung des EuGH vom 22.12.2008 ( C – 549/07 ) ist
die Vereinbarkeit der VO mit dem MÜ nur unter dem Aspekt der Auslegung der
Befreiungsgründe des Art. 5 Abs. 3 VO erörtert worden. In der Entscheidung vom
19.11.2009 ist die Frage nach der Vereinbarkeit eines Ausgleichsanspruches für
Verspätungen mit dem MÜ nicht erörtert worden. Der EuGH hat lediglich in den
Entscheidungen vom 10.01.2006 und 22.12.2008 und damit vor der Schaffung des
Ausgleichsanspruches für Verspätungen durch Auslegung ausgeführt, dass es sich bei
dem Ausgleichsanspruch nach der VO um eine standardisierte sofortige
Wiedergutmachung handele und bei dem Anspruch nach dem MÜ um individualisierte
Wiedergutmachung. Damit ist aber noch nicht geklärt, ob es sich nicht bei beiden Arten
der Wiedergutmachung um nicht kompensatorische Schadensersatzansprüche handelt.
Diese konkrete Frage ist erst mit der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009
aufgetreten.
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In der nationalen Rechtsprechung Deutschlands ist die Frage auch nicht geklärt worden.
In seinem Urteil vom 10.12.2009 – Xa ZR 61/09 – hat der Bundesgerichtshof zwar
dargelegt, dass die Ausschlussfrist des Art. 35 des MÜ auf Ausgleichsansprüche nach
Art. 7 der VO nicht anzuwenden ist. Dem Urteil lagen aber Ausgleichsansprüche wegen
Annullierung zugrunde und keine wegen Verspätung. In dem Urteil vom 18.02.2010 - Xa
ZR 95/06 -, dem der Fall zugrundelag, der Gegenstand der Rechtssache C 402/07 war,
hat der Bundesgerichtshof keine Notwendigkeit der Erörterung dieser Frage gesehen,
da er davon ausging, dass Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 Art. 29
MÜ nicht übersehen hat. Bedenken gegen die Vereinbarkeit von MÜ und VO erhebt in
der nationalen Rechtsprechung soweit erkennbar auch das AG Nürtingen in seinem
Urteil vom 27.09.2010 (Az.: 11 C 1219/10 in juris).
29
2.
30
Der Erfolg des Klageantrages zu 1.) hängt weiter davon, ob die durch den EuGH vom
19.11.2009 bei der Auslegung von Art. 5, 7 der VO verwandte Methode von der dem
EuGH zustehenden Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung gedeckt ist.
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In seiner Entscheidung vom 19.11.2009 hat der EuGH festgestellt, dass der Wortlaut des
verfügenden Teiles der Verordnung keinen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der VO
vorsieht (Rz 41). Der Gerichtshof leitet dann die Ausdehnung des
Anwendungsbereiches des Art. 7 auf Verspätungen von den Begründungserwägungen
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insbesondere den 15. Erwägungsgrund, den zum Erlass der Verordnung führenden
Gründe, wie sie insbesondere in den ersten vier Erwägungsgründen ihren Niederschlag
gefunden haben, und den dem Primärrecht angehörenden Grundsatz der
Gleichbehandlung ab.
In seiner Entscheidung vom 10.01.2006 (C – 344/04) hat der EuGH zur Auslegung der
VO festgestellt, dass die Begründungserwägungen den Inhalt eines
Gemeinschaftsrechtsaktes zwar präzisieren können, sie es aber nicht erlauben, von den
Regelungen abzuweichen (Rz 76). Dabei hat er ausgeführt, dass eine Differenz
zwischen Begründungserwägungen und dem Inhalt der Art. 5, 6, 7 der VO nicht
erheblich ist, weil der Inhalt der Artikel eindeutig ist.
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Damit stellt sich die Frage nach der im Rahmen der Rechtsfortbildung bei der
Auslegung der VO zulässigen und anzuwendenden Auslegungsmethode.
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Während der EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009 eine Auslegung für zulässig
erachtet, bei der gestützt auf eine Auslegung der Begründungserwägungen, der Ziele
und der Grundsätze des Primärrechtes eine nach dem Wortlaut nicht vorhandene
Regelung im verfügenden Teil der Verordnung geschaffen wird, lehnt der EuGH in
seiner Entscheidung vom 10.01.2006 eine Auslegung, bei der bei eindeutigem Inhalt
des verfügenden Teiles eine Ausdehnung allein aufgrund einer Differenz zu den
Begründungserwägungen beruht, ab, da die Erwägungen nur präzisierenden Charakter,
haben.
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Legt man aber bei der Auslegung der VO im vorliegenden Fall einen
Auslegungsmaßstab zugrunde, wie sie in der Entscheidung vom 10.01.2006 Ausdruck
gefunden hat, würde die Eindeutigkeit des Inhaltes des verfügenden Teiles - hier die
Beschränkung des Ausgleichsanspruches auf Annullierungsfälle und Fehlen einer
entsprechenden Regelung für Verspätungsfälle - eine alleine auf den
Begründungserwägungen und Zielen der VO und dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete
Ausdehnung des Anwendungsbereich ausschliessen. In diesem Falle stellte sich der
von dem EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009 verwendete Auslegungsmaßstab
als Überschreitung der Befugnis zur Rechtsfortbildung dar. Dies würde dazu führen,
dass ein Ausgleichsanspruch bei Verspätungsfällen nach der VO nicht besteht bzw. der
Regelung durch den europäischen Gesetzgeber vorbehalten ist mit der Folge, dass im
vorliegenden Fall ein Anspruch nach Massgabe des Klageantrages zu 1.) nicht besteht.
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Über die Frage nach dem zulässigen und anzuwendenden Auslegungsmaßstab verhält
sich die Frage 3.).
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