Urteil des AG Hamm vom 04.11.2010

AG Hamm (deutschland, kind, polen, vater, rückführung, bundesamt für justiz, wohl des kindes, ende der frist, beschwerde, rückkehr)

Amtsgericht Hamm, 3 F 512/10
Datum:
04.11.2010
Gericht:
Amtsgericht Hamm
Spruchkörper:
Familiengericht
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 F 512/10
Normen:
HKÜ Art. 13 Abs. 2
Tenor:
I.
Der Antrag vom 5.10.2010 wird zurückgewiesen.
II.
Die Gerichtskosten werden gegeneinander aufgehoben.
Jede Partei trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Der Gegenstandswert für das Verfahren wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
1
I.
2
Aus der am 26.7.1997 in Jablonna/Polen geschlossenen Ehe der Kindeseltern sind die
Kinder Andzelika, geboren 14.9.1997 und Dominika, geboren 21.1.1999
hervorgegangen. Sie sind sämtlich polnische Staatsangehörige.
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Jedenfalls seit Sommer 2009 kriselte es dergestalt in der Ehe, dass die Kindeseltern
getrennt innerhalb der Wohnung, die sich in Jablonna befand, lebten.
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Im Oktober beantragten die Eheleute Q für die Kinder. Es ist streitig, ob sie in diesem
Zusammenhang einen späteren Wegzug der Kindesmutter mit den Kindern nach
Deutschland gemeinsam entschieden haben.
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Die Kindesmutter hatte über das Internet Herrn X, der in Deutschland wohnte, kennen
gelernt und, ohne dass ihr Mann davon wusste, eine Beziehung zu diesem begonnen.
Sie entschied dann, zu diesem nach Deutschland zu ziehen. Die Kinder, die sie
einweihte, wollten beide mit ihr gehen. Sie packten daraufhin geheim vor dem Vater ihre
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Sachen.
Am 25.11.2009 holte Herr X die Kindesmutter und die beiden Kinder in Jablonna ab und
nahm sie und ihre persönlichen Sachen, soweit sie in das Auto passten, mit nach
X2/Deutschland. Der Kindesvater, der sich bei der Arbeit befand, wusste hiervon nichts.
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Andzelika fühlte sich in Deutschland nicht wohl und wollte wieder zurück nach Polen.
Die Kindesmutter nahm daraufhin telefonisch Kontakt mit dem Kindesvater auf und sie
entschieden gemeinsam, dass Andzelika wieder in Polen beim Vater leben sollte. Am
28.12.2009 holten zwei Verwandte daraufhin Andzelika bei der Kindesmutter ab, der in
der Nähe wartende Kindesvater kam noch in X2 hinzu und brachte Andzelika nach
Jablonna, wo sie seitdem beim Vater wohnt.
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Dominika lebt weiter mit der Mutter und Herrn X in X2. Am 1.10.2010 gebar die
Kindesmutter ein Mädchen, dessen biologische Vater Herr X sein soll.
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Die Kindeseltern streiten, ob der Kindesvater sich mit dem Verbleib von Dominika in
Deutschland einverstanden erklärt hat.
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Am 12.4.2010 ging beim Amtsgericht X2 (Az. 24 F 68/10, jetzt AG I, Az. 523/10) ein
einstweiliger Anordnungsantrag der Kindesmutter auf Ausschluss des Umganges
zwischen dem Kindesvater und Dominika ein. Am 10. bzw. 18.8.2010 gingen beim
Amtsgericht X2 ein Antrag der Kindesmutter auf Alleinsorge für Dominika (Az. 157/10,
jetzt AG I, Az. 3 F 522/10) und entsprechender einstweiliger Anordnungsantrag (Az.
162/10, jetzt AG I, Az. 3 F 524/10) ein.
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Am 24.8.2010 wies das Amtsgericht X2 in dem Verfahren Aktenzeichen 24 F 36/10 den
Scheidungsantrag der Kindesmutter vom 16.2.2010 zurück. Das Gericht erklärte sich für
international unzuständig. Seit demselben Tag wird das Gewaltschutzverfahren der
Kindesmutter gegen den Kindesvater, AG X2, Az. 24 F 67/10 nicht weiterbetrieben.
