Urteil des AG Kleve vom 12.04.2006

AG Kleve: entziehung der elterlichen sorge, wiederaufnahme des verfahrens, örtliche zuständigkeit, wichtiger grund, aufnehmen, eingriff, staat, entziehen, kindeswohl, entzug

Amtsgericht Kleve, 19 F 77/06
Datum:
12.04.2006
Gericht:
Amtsgericht Kleve
Spruchkörper:
19. Abteilung
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 F 77/06
Schlagworte:
Rechtsantragsstelle, Sorgerechtsverfahren, Geschäftstelle,
Rechtspflegerzuständigkeit
Normen:
ZPO § 129a; ZPO 621a; RPflG § 24
Leitsätze:
Anträge und Erklärungen im isolierten Sorgerechtsverfahren sind nach
Schwierigkeit und Bedeutung den in § 24 Abs. 2 Nr. 1, 2 RPflG
genannten Geschäften vergleichbar. Für die Entgegennahme solcher
Anträge ist daher nach § 24 Abs. 2 Nr. 3 RPlfG im isolierten
Sorgerechtsverfahren grundsätzlich der Rechtspfleger zuständig.
In besonders zu begründenden Ausnahmefällen können Anträge und
Erklärungen im isolierten Sorgerechtsverfahren vom Urkundsbeamten
der Geschäftsstelle aufgenommen werden. Die Gründe, die eine
Aufnahme durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ermöglichen,
sind vom Rechtspfleger aktenkundig zu machen.
Anträge und Erklärungen, die unter Verstoß gegen diese
Zuständigkeitsregeln vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle
aufgenommen worden sind, sind unwirksam.
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
1.
Die Antragstellerin wird darauf hingewiesen, dass ihr Antrag, ihr das
Aufenthaltsbestimmungsrecht für die beiden minderjährigen Kinder
a) L.
b) S.
zu übertragen, unwirksam ist.
2.
Eine Kostenentscheidung ist derzeit nicht veranlasst.
Gründe
1
I.
2
Die Antragstellerin hat beim Amtsgericht Kleve – Geschäftsstelle des Familiengerichts –
beantragt, ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die beiden Kinder L. und S. zu
übertragen. Zur Begründung ist in dem Antrag folgendes niedergelegt worden:
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"Beide Kinder möchten zu der Antragstellerin.
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S. ist mit seinen Sachen vom Antragsgegner weggelaufen.
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S. war mit der Antragstellerin beim Jugendamt in K..
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Die Kinder verstehen sich mit der neuen Lebenspartnerin des Antragsgegners
nicht. Die neue Lebenspartnerin (G.) hat mehrmals S. geschlagen. Deswegen
war die Antragstellerin auch beim Kinderschutzbund.
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Der Kinderschutzbund war daraufhin beim Antragsgegner zu Hause."
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Durch Verfügung vom 8. März 2006 hat das Amtsgericht einen Bericht vom
Stadtjugendamt K. und vom Kreisjugendamt K. angefordert. Unter dem 4. April 2006 ist
eine Stellungnahme des Jugendamtes K. zur Gerichtsakte gelangt, eine Stellungnahme
des Kreisjugendamtes K. ist bislang nicht zur Akte gelangt. Ferner hat das Gericht durch
gleiche Verfügung vom 8. März 2006 die Antragstellerin aufgefordert, den Antrag zu
ergänzen. Eine ergänzende Stellungnahme der Antragstellerin ist nicht erfolgt.
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Der Kindesvater hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.
10
II.
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Der Antrag der Antragstellerin ist nicht wirksam. Hierauf ist die Antragstellerin im Wege
einer beschwerdefähigen Zwischenentscheidung hinzuweisen.
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1.
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Im isolierten Verfahren auf Übertragung der elterlichen Sorge gem. §§ 621a Abs. 1 Satz
2, 129a ZPO können Anträge und Erklärungen zwar zu Protokoll der Geschäftsstelle
abgegeben werden. Im Verfahren auf Übertragung der elterlichen Sorge ist für die
Aufnahme des Antrages jedoch der Rechtspfleger zuständig, § 24 Abs. 2 Nr. 3 RPflG.
Da ein solcher Antrag in der gehörigen Form bislang nicht vorliegt, ist eine gerichtliche
Entscheidung derzeit nicht möglich.
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2.
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§ 24 RPflG lautet:
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§ 24 Aufnahme von Erklärungen
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(1) Folgende Geschäfte der Geschäftsstelle werden dem Rechtspfleger
übertragen:
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1. die Aufnahme von Erklärungen über die Einlegung und Begründung
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a) der Rechtsbeschwerde und der weiteren Beschwerde,
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b) der Revision in Strafsachen;
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2. die Aufnahme eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 366
Abs. 2 der Strafprozeßordnung, § 85 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten).
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(2) Ferner soll der Rechtspfleger aufnehmen:
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1. sonstige Rechtsbehelfe, soweit sie gleichzeitig begründet werden;
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2. Klagen und Klageerwiderungen;
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3. andere Anträge und Erklärungen, die zur Niederschrift der Geschäftsstelle
abgegeben werden können, soweit sie nach Schwierigkeit und Bedeutung den
in den Nummern 1 und 2 genannten Geschäften vergleichbar sind.
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(3) § 5 ist nicht anzuwenden.
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Bei Anträgen auf Übertragung und zwangsläufig damit verbunden auf Entziehung der
elterlichen Sorge handelt es sich um Anträge, die sowohl nach Schwierigkeit als auch
nach Bedeutung denjenigen Geschäften von § 24 Abs. 2 Nr. 1 und 2 RPflG vergleichbar
sind.
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a)
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Dass es sich bei dem Antrag auf Entziehung und Übertragung der elterlichen Sorge um
einen Antrag von erheblicher Bedeutung handelt, ist so offenkundig, dass sich eine
nähere Begründung eigentlich verbietet. Gleichwohl sei klarstellend darauf
hingewiesen, dass durch den Entzug der elterlichen Sorge das von Art. 6 Abs. 2 Satz 1
GG gewährleistete Recht des betroffenen Elternteils auf Erziehung seiner Kinder
betroffen ist, in das der Staat grundsätzlich nur eingreifen darf, wenn das ihm nach Art. 6
Abs. 2 Satz 2 GG zukommende Wächteramt dies gebietet. Bei gerichtlichen
Entscheidungen, die Eltern das Sorgerecht entziehen, ist der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit streng zu beachten (vgl. BverfGE 7, 320, 323 f.; 60, 79, 89 f.; 72,
122, 137; 76, 1, 50 f.). Ein Eingriff in eine verfassungsrechtlich geschützte
Rechtsposition ist grundsätzlich ein erheblicher Eingriff und damit ein solcher von
erheblicher Bedeutung i.S.v. § 24 RPflG.
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b)
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Anträge auf Entziehung und Übertragung des Sorgerechts sind auch in ihrer
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Schwierigkeit denjenigen Anträgen bzw. Erklärungen nach § 24 Abs. 2 Nrn. 1 und 2
RPflG vergleichbar.
aa)
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Nach § 24 Abs. 2 Nr. 1 RPflG soll der Rechtspfleger sonstige Rechtsbehelfe
aufnehmen, soweit sie gleichzeitig begründet werden. Soweit auf die
Begründungspflicht abgestellt wird ist die Vergleichbarkeit evident, denn Anträge nach §
1671 BGB bedürfen der Begründung. Hierbei handelt es sich um eine Begründung, mit
der auf die individuellen Besonderheiten des Falles eingegangen werden muss.
Schematisierte Formelbegründungen können eine Entziehung und Übertragung des
Sorgerechts nicht rechtfertigen.
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bb)
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Anträge auf Entziehung und Übertragung des Sorgerechts sind ferner in ihrer
Schwierigkeit auch Klagen und Klageerwiderungen vergleichbar, § 24 Abs. 2 Nr. 2
RPflG. Auch insoweit ist darauf zu verweisen, dass es sich bei dem Antrag auf
Entziehung und Übertragung des Sorgerechts um einen begründungsbedürftigen Antrag
handelt, der weder formularmäßig noch schematisch erledigt werden kann. Vielmehr ist
unter besonderer Berücksichtigung des im Hinblick auf beide Elternteile
verfassungsrechtlich gewährleisteten Elternrechts sowie unter weiterer besonderer
Berücksichtigung des Kindeswohls eine Begründung erforderlich, die alle
Besonderheiten des einzelnen Falles berücksichtigt.
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cc)
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Hinzu kommt, dass aus der Bedeutung des Grundrechtseingriffs auch gleichzeitig die
Schwierigkeit der Angelegenheit folgt. Bereits bei der Antragstellung – ein solcher
Antrag ist Verfahrensvoraussetzung gem. § 1671 BGB – ist möglichst umfassend
vorzutragen, aus welchen Gründen eine Übertragung des Sorgerechts geboten sein
könnte.
38
c)
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Für die Zuständigkeit des Rechtspflegers spricht zudem der Grundsatz effektiven
Rechtsschutzes in der Ausprägung des Grundsatzes der Verfahrensbeschleunigung. Im
Interesse effektiven Rechtsschutzes des Antragstellers ist es zu vermeiden, zunächst
inhaltlich unzureichende Anträge vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle aufnehmen
zu lassen, und im Anschluss daran durch den Richter im Zusammenwirken mit der
Geschäftsstelle und dem rechtssuchenden Bürger die Tatsachengrundlage zu ermitteln,
auf deren Grundlage überhaupt erst die erforderlichen weiteren Ermittlungen angestellt
werden können. Trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes bedarf es nämlich zunächst
einer gewissen Tatsachengrundlage, um weitere Ermittlungen einleiten zu können.
Neben den aus prozessualen Gründen zu beachtenden Formalien, zu denen – wie hier
bislang nicht hinreichend geklärt – die örtliche Zuständigkeit gehört, bedarf es der
möglichst genauen Angabe von Gründen, die die beantragte Sorgerechtsentziehung
rechtfertigen sollen. Es ist nicht Aufgabe des Richters, insoweit Ermittlungen ins Blaue
hinein anzustellen. Vielmehr obliegt es zunächst dem rechtssuchenden Bürger
Tatsachen vorzutragen, dass das Gericht zügige und sachdienliche Ermittlungen
einleiten kann, ohne zunächst zeitraubend beim Antragsteller nachfragen zu müssen,
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worin genau die Gründe für den beantragten Entzug des Sorgerechts liegen könnten.
Eine Beschleunigung des Verfahrens ist zudem auch im Interesse des oder der
beteiligten Kinder geboten. Sofern das Kindeswohl tatsächlich eine Übertragung der
elterlichen Sorge gebietet ist das gerichtliche Verfahren so auszugestalten, dass
vermeidbare Rückfragen beim Antragsteller tatsächlich auch vermieden werden. Bei
Anträgen, die von einem rechtlich nicht geschulten Urkundsbeamten der Geschäftsstelle
aufgenommen werden, sind Rückfragen und ergänzende Ermittlungen indes häufiger zu
erwarten, als wenn der Antrag von einem rechtlich geschulten Rechtspfleger
aufgenommen wird.
