Urteil des AG Gummersbach vom 08.07.2009

AG Gummersbach: fahrzeugführer, mobiltelefon, gespräch, unterhaltung, einspruch, aufnehmen, rechtfertigung, fahren, offenkundig, vergleich

Amtsgericht Gummersbach, 85 OWi 196/09
Datum:
08.07.2009
Gericht:
Amtsgericht Gummersbach
Spruchkörper:
Abteilung 85
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
85 OWi 196/09
Tenor:
wird das Verfahren nach Artikel 100 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes
für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. I Seite 1,
BGBl. III 100-1), zuletzt geändert durch Gesetz zur Änderung des
Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I Seite 2034) ausgesetzt,
weil das Gericht § 23 Absatz 1a Satz 1 der Straßenverkehrsordnung
(StVO), auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für
verfassungswidrig hält und deshalb die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts einholt.
G r ü n d e:
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I.
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Die Bußgeldstelle des oberbergischen Kreises hat mit Bußgeldbescheid vom 18.
Januar 2009 –Aktenzeichen 30.3.7 – 7600.0305 674.4 – gegen den Betroffenen eine
Geldbuße von 245,00 Euro festgesetzt.
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Zur Begründung hat die Bußgeldstelle in diesem Bescheid nach der Grußformel –
wörtlich – u.a. ausgeführt:
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… Ihnen wird vorgeworfen, am 25.11.2008 um 12:15 Uhr in Gummersbach,
A- Str., Höhe - / - als Führer des LKW Iveco, amtliche(s) Kennzeichen
#####, folgende (Verkehrs-) ordnungswidrigkeit(en) begangen zu haben:
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Sie benutzten als Führer des Kraftfahrzeuges verbotswidrig ein Mobil- oder
Autotelefon, indem Sie hierfür das Mobiltelefon oder den Hörer des
Autotelefons aufnahmen oder hielten.
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§ 23 Abs. 1a, § 49 StVO; § 24 StVG; - BKat
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Sie führten den vorgeschriebenen Führerschein nicht mit.
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§ 4 Abs. 2, § 75 FeV; § 24 StVG; 168 BKat
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Gegen diesen Bußgeldbescheid hat der Betroffene nach § 67 des Gesetzes über
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Ordnungswidrigkeiten (OWiG) Einspruch eingelegt.
Die Verwaltungsbehörde hat dem Einspruch nicht abgeholfen und die Akten nach § 69
Absatz 3 Satz 1 (1. Halbsatz) OWiG der Staatsanwaltschaft Köln übersandt, bei der sie
am 13. März 2009 eingegangen sind.
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Die Staatsanwaltschaft hat weder das Verfahren eingestellt noch weitere Ermittlungen
durchgeführt und deshalb die Akten nach § 69 Absatz 4 Satz 2 OWiG dem örtlich und
sachlich zuständigen Richter beim Amtsgericht Gummersbach vorgelegt, bei dem sie
am 20. März 2009 eingegangen sind.
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Von den Möglichkeiten nach § 69 Absatz 5 OWiG hat das Gericht keinen Gebrauch
gemacht.
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§ 23 Absatz 1a Satz 1 StVO untersagt dem Fahrzeugführer die Benutzung eines Mobil-
oder Autotelefons, wenn er hierfür das Mobiltelefon oder den Hörer des Autotelefons
aufnimmt oder hält.
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Für die angesichts der Beachtung der Vorschriften über die Einlegung des Einspruchs
nunmehr erforderlich gewordenen Entscheidung nach den §§ 71 ff OWiG kommt es auf
die Gültigkeit des § 23 Absatz 1a Satz 1 StVO an.
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II.
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Das zur Entscheidung berufene Gericht hält § 23 Absatz 1a Satz 1 StVO für
verfassungswidrig, nämlich mit Artikel 2 Absatz 1 und dem aus Artikel 3 des
Grundgesetzes abgeleiteten Gleichheitsgrundsatz, dem verfassungsrechtliche
Bedeutung zukommt, für unvereinbar und legt daher die Akten nach Artikel 100 GG dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor.
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Das Gericht stützt seine Überzeugung auf folgende Umstände:
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Nach der amtlichen Begründung zu dieser Vorschrift (zu vgl. Hentschel / König / Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, München 2009 - § 23 StVO Rdnr 4) gewährleistet die
Vorschrift, dass der Fahrzeugführer – und unter diesen Begriff fallen nicht nur auch
Radfahrer, sondern nach verfassungskonformem Verständnis neben männlichen auch
weibliche natürliche Personen – während der Benutzung des Mobil- oder Autotelefons
beide Hände für die Bewältigung der Fahraufgabe frei hat (Unter-streichung durch das
Gericht). Die Benutzung schließt neben dem Gespräch in öffentlichen Fernsprechnetzen
sämtliche Bedienfunktionen wie das Anwählen, die Versendung von Kurznachrichten
oder das Abrufen von Daten im Internet etc. ein.