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Am 24.8.2010 bzw. 26.8.2010 setzte das Amtsgericht X2 das einstweilige
Anordnungsverfahren Umgang und das elterliche Sorgeverfahren bis zur Entscheidung
des hiesigen Verfahrens aus und gab diese Verfahren sowie das einstweilige
Anordnungsverfahren elterliche T2 am 14.10.2010 an das Amtsgericht I ab. Das
Amtsgericht I setzte das zuletzt genannte Verfahren am 28.10.2010 aus. Mit Schriftsatz
vom 01.09.2010 nahm die Kindesmutter den einstweiligen Anordnungsantrag elterliche
T2 zurück.
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Der Kindesvater beantragt beim erstinstanzlichen Gericht in Lublin/Polen die alleinige
elterliche T2 für beide Kinder.
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Am 7.10.2010 ging der Rückführungsantrag des Kindesvaters beim Gericht ein. Mit
Beschluss vom 8.10.2010 wurde der Verfahrensbeistand bestellt.
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Der Antragsteller begehrt die Rückführung von Dominika unter Berufung darauf, dass
die Antragsgegnerin sein Mitsorgerecht verletzt habe. Er behauptet, sich nie
einverstanden mit einem Umzug nach bzw. dem Verbleib von Dominika in Deutschland
einverstanden erklärt zu haben. Mit der Erstellung von Pässen sei er einverstanden
gewesen, da die Kindesmutter angegeben habe, diese zu benötigen, um die Bekannte
namens Larissa in der Ukraine zu besuchen.
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Der Antragsteller beantragt, das Kind Dominika an ihn zum Zwecke der sofortigen
Rückführung des Kindes nach Polen herauszugeben.
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Ergänzend regt er Vollstreckungsmaßnahmen an.
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Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag zurückzuweisen.
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Sie beruft sich darauf, dass die Ehe durch erheblichen Alkoholmissbrauch,
Gewaltanwendungen und Beleidigungen durch den Kindesvater ihr gegenüber und
auch gegenüber den Kindern gezeichnet gewesen sei.
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Sie behauptet, im Oktober 2010 habe sie dem Kindesvater gesagt, sie wolle Q, da sie
mit den Kindern nach Deutschland verreisen wollte, was den Umzug bedeutet hätte. Sie
habe gesagt, sie wolle mit den Kindern nach Deutschland umziehen, wo sie eine
bessere Zukunft hätten. Er habe gesagt, sie solle machen was sie wolle, sie könnten
verreisen wohin sie wollten.
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Am 25.11.2009 habe es einen Streit zwischen ihnen gegeben. Sie habe ihn nicht über
den Wegzug informieren können, da man ihm das nicht habe sagen können.
22
Sie ist der Auffassung, dass der Kindesvater, indem er im Dezember nur Andzelika mit
zurück nach Polen genommen habe, konkludent sein Einverständnis mit dem Verbleib
von Dominika in Deutschland erklärt habe.
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Sie behauptet, im Dezember 2009 habe er sie auch angerufen und direkt gesagt, wenn
dies Dominikas Wunsch sei, dann solle sie in Deutschland bleiben.
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Sie meint, das Verbringen in einen anderen Staat der Europäischen Union sei keine
Kindesentführung. Auch habe Dominika ihren gewöhnlichen Aufenthalt nun bereits seit
Ende 2009 in Deutschland.
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Sie beruft sich ferner darauf, dass mit der Rückführung von Dominika die Gefahr eines
körperlichen und seelischen Schadens für das Kind verbunden sei. Dies begründet sie
mit Gewalthandlungen des Kindesvaters während des Zusammenlebens und seiner
späteren Drohung gegenüber dem Kind, ihr aufzulauern. Auch habe Dominika eine
feste soziale Bindung zur Kindesmutter, so dass die Rückführung sie in eine
unzumutbare M versetzen würde. Ihr als Kindesmutter sei die Rückkehr nach Polen
nicht zumutbar aufgrund der Gewaltanwendungen durch den Kindesvater und wegen
des Neugeborenen. Dominika lehne aufgrund des erschütterten
Vertrauensverhältnisses zum Kindesvater seit Monaten jeden Kontakt mit ihm ab.
Außerdem lehne sie, die in Deutschland gut integriert sei, die Rückkehr nach Polen ab.
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Schließlich sei es auch unzumutbar, dass der Kindesvater die Jahresfrist fast
ausgeschöpft habe, obwohl ihm der Aufenthalt des Kindes bekannt gewesen sei.
27
Das Jugendamt X2 und der Verfahrensbeistand haben berichtet.
28
Das Gericht hat die Kindeseltern, das Kind, die Vertreterin des Jugendamtes und den
Verfahrensbeistand persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörungen wird
auf Protokoll und Kindesanhörungsvermerk vom 3.11.2010 Bezug genommen.
29
II.
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Der Rückführungsantrag ist zulässig, insbesondere ist das angerufene Gericht örtlich
zuständig gemäß § 12 Abs. 1 des Gesetzes zum Internationalen Familienrecht.
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III.
32
Der Rückführungsantrag ist zurückzuweisen, da er nicht begründet ist.
33
1.
34
Die Voraussetzungen einer Rückführung richten sich nach dem Haager
Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom
25.10.1980 (im Folgenden "HKÜ" genannt) in Verbindung mit Artikel 11 der Verordnung
(EG) Nr. #####/####des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren
betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr.
#####/####(im Folgenden "Brüssel II a – VO" genannt).
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2.
36
Das Haager Übereinkommen gilt in Polen in Bezug auf Deutschland seit dem
01.02.1993, in Deutschland ist es seit dem 01.12.1990 in Kraft.
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3.
38
Das Abkommen findet Anwendung, da Dominika das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat.
39
4.
40
Die Antragsgegnerin hat Dominika am 25.11.2009 widerrechtlich verbracht im Sinne
des Artikel 3 HKÜ. Dies ist dann der Fall, wenn ein Kind unter Verletzung des
Sorgerechtes widerrechtlich aus einem Vertragsstaat, in dem es seinen gewöhnlichen
Aufenthaltsort hatte, in einen anderen Vertragsstaat verbracht wird. Dies ist hier der Fall.
41
a)
42
Dominika hatte vor dem Verbringen ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Artikel
4 HKÜ in Polen. Dort wohnte sie zusammen mit den Eltern und ihrer Schwester.
43
b)
44
Seit dem 25.11.2009 hat Dominika nun ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
45
c)
46
Die Kindesmutter handelte widerrechtlich. Ihr stand die Entscheidung über einen
Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes der Kinder nach Deutschland nur zusammen
mit dem Kindesvater zu. Nach Artikel 93 § 1 des polnischen Familien- und
Vormundschaftsgesetzbuches vom 25.02.1964 hatten die Eltern zum Zeitpunkt des
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Wegzuges die gemeinsame elterliche T2 für das während der Ehe geborene Kind
Dominika.
Eine anderweitige Regelung bei Trennung oder Scheidung nach Artikel 107 § 2 war
nicht getroffen. Nach Artikel 97 § 2 haben die Eltern bei gemeinsamer elterlicher T2 in
wesentlichen Angelegenheiten gemeinsam zu entscheiden. Hierzu zählt der Umzug in
ein anderes Land, auch in ein anderes europäisches Land.
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Die Frage, ob der Kindesvater mit dem Umzug einverstanden war, ist später im Rahmen
des Artikel 13 HKÜ zu erörtern.
49
d)
50
Der Antragsteller hat die T2 für Dominika auch tatsächlich ausgeübt. Er lebte mit dem
Kind in einem Haushalt.
51
5.
52
Die Voraussetzungen des Artikel 13 HKÜ, modifiziert durch Artikel 11 der Brüssel II a-
VO, wonach unter bestimmten Voraussetzungen eine Rückführung nicht anzuordnen ist,
liegen hier vor.
53
Es handelt sich hierbei um einen Ausnahmezustand. Werden die Befugnisse des
Mitsorgeberechtigten durch eigenmächtiges Verbringen des Kindes in das Ausland bzw.
Zurückhalten des Kindes im Ausland praktisch außer Kraft gesetzt und wird somit der
persönliche Kontakt des Kindes nachhaltig erschwert oder gar ausgeschlossen,
entspricht dies im Zweifel nicht dem Kindeswohl. Ob und unter welchen
Voraussetzungen ein Aufenthaltsrecht im konkreten Einzelfall doch mit dem Kindeswohl
vereinbar ist, ist letztlich der Entscheidung der nach dem früheren gewöhnlichen
Aufenthalt des Kindes für das Sorgerecht zuständigen Gerichte vorbehalten
(Bundesverfassungsgericht FamRZ 1997, 1269). Über diese Frage haben
dementsprechend die Gerichte des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsortes zu
entscheiden. Um diese Sorgerechtsentscheidung sicherzustellen, ist nach Maßgabe der
Bestimmungen des HKÜ grundsätzlich die schnellst mögliche Rückführung des
widerrechtlich in einen anderen Vertragsstaat verbrachten oder dort zurückgehaltenen
Kindes anzuordnen. Der Ausnahmetatbestand des Artikel 13 HKÜ ist deswegen
restriktiv auszulegen (Bundesverfassungsgericht, FamRZ 1999, 885). Die
Voraussetzungen des Artikel 13 HKÜ sind dabei in Abkehr des
Amtsermittlungsgrundsatzes vom entführenden Elternteil schlüssig darzulegen und zu
beweisen. Dies ist hier geschehen.
54
a)
55
Die Voraussetzungen des Artikel 13 Absatz 1 a HKÜ in der Form, dass der Antragsteller
dem Verbringen zugestimmt hat oder es nachträglich genehmigt hat, liegen nicht vor.
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Eine Zustimmung im Zusammenhang mit der Passerteilung hat die Kindesmutter trotz
Hinweises nicht substantiiert vorgetragen und bewiesen. Sie kann weder Einzelheiten
wie Datum, nähere Begebenheiten schildern noch den genauen Gesprächsinhalt.
Insoweit trägt sie auch widersprüchlich und ungenau vor. Erst gibt sie an, mit dem
Kindesvater über ein "Verreisen" nach Deutschland gesprochen zu haben. Ihrer
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Ergänzung, dies bedeute einen Umzug, kann das Gericht nicht folgen. Dann behauptet
sie, konkret über einen Umzug nach Deutschland gesprochen zu haben. Letztlich beruft
sie dann auf das, juristisch nicht relevante, Einverständnis der Kinder. Insgesamt
erscheint die Kindesmutter auch nicht glaubwürdig, soweit sie zustimmende Angaben
des Vaters behauptet. So musste sie auf gerichtlichen Vorhalt zunächst getätigte
Angaben zum 28.12.2009 zurücknehmen, was zeigt, dass sie, um den Kindesverbleib
zu erreichen, nicht vor falschen Angaben zurückschreckte.
Auch hat sie keine nachträgliche Genehmigung durch den Kindesvater dargetan und
bewiesen.
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Hierfür reicht es nicht aus, dass er mit der Rückkehr von Andzelika einverstanden war
und diese hat abholen lassen, ohne auch die Rückkehr von Dominika zu fordern.
Alleine aus seinem Unterlassen, auch die Rückkehr des zweiten Kindes zu verlangen,
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kann keine konkludente Genehmigung gesehen werden. Hierfür bedarf es mehr.
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Eine Genehmigung in einem Telefonat im Dezember 2009 hat die Kindesmutter
ebenfalls trotz Hinweises nicht substantiiert vorgetragen und bewiesen. Sie macht auch
insoweit nur sehr pauschale Angaben ohne Details. Ihre Begründung, der Kindesvater
habe aufgrund des Gewaltschutzverfahrens seine Meinung geändert, überzeugt in
keinster Weise, da dieses erst viel später, nämlich im April 2010 von ihr eingeleitet
worden ist. Auch trägt sie widersprüchlich vor, gibt selber an, der Vater habe in diesem
Telefonat auch gesagt, in Polen einen Sorgerechtsantrag zu stellen. Diese Angabe
macht deutlich, dass er gerade nicht mit dem dauerhaften Verbleib des Kindes in
Deutschland einverstanden war.
