Urteil des AG Frankfurt am Main vom 25.08.2008

AG Frankfurt: nichtbeförderung, hotel, fluggast, verspätung, abflug, reisebüro, vollstreckung, verordnung, ausgleichszahlung, getränk

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Gericht:
AG Frankfurt
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
29 C 884/08 - 21,
29 C 884/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 2 Buchst j EGV 261/2004,
Art 4 Abs 3 EGV 261/2004, Art
7 EGV 261/2004
Luftbeförderungsvertrag: Nichtbeförderung bei
verpasstem Anschlussflug
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 610,00 Euro nebst Zinsen
in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank
seit dem 12.3.2008 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von
110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden,
wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe
von 110 % des jeweils aus dem Urteil zu vollstreckenden Betrages
leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt aus abgetretenem Recht Ausgleichsleistungen nach der
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden: EG-VO). Die Tochter des Klägers,
die Zedentin, buchte am 31.8.2007 über ein Reisebüro in Mannheim einen Flug mit
der Beklagten am 22.12.2007 von Frankfurt am Main nach Schanghai und zurück.
Das Reisebüro entnahm die Flugverbindungen dem Reservierungssystem der
Beklagten. Die Beförderung sollte zunächst um 19.45 Uhr von Frankfurt am Main
nach München mit Flug LH 982, Ankunft München um 20.45 Uhr, sodann um 21.20
Uhr mit Flug LH 726 von München nach Schanghai erfolgen. Für den weiteren
Inhalt des Beförderungsvertrages wird auf die Buchungsbestätigung, Bl. 10 d.A.,
verwiesen. Die Zedentin wurde am 22.12.2007 bereits in Frankfurt am Main bis
Schanghai durchabgefertigt; ihr wurden die Bordkarten für beide Flugabschnitte
ausgehändigt. Der Abflug in Frankfurt am Main verzögerte sich um 56 Minuten. Die
Maschine landete erst um 21.30 Uhr in München. Die Zedentin traf um 21.35 Uhr
am Abflug-Gate des Fluges LH 726 ein; zu diesem Zeitpunkt war der Flug bereits
geschlossen. Die Zedentin wurde auf Kosten der Beklagten in einem Hotel
untergebracht und erhielt zwei Taxi-Gutscheine sowie einen Essens-Gutschein, den
sie im Hotel jedoch nicht einlösen konnte. Am nächsten Tag flog sie mit dem Flug
LH 3112 der Beklagten von München nach Helsinki und von dort mit der Finnair
(AY057) nach Schanghai.
Mit Schreiben vom 17.1.2008 meldete die Zedentin Ansprüche wegen
Nichtbeförderung erstmals bei der Beklagten an. Durch Erklärung vom
29.3./4.2.2008 trat die Zedentin ihre Ansprüche an den Kläger ab. Die Beklagte
lehnte die Ansprüche mit Schreiben vom 5.3.2008 endgültig ab.
Der Kläger ist der Ansicht, er habe aus abgetretenem Recht Anspruch auf
Ausgleichszahlung gemäß Art. 4 i.V.m. Art. 7 der EG-VO wegen Nichtbeförderung.
Die Beklagte habe es zu vertreten, dass die Zedentin ihren Anschlussflug verpasst
habe, so dass eine Nichtbeförderung im Sinne der Definition in Art. 2 lit j EG-VO
vorliege. Der Flug Frankfurt am Main – Schanghai über München (und zurück) sei
als Direktflug im Reservierungssystem hinterlegt gewesen. Eine Umsteigezeit von
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als Direktflug im Reservierungssystem hinterlegt gewesen. Eine Umsteigezeit von
35 Minuten im München sei ausreichend; dies zeige sich schon daran, dass die
Beklagte selbst auf ihrer Website für den 22.12.2008 eine Verbindung Frankfurt am
Main – Peking über München mit dieser Umsteigezeit anbiete. Die Zedentin habe
während der Wartezeit einen Snack sowie ein Getränk verzehrt und hierfür 10,00
Euro ausgegeben.
Der Kläger beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 610,00 Euro zuzüglich
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der
Europäischen Zentralbank seit dem 12.3.2008 zu zahlen;
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von vorgerichtlichen
Anwaltsgebühren in Höhe von 83,54 Euro freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, es liege keine Nichtbeförderung im Sinne der EG-VO vor, da die
Zedentin wegen der äußerst kurzen Umsteigezeit bewusst das Risiko eingegangen
sei, den Anschlussflug zu verpassen. Die Verzögerung des Fluges LH 982 sei auf
notwendige Enteisungsmaßnahmen und das Ausladen von Gepäck eines nicht
zum Boarden erschienenen Fluggastes zurückzuführen, was nicht von der
Beklagten zu vertreten sei. Mangels einer physischen Zurückweisung der Zedentin
liege keine bewusste Entscheidung der Nichtbeförderung vor, so dass Ansprüche
nach der EG-VO ausschieden. Die Beklagte bestreitet eine ordnungsgemäße
Rechnungstellung der vorgerichtlichen Anwaltsgebühren mit Nichtwissen.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien
gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist in der Hauptsache begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte
einen Anspruch aus Art. 4 i.V.m. Art. 7 EG-VO auf Ausgleichszahlung in Höhe von
600,00 Euro. Die Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage liegen vor. Der
Zedentin ist gegen ihren Willen die Beförderung auf dem gebuchten Flug LH 726
verweigert worden. Der Abflug ohne die Zedentin stellt, obwohl ein Zurückweisen
durch die Beklagte im Sinne einer bewussten Entscheidung nicht vorliegt, eine
Nichtbeförderung nach Art. 2 lit j i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EG-VO dar. Gemäß Art. 2 lit j
EG-VO ist unter dem Begriff der Nichtbeförderung die Weigerung zu verstehen,
Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Art. 3 Abs. 2 EG-VO
genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine
vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind. Obwohl Art. 4 EG-VO
auf den ersten Blick die Fälle von Überbuchungen erfasst, spricht sein Wortlaut
nicht dagegen, die Vorschrift in allen denjenigen Fällen anzuwenden, in denen ein
Fluggast nicht befördert wurde, ohne dass einer der in Art. 2 lit j aufgeführten
Rechtfertigungsgründe vorliegt. Eine derartige weite Auslegung entspricht auch
Sinn und Zweck der Verordnung, insbesondere dem erklärten Ziel des
Verbraucherschutzes (vgl. Erwägungsgrund Nr. 1 der EG-VO; zur Auslegung s. LG
Berlin, Urt. v. 11.10.2007, 57 S 39/07, juris bzw. RRa 2008, S. 42 ff.). Ein Fall der
Nichtbeförderung liegt demnach auch dann vor, wenn bei einem aus mehreren
Reiseabschnitten bestehenden Flug ein Flugabschnitