Urteil des AG Kassel vom 30.06.2009

AG Kassel: versicherer, verkehrsunfall, anwaltskosten, gebühr, rechtsberatung, reparaturkosten, waffengleichheit, fahrzeug, glücksspiel, versicherungsgesellschaft

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Gericht:
AG Kassel
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
415 C 6203/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 249 BGB
(Schadensersatz bei Kfz-Unfall: Ersatzfähigkeit der
vorgerichtlichen Anwaltskosten eines gewerblichen
Autovermieters für die Unfallschadensregulierung )
Leitsatz
1. Anwaltskosten des rechtskundigen Geschädigten stellen grundsätzlich einen
erstattungsfähigen Schaden dar. Einen "einfach gelagerten Verkehrsunfall" gibt es für
den Rechtsunkundigen nicht. Dies gilt auch dann, wenn es sich bei dem Geschädigten
um eine mittelständische gewerbliche Autovermietung ohne eigene Rechtsabteilung
handelt.
2. Der durch einen Verkehrsunfall Geschädigte steht im Rahmen der
Schadensregulierung einer zunehmend komplexen Rechtsprechung, hoch
spezialiesierten Rechtsabteilungen der Versicherer und einer uneinheitlichen
Regulierungspraxis mit bisweilen willkürlichen Kürzungen durch Versicherer gegenüber.
Angesichts dessen gebietet bereits die Maxime der Waffengleichheit, dass der
Geschädigte einen Rechtsanwalt mit der außergerichtlichen Geltendmachung des
Schadensersatzes beauftragen darf und dessen Kosten grundsätzlich als ädaquat
kausaeln Schaden ersetzt verlangen kann.
3. Die Regulierung eines Verkehrsunfalls stellt auch für den Anwalt eines Geschädigten
niemals lediglich eine "einfach gelagerte Tätigkeit" dar. Es handelt sich bei jeder
Unfallabwicklung um eine Sache von zumindest durchschnittlicher Bedeutung mit der
Folge, dass die Schwellengebühr von 1, 3 nach Nr. 2300 VV-RVG anzusetzen ist.
4. Eine 1, 3-fache Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV-RVG entsteht auch dann, wenn
durch den Rechtsanwalt nach Prüfung der Sach- und Rechtslage zunächst lediglich ein
"einfaches " bzw. kurzes Anspruchsschreiben gefertigt wurde. Der Umfang dieses
Schreibens lässt grundsätzlich keinen Rückschluss auf den Inhalt der Beauftragung und
den Umfang der Tätigkeit des Rechtsanwalts sowie die Komplexität der zuvoer
geleisteten Rechtsberatung zu.
Tatbestand
Von der Darstellung wird abgesehen gem. § 313a Abs. 1 S. 1 ZPO.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist aus dem rechtlichen Gesichtspunkt des Schadenersatzes aus §§ 7
B
14.09.2005 zwischen einem an einen Kunden der Klägerin vermieteten Fahrzeug
und dem Fahrzeug eines Beklagten versicherten Fahrzeughalters im vollen
Umfang begründet.
1. Die alleinige Haftung des bei der Beklagten versicherten Unfallgegners steht
zwischen den Parteien nicht im Streit.
2. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat diese der Klägerin auch die
Rechtsverfolgungskosten, die der Klägerin unbestritten auf Grund des
Verkehrsunfalls entstanden sind, dem Grunde nach als adäquat kausalen Schaden
gemäß § 249 BGB aus dem Verkehrsunfallereignis in Höhe der Klageforderung zu
zahlen.
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass es sich bei der Klägerin um eine
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Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass es sich bei der Klägerin um eine
gewerbliche Autovermietung handelt. Dabei kann dahinstehen, ob die Klägerin mit
der Abwicklung von Schadenersatzansprüchen „vertraut“ ist. Dass die Klägerin
nicht über eine eigene Rechtsabteilung verfügt, ist zwischen den Parteien
unstreitig. Entgegen der Ansicht der Beklagten gibt es einen rechtlich „einfach
gelagerten Verkehrsunfall“ für einen Rechtsunkundigen nicht. Dies ist nicht zuletzt
auch eine Folge daraus, dass die Rechtsprechung zum Umfang des ersatzfähigen
Schadens auf Grund des Regulierungsverhaltens einiger Versicherer eine
Dimension erreicht hat, die für den nicht Rechtskundigen mithin nicht mehr
überschaubar ist. Zu nennen ist hier exemplarisch die Kürzung von fiktiven
Reparaturkosten unter Verweisung auf die Stundenverrechnungssätze freier
Werkstätten unter Hinweis auf das sog. „Porsche-Urteil“, die von zahlreichen
Versicherern vorgenommen wird. Dies gilt hier umso mehr, als die
Klägerin auch im Streitfall ihren Schaden auf der Grundlage eines Gutachtens auf
der Basis fiktiver Reparaturkosten abrechnete. Wenn sich aber Versicherer - was
gerichtsbekannt ist - selbst bei der Regulierung von - jedenfalls für den
Rechtskundigen - in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht eindeutigen
Haftungsfällen, bisweilen unter bewusster Missachtung obergerichtlicher
Rechtsprechung, auf juristischen Spitzfindigkeiten kaprizieren, so dürfte es für die
Beklagte leicht einzusehen sein, dass die Unfallabwicklung selbst bei dem
Haftungsgrunde nach eindeutigen Haftungsfällen, bei denen die Einstandspflicht
der Versicherung des Schädigers dem Grunde nach feststeht, eben nur scheinbar
um „einfach gelagerte“ Verkehrsunfälle handelt. Denn spätestens bei der Höhe
des zu ersetzenden Schaden wird - dies vermag man anhand des
streitgegenständlichen Verfahren in eindrucksvoller Weise nachvollziehen - aus
einem Verkehrsunfall, bei dem es glücklicherweise nur zu kleinsten Blechschäden
gekommen ist, dies ist gerichtsbekannt, eine vorgerichtliche Auseinandersetzung,
in der sich der Geschädigte mit aus Textbausteinen gefertigten Schriftsätzen
auseinandersetzen muss, in denen in epischer Breite zahlreiche
Einzelfallentscheidungen verschiedener Instanzgerichte zitiert werden, die mit dem
Rechtsstreit zu Grunde liegenden Sachverhalt auch nicht das Geringste zu tun
haben. Nun ist es das Recht eines jeden Versicherers und mithin auch eine Pflicht
gegenüber seinem Versicherungsnehmer, einen Schadensfall auch unter
rechtlichen Gesichtspunkten eingehend zu prüfen. Die Kehrseite dessen ist indes,
dass angesichts der Tatsache, dass der Geschädigte bei der Schadensregulierung
hoch spezialisierte Rechtsabteilungen bzw. für Versicherer tätige Spezialkanzleien
gegenübersteht, es bereits die Maxime der Waffengleichheit gebietet, dass der
Geschädigte einen Rechtsanwalt mit der außergerichtlichen Geltendmachung des
Schadenersatzes beauftragen und die Rechtsverfolgungskosten als adäquat
kausalen Schaden ersetzt verlangen kann. Im Übrigen verweist das Gericht auf die
zutreffende Begründung des AG Coburg, das über einen gleich gelagerten
Sachverhalt zu entscheiden hatte und dem sich das erkennende Gericht im vollen
Umfang anschließt (vgl. AG Coburg, Urt. v. 22.09.2005 - 15 C 828/05).
Wenn das AG Coburg in den Entscheidungsgründen ausführt
„Die Klägerin (Anm.: eine gewerbliche Autovermietung) muss sich also nicht
darauf verweisen lassen, erst ohne Hinzuziehung einer in der Unfallabwicklung
geübten Anwaltskanzlei selbst die eintrittspflichtige Versicherung herauszufinden,
anzuschreiben und irgendwelche Schadenspositionen zusammenzustellen. Das
Ergebnis käme – wie ausgeführt – auch bei der gleichen Versicherungsgesellschaft
einem Glücksspiel gleich, welcher Sachbearbeiter die Schadensabwicklung in die
Hand nimmt.“
so hat das erkennende Gericht diesen Ausführungen nichts hinzuzufügen.
Die auch von der Beklagten zitierte, über zehn Jahre alte Entscheidung des BGH
(Urt. v. 08.11.1994 - VI ZR 3/94 = NJW 1995, 446), wonach nur bei einem Mangel
an geschäftlicher Gewandtheit eine externe Anwaltskanzlei von Anfang an
beauftragt werden kann und dies schadensadäquat sein soll, ist auf Grund der
dargelegten wachsenden Komplexität und unübersichtlich gewordener
Rechtsprechung zum Ansatz und Angemessenheit einzelner Schadenspositionen
als überholt anzusehen (vgl. auch AG Coburg, Urt. v. 22.09.2005 - 15 C 828/05).
Nach Auffassung des erkennenden Gerichts kann der nicht rechtskundige und
nicht über eine Rechtsabteilung verfügende Geschädigte - im Streitfall die Klägerin
- die Kosten eines Rechtsanwaltes in voller Höhe von dem Schädiger als adäquat
kausalen Schaden aus einem Verkehrsunfallereignis ersetzt verlangen kann.
3. Auch die Höhe der Klageforderung ist nicht zu beanstanden. Bei der geltend
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3. Auch die Höhe der Klageforderung ist nicht zu beanstanden. Bei der geltend
gemachten 1,3 Geschäftsgebühr (ohne MwSt.) aus einem Gegenstandswert von
2.379,78 € handelt es sich um die sogenannte Schwellengebühr. In VV-Nr. 2400
RVG heißt es dazu, dass eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden kann,
wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Wenn Umfang und
Schwierigkeit der Sache nur von durchschnittlicher Bedeutung sind, verbleibt es
nach der Gesetzesbegründung von der Schwellengebühr, die mit 1,3 zur
Regelgebühr wird. Anders als bei der Mandatierung eines Anwalts zur bloßen
Durchsetzung eines Kaufpreisanspruchs eines beispielsweise schriftlich oder über
das Internet zustande gekommenen Kaufvertrags handelt es sich bei der
Unfallabwicklung in keinem Falle um eine „einfachst gelagerte Tätigkeit“. An
„Unwägbarkeiten“ für den Geschädigten im Rahmen der Schadensabwicklung
nach einem Verkehrsunfall seien hier - neben der bereits erwähnten abstrakten
Verweisung auf die Reparatur in einer freien Werkstatt - die Ansatzmöglichkeit von
Wertminderung, Verbringungskosten bei Unfallersatztarif, die Höhe der
Sachverständigenentschädigung oder der Abwicklungspauschale genannt. Diese
Liste ließe sich ohne weiteres weiter fortführen. Dass aus alledem folgt, dass die
Regulierung eines Verkehrsunfalls für den Anwalt des Geschädigten niemals nur
eine „einfache Tätigkeit“ sein kann, sollte sich auch für die Beklagte erschließen.
Somit handelt es sich immer bei jeder Unfallabwicklung um eine Sache von
durchschnittlicher Bedeutung mit der Folge, dass die Schwellengebühr von 1,3
anzusetzen ist (vgl. auch OLG München, Urt. v. 19.07.2006 - 10 U 2476/07 =
VersR 2007, 267).
Ein anderes ergibt sich im Streitfall auch nicht aus der Tatsache, dass das
Anspruchsschreiben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 03.11.2008
„nur“ eine Zusammenstellung und Addition der geforderten Beträge enthält. Denn
einem jeden Anspruchsschreiben eines Rechtsanwaltes geht eine rechtliche
Prüfung der Sach- und Rechtslage durch den beauftragten Rechtsanwalt voraus,
welche von dem Rechtsunkundigen aus den dargelegten Gründen gerade nicht
vorgenommen werden kann. Wenn das Ergebnis einer solchen Prüfung - zunächst
- ein „einfaches“ bzw. kurzes Anspruchsschreiben ist, so lässt dies keinen
Rückschluss auf den tatsächlichen Umfang der Tätigkeit des Rechtsanwaltes bzw.
die Komplexität einer geleisteten Rechtsberatung zu. Wäre das Gegenteil der Fall,
so könnte ein Rechtsanwalt - anders als rechtlich zulässig und in der Praxis üblich -
für vermeintlich „einfach gelagerte“ Anspruchsschreiben im Falle
zahlungsunwilliger Schuldner nicht eine 1,3-Geschäftsgebühr, sondern allenfalls
eine 0,3 Gebühr für ein Schreiben einfacher Art abrechnen. Im Übrigen ist
anzumerken, dass sich guter Rechtsrat - dies mag die Beklag angesichts der
Länge der Schriftsätze einiger auf die Vertretung von großen
Versicherungsunternehmen spezialisierter Kanzleien mithin überraschen - im
Ergebnis nicht durch das Abfassen überlanger Schriftsätze auszeichnet. Guter
Rechtsrat ist nun aber unabhängig von der Länge der gefertigten Schriftsätze -
auch dies muss die Beklagte einsehen - teuer.
4. Der Zinsanspruch ist gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB begründet, da die Beklagte
die Erstattung der Rechtsanwaltskosten mit Schreiben vom 26.11.2008 ernsthaft
und endgültig verweigert hat.
5. Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.