61
b)
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Es sind auch keine schwerwiegenden Schäden für das körperliche und seelische Wohl
des Kindes bewiesen, die gemäß Artikel 13 Abs. 1 b HKÜ einer Rückführung
entgegenstehen würden. Hiernach besteht keine Verpflichtung, die Rückgabe
anzuordnen, wenn durch die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, nachgewiesen
wird, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder
seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in
eine unzumutbare M gebracht wird. Hierbei sind alleine mit der Rückführung
typischerweise verbundene Beeinträchtigungen nicht geeignet, eine
Rückführungsanordnung in Frage zu stellen. Denn durch das Abkommen soll zum
Einen einer Kindesentführung vorgebeugt werden, zum Anderen soll die
Sorgerechtsentscheidung am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes
sichergestellt werden. Die strikte Regel, dass alleine das ursprünglich international
zuständige Gericht unter Berücksichtigung des Kindeswohles über die elterliche T2
entscheidet, soll verhindern, dass durch die Entführung geschaffene vollendete
Tatsachen von vornherein ein Übergewicht bekommen (Bundesverfassungsgericht
FamRZ 1997, 1269). Eine Berücksichtigung der zwangsläufig mit jeder Rückführung
verbundenen Belastung für das Kind würde dem so zu verstehenden Schutz des Kindes
widersprechen.
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Bei der Bewertung dieser Vorschrift ist deswegen eine eingeschränkte Auslegung
geboten. Nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohles,
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die über die mit einer Rückführung gewöhnlich verbundenen Schwierigkeiten
hinausgehen, dürfen Berücksichtigung finden (Bundesverfassungsgericht FamRZ1996,
405). Die Gefahr muss sich also als besonders erheblich, konkret und aktuell darstellen.
Denn die Hinnahme eines Rechtsbruches durch den zurückhaltenden Elternteil ist nur
bei ungewöhnlich schwerwiegender Beeinträchtigung des Kindeswohles gerechtfertigt
(Bundesverfassungsgericht, FamRZ 1999, 85). Solche schwerwiegenden Gefahren sind
hier weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Der mit der Rückführung des Mädchens verbundene Wegfall der Umgebung und der
Mutter als Hauptbezugsperson bedeutet sicherlich eine seelische Belastung des
Kindes. Hauptbezugsperson ist die Kindesmutter, mit der sie seit der elterlichen
Trennung am 25.11.2009 zusammenlebt. Dominika besucht seit fast einem Jahr in X2
die Schule. Sie ist, wovon das Gericht sich im Rahmen der Kindesanhörung selbst
überzeugt hat, in X2 gut integriert, fühlt sich wohl. All dies reicht für die Annahme einer
schwerwiegenden Gefährdung aber nicht aus. Die Unterbrechung der gegenwärtigen
Lebenssituation ist typische Folge der von dem entführten Elternteil einseitig und
widerrechtlich herbeigeführten M und ist damit grundsätzlich als unvermeidbar
hinzunehmen (Bundesverfassungsgericht FamRZ 1996, 405). Außerdem steht es der
Mutter frei und ist ihr als entführendem Elternteil auch zuzumuten, mit dem Kind
zusammen für die Dauer des polnisches Sorgerechtsverfahrens nach Polen
zurückzukehren. Da sie nicht mit dem Kindesvater zusammenziehen muss und ihr in
Polen Schutz vor Gewalt gewährt wird, steht eine Gewaltbereitschaft des Kindesvaters
dem nicht entgegen. Auch das Neugeborene ist kein Grund, da es ihr frei steht, dieses
mitzunehmen. Eine eventuelle Trennung vom Partner ist hinzunehmen. Eine konkrete
Kindeswohlgefahr besteht nicht.
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Eine solche konkrete Gefahr folgt auch nicht aus den von der Kindesmutter
beschriebenen Verhaltensweisen des Kindesvaters in der Vergangenheit. Zwar ist das
Gericht nach dem Ergebnis der Kindesanhörung davon überzeugt, dass Dominika
sowohl Gewalt durch den Kindesvater an sich als auch an der Mutter und der Schwester
ausgeübt erlebt hat. Dominika hat im Rahmen ihrer Anhörung den Eindruck gemacht,
Gewalterfahrung durch den Vater tatsächlich gemacht zu haben. Dies bedeutet eine
erhebliche Belastung des Kindeswohles. Alle hiermit verbundenen Gefahren kann die
Antragsgegnerin aber abwenden, indem sie selber mit dem Kind für die Dauer eines
Sorgerechtsverfahrens in das Heimatland zurückkehrt.