d)
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Die Aufnahme des Antrags durch den Rechtspfleger ist auch sachlich geboten. Art. 6
Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer
Kinder. In dieses Recht darf der Staat grundsätzlich nur eingreifen, wenn das ihm nach
Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommende Wächteramt dies gebietet (so etwa BverfG NJW
1994, S. 1208 ff.; vgl. ferner BVerfGE 7, 320, 323; 59, 360, 376). Bei gerichtlichen
Entscheidungen, die Eltern das Sorgerecht entziehen, ist der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit streng zu beachten (vgl. BverfGE 7, 320, 323 f.; 60, 79, 89 f.; 72,
122, 137; 76, 1, 50 f.). Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts wie
auch aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des
Kindeswohls zu wachen, ergeben sich Folgerungen für das Prozessrecht, hier also die
Auslegung derjenigen Vorschriften, die die Einleitung des
Sorgerechtsentziehungsverfahrens regelt. Ebenfalls ergeben sich Folgerungen für seine
Handhabung im Sorgerechtsverfahren (vgl. BverfGE 55, 171, 182). Das gerichtliche
Verfahren muss in seiner Ausgestaltung dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes
entsprechen (vgl. BverfGE 63, 131, 143; 84, 34, 49). Dies bedeutet, dass mit Rücksicht
auf das grundgesetzlich gewährleistete Elternrecht beider am Verfahren beteiligten
Kindeseltern sowie mit Rücksicht auf das Kindeswohl bereits bei Antragstellung darauf
geachtet werden muss, dass der zu Grunde liegende Lebenssachverhalt so umfassend
als notwendig aktenkundig gemacht wird. Hierzu ist regelmäßig die Mitwirkung einer
rechtlich geschulten Person erforderlich wie bereits daraus deutlich wird, dass im
Verbundverfahren der Sorgerechtsantrag dem Anwaltszwang unterliegt (hierzu Schüller,
Zum Anwaltszwang für den Antrag auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge,
FamRZ 1998, S. 1287). Hinzu kommt, dass der Antrag häufig Grundlage für vorläufige
Maßnahmen ist, die ihrerseits mit einem erheblichen Eingriff in ein Grundrecht
verbunden sind und Tatsachen schaffen, welche später nicht oder nur schwer
rückgängig zu machen sind.
42
e)
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Da die Voraussetzungen von § 24 Abs. 2 Nr. 3 RPflG erfüllt sind, sollen Anträge
gerichtet auf die Entziehung und Übertragung des Sorgerechts (insoweit handelt es sich
um andere Anträge und Erklärungen, die zur Niederschrift der Geschäftsstelle
abgegeben werden können) vom Rechtspfleger aufgenommen werden.
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Dies bedeutet, dass der Rechtspfleger Anträge auf Übertragung des Sorgerechts im
Regelfall aufnehmen muss, soweit nicht ein atypischer Sonderfall vorliegt. Gründe, dass
hier ein solcher Sonderfall vorliegt, sind nicht ersichtlich und jedenfalls nicht
aktenkundig gemacht worden. Bei der Entscheidung darüber, ob eine Sollvorschrift
angewendet oder nicht angewendet wird, wird nämlich Ermessen betätigt. Dem
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Grundsatz nach ist bei einer Ermessensentscheidung zu fordern, dass nachprüfbare
Gründe für die Betätigung des Ermessens angegeben werden. Bei der Anwendung von
Sollvorschriften ist der Ermessensspielraum der zuständigen Stelle sehr eng. Nur wenn
ein wichtiger Grund der vorgesehenen Handhabung entgegensteht, also in atypischen
Fällen, darf sie anders verfahren, als im Gesetz vorgesehen ist. In Regelfällen bedarf es
keiner besonderen Begründung für die Anwendung der Sollvorschrift (BVerwGE 49, S.
16 ff.). Damit in der weiteren Bearbeitung überprüft werden kann, ob das Ermessen in
zutreffender Weise ausgeübt worden ist, sind die Gründe, die die Annahme eines
Ausnahmefalles begründen, aktenkundig zu machen.
e)
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Dies bedeutet hier, dass der Antrag von einem unzuständigen Organ aufgenommen
worden und mithin unwirksam ist (vgl. Arnold/Meyer-Stolte, RPflG, 6. Auflage 2002, § 24
RPflG, Rn. 4). Mangels wirksamen Antrages kommt die Entziehung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts und Übertragung auf die Antragstellerin derzeit nicht in
Betracht.
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III.
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Eine Kostenentscheidung ist derzeit nicht veranlasst.
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