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Der Fahrzeugführer darf das Mobil- oder Autotelefon benutzen, wenn er dazu das
Telefon oder den Telefonhörer nicht aufnehmen oder halten muss. Insoweit soll es der
Verantwortung des Fahrzeugführers überlassen bleiben, ob er in Kenntnis der auch
dann noch bestehenden Risiken der mentalen Belastung und Ablenkung in der
eigentlichen Fahraufgabe ein Telefongespräch führt. Gleiches gilt für das Betätigen der
weiteren Bedienfunktionen, die unter der genannten Bedingung ebenfalls weiter erlaubt
bleiben. Auch insoweit obliegt es der Verantwortung des Fahrzeugführers, die davon
ausgehenden Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten, z.B. durch die
Anwahl mittels Sprachsteuerung oder zumindest die Eingabe von Kurzwahlnummern,
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um den Wählvorgang möglichst wenig ablenkend zu gestalten.
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Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) aus dem Jahr 1997 hat
ergeben, dass 1996 20 Tote, 100 Schwer- und 450 Leichtverletzte dem Telefonieren am
Steuer zumindest mit ursächlich zuzurechnen waren. Hinzu kam eine nicht
abschätzbare Dunkelziffer.
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Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass sich durch die Benutzung
einer Freisprecheinrichtung während des Telefongesprächs sowohl die Unsicherheits-
Fehler (spätes Bremsen, Nichteinhalten der Fahrspur etc.) als auch die Fahrfehler
(Übersehen von Verkehrszeichen, Fahrten in die falsche Richtung etc.) im Vergleich zu
einem Gespräch ohne Freisprecheinrichtung um mehr als 50 % reduzieren lassen.
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Während des Gesprächs selbst bietet eine Freisprecheinrichtung jedoch, weil beide
Hände für die eigentlichen Fahraufgaben zur Verfügung stehen, entscheidende
Sicherheitsvorteile. Dies gilt für den Kraftfahrzeugverkehr, ist aber auch für den
Fahrradverkehr so offenkundig, dass es zur Rechtfertigung des Verbotes auch für diese
Art der Verkehrsteilnahme keiner weiteren Untersuchung bedarf.
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Nach der amtlichen Begründung soll die Vorschrift des § 23 Absatz 1a Satz 1 StVO also
nicht gewährleisten – und kann dies denkgesetzlich auch nicht – dass der
Fahrzeugführer beide Hände für die Bewältigung der Fahraufgaben auch nutzt, sondern
nur, dass er beide Hände für die Bewältigung der Fahraufgaben nutzen kann.
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Nach dem Gleichheitsgrundsatz ist es dem Gesetzgeber indes verwehrt, ungleiche
Sachverhalte gleich und gleiche Sachverhalte ungleich zu behandeln, wobei ihm
insoweit von Verfassungs wegen ein Bewertungsspielraum eingeräumt ist.
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Im vorliegenden Fall ist dieser jedoch so eingeengt, dass ein Verbot ausschließlich der -
und jeglicher - Benutzung eines Mobil- oder Autotelefons eine Ungleichbehandlung mit
anderen, gleichgelagerten Sachverhalten darstellt, zumal bereits Aufnahme und Halten
(nur) dieser beiden Geräte – und zwar selbst ohne deren Betriebsbereitschaft schon
beim Aufnehmen oder Halten – diesem Verbot unterfallen:
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Obwohl einerseits damit bereits das Aufnahmen des Mobiltelefons selbst zur
Verbringung in die Freisprecheinrichtung verboten ist, hat der Verordnungsgeber keine
Verbote an den Fahrzeugführer dahin ausgesprochen,
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das Headset zur Freisprecheinrichtung erst während des Fahrbetriebs anzulegen,
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freihändig zu fahren,
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mit einer Hand oder sogar mit zwei Händen während des Fahrbetriebs bewegliche
Sachen im Fahrzeug umzuräumen,
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ein Autoradio von Hand oder auch per Fernbedienung zu bedienen und dabei
Gespräche zu führen und/oder Musik zu hören,
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während eines Gesprächs mit einer einwilligungsfähigen Beifahrerin an dieser –
mit ihrem Einverständnis – sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit über
oder unter ihrer Bekleidung vorzunehmen,
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selbstbefriedigende Handlungen vorzunehmen, soweit sie nicht nach den
allgemeinen Strafgesetzen unter Strafe gestellt sind,
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die linke Hand demonstrativ aus dem geöffneten Fenster der Fahrertür baumeln zu
lassen – und gleichzeitig mit Mitfahrern eine Unterhaltung zu führen,
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als Armamputierter die Fahraufgaben ohne Prothese mit nur einer Hand zu
erledigen – und gleichzeitig mit Mitfahrern eine Unterhaltung zu führen,
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ein Diktiergerät aufzunehmen und z.B. einen Bußgeldbescheid, eine Anklage oder
ein Urteil zu diktieren,
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ein Navigationsgerät aufzunehmen und zu programmieren – und dabei Gespräche
mit Mitfahrern zu führen und den insoweit digital wiedergegebenen Anweisungen
des Gerätes zu folgen,
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einen elektrischen Rasierapparat zu benutzen und dabei Gespräche mit Mitfahrern
zu führen,
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ein der Größe eines Mobiltelefons entsprechendes Fernsehgerät zu benutzen und
dabei Gespräche mit Mitfahrern zu führen,
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während andererseits nach dem ungeachtet der technischen Entwicklung seit der
Schaffung des § 23 Absatz 1a Satz 1 StVO unveränderten Wortlaut der Vorschrift es
verboten ist, ein entsprechend ausgerüstetes Mobiltelefon
nur
Fotoapparat oder Diktiergerät zu benutzen.
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