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c)
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Es liegt aber der Ausnahmetatbestand des Artikel 13 Absatz 2 HKÜ vor, wonach von
einer Rückgabeanordnung abgesehen werden kann, wenn das Kind sich widersetzt und
dieses das Alter und die Reife erlangt, angesichts deren es angebracht erscheint, seine
Meinung zu berücksichtigen. Voraussetzung ist, dass das Kind aus freien T und nicht
erkennbar maßgeblich durch den entführenden Elternteil beeinflusst mit Nachdruck die
Rückkehr in den Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes ablehnt, sich dagegen in
ungewöhnlich starkem Maße sträubt und das Kind angesichts seines Alters und seiner
Reife dies aufgrund seiner verantwortungsbewussten Entscheidung tut, wobei
hinsichtlich des Alters keine absolute Grenze existiert (OLG C, NJW-RR 1997,902).
Dies ist hier der Fall.
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Dominika sträubt sich nachdrücklich gegen eine Rückkehr nach Polen. Bereits wenige
Wochen nach ihrem Wegzug nach Deutschland nahm sie die Trennung von ihrer
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Schwester, an der sie deutlich hängt, in Kauf, weil sie in Deutschland bleiben wollte. Sie
hält seitdem kontinuierlich hieran fest, sowohl gegenüber dem Vater als auch wiederholt
gegenüber dem Jugendamt und dem Verfahrensbeistand. Auch im Rahmen ihrer
richterlichen Anhörung hat sie sehr ruhig, begründet und in der Sache bestimmt
angegeben, auf jeden Fall in Deutschland bleiben zu wollen. Vor die Alternativen
gestellt, mit Andzelika in Polen oder getrennt von dieser in Deutschland zu leben, hat
sie sich ohne Zögern eindeutig für den Verbleib in Deutschland entschieden. Sie hat
mehrere Gründe hierfür angegeben, die sämtlich glaubhaft und nachvollziehbar sind. So
ist sie zum einen froh, aus der belastenden Situation zwischen den streitenden Eltern
und dem gewalttätigen Vater heraus zu sein. Zum anderen gefällt ihr das Leben hier
deutlich besser, in dem sie im Vergleich zu ihrer Situation in Polen hier eine beste
Freundin und viele Freunde hat und ihr die schulische Situation mit hilfsbereiterer
Lehrerin und Arbeitsgemeinschaften, die ihr Spaß machen, besser gefällt. Ihr gefällt das
Zusammenleben mit dem Lebensgefährten, den sie aus eigener Initiative "Papa" nennt
und dem Neugeborenen. Dominika hat dabei keinen maßgeblich von der Mutter
beeinflussten Eindruck gemacht. Sie hat ihren Standpunkt sehr ruhig aus ihrer Sicht in
kindlichen Worten geschildert. Wäre sie beeinflusst gewesen, dann hätte es
nahegelegen, dass auch sie, so wie die Kindesmutter, den Sachverhalt betreffend die
Frage der nachträglichen Genehmigung durch den Vater falsch dargestellt hätte. Das ist
aber nicht der Fall. Sie hatte auch keine überzogenen Belastungstendenzen betreffend
den Vater. So konnte sie z. B. selber erkennen, dass es dem Vater gegenüber nicht fair
war, einfach wegzufahren ohne ihn zu informieren. Ihre gute Einbindung in Deutschland
lässt sich auch objektiv feststellen. So bemüht Dominika sich sehr aktiv um Integration:
sie hat viele Freunde, mit diesen spricht sie alleine deutsch, spricht die Sprache, wovon
das Gericht sich überzeugt hat, bereits sehr gut.
Dominika trifft nach Überzeugung des Gerichtes eine verantwortungsvolle Entscheidung
mit ausreichendem Alter und Reife. Dominika wird in 2 Monaten 12 Jahre alt. Sie
erscheint sehr weit für ihr Alter. Auch die Reife ist ihr zuzusprechen. Ihr sind die
schmerzhaften Konsequenzen, dann nicht mit der Schwester zusammenzuleben,
durchaus bewusst. Sie hat im Rahmen ihrer richterlichen Anhörung auf die Frage, was
wäre, wenn sie mit ihrer Mutter zurück nach Polen müsste, gesagt, dann müsse sie
mitkommen, da sie ja nicht hier alleine bleiben könne. Diese sehr realistische
Einschätzung zeigt sehr deutlich ihre Reife. Diese Haltung relativiert auch keinesfalls
die Nachdrücklichkeit ihres Sträubens. So hat sie dieser Angabe direkt angefügt, sie
wolle aber in Deutschland bleiben. Wie ernst es ihr hiermit ist, hat sie auch eindrucksvoll
darin gezeigt, dass sie ihre Meinung auch beibehalten hat, obwohl sie die von ihr
geliebte Schwester im Gericht erstmalig wieder getroffen hat. Sie war sogar, obwohl sie
die Schwierigkeiten sah, bereit, dem Vater selber ihre Haltung klarzumachen, da dies
die Chance vergrößerte, dass dieser ihre Haltung als von echter Überzeugung getragen
erkennen konnte. So war der Vater nach dem Gespräch mit Dominika auch sehr
betroffen. Auch ihm scheint die Abwehrhaltung des Kindes klargeworden zu sein. So hat
sie ihm nicht nur gesagt, dass sie in Deutschland bleiben will, sondern hat durch ihre
abwehrende Körperhaltung und die Tatsache, dass sie dem Vater deutsch geantwortet
hat, sehr klar deutlich gemacht, wie ernst es ihr ist.
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Nach alledem ist, auch unter besonderer Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich
um einen engen Ausnahmetatbestand handelt, nach fester Auffassung des Gerichtes
die Meinung dieses Kindes zu berücksichtigen.
72
6.
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Die Einschränkung gemäß Artikel 12 Absatz 2 HKÜ gilt nicht. Hiernach ist dann,
74
wenn der Antrag beim Gericht oder der Verwaltungsbehörde erst nach Ablauf von einem
Jahr nach dem Verbringen eingegangen ist, die Rückgabe nicht anzuordnen,
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sofern erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat. Der
Antrag ist hier vor Ablauf der Jahresfrist gestellt. Aus der Tatsache, dass der
Antragsteller den Antrag erst recht kurz vor Ablauf der Jahresfrist gestellt hat, erwachsen
ihm keine Nachteile.
76
7.
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Die Entscheidung wird erst mit Rechtskraft wirksam.
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Das erstinstanzliche Gericht hat keine Möglichkeit, die sofortige Wirksamkeit
anzuordnen, § 40 Abs. 3 IntFamRVG.
79
8.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 20 Abs. 2 IntFamRVG in Verbindung mit §§ 81, 92
Abs. 2 FamFG, Artikel 26 Abs. 4 HKÜ. Sie berücksichtigt, dass der Tatbestand einer
Kindesentführung vorliegt und der Antrag alleine wegen des Ausnahmetatbestandes
des entgegenstehenden Kindeswillens keinen Erfolgt hat.
81
9.
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Das Gericht weist darauf hin, dass es gemäß Artikel 11 Absatz 6 Brüssel IIa-VO über
das Bundesamt für Justiz als deutscher Zentraler Behörde der polnischen Zentralen
Behörde eine Abschrift dieser Entscheidung und die entsprechenden Unterlagen
übermittelt.
83
10.
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Gegen diesen Beschluss ist das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben.
Beschwerdeberechtigt ist derjenige, dessen Rechte durch den Beschluss beeinträchtigt
sind. Gegen eine Entscheidung, die zur Rückgabe des Kindes verpflichtet, steht die
Beschwerde nur dem Antragsgegner, dem Kind, soweit es das 14. Lebensjahr vollendet
hat, und dem beteiligten Jugendamt zu. Die Beschwerde ist beim Amtsgericht –
Familiengericht - I, C-Straße, ####1 I schriftlich in deutscher Sprache oder zur
Niederschrift der Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerde kann auch zur
Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichts abgegeben werden.
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Die Beschwerde muss mit Begründung spätestens innerhalb von zwei Wochen nach
der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses bei dem Amtsgericht – Familiengericht -
I eingegangen sein. Dies gilt auch dann, wenn die Beschwerde zur Niederschrift der
Geschäftsstelle eines anderen Amtsgerichts abgegeben wurde. Die Frist beginnt mit der
schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses an den jeweiligen Beschwerdeführer. Wenn
an diesen eine schriftliche Bekanntgabe nicht bewirkt werden kann, beginnt die Frist für
diesen Beschwerdeführer spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach Erlass des
Beschlusses. Fällt das Ende der Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag
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oder Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages.
Die Beschwerdeschrift muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie
die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie
ist vom Beschwerdeführer oder seinem Bevollmächtigten zu unterzeichnen. Darüber
hinaus muss der Beschwerdeführer einen bestimmten Sachantrag stellen und diesen
begründen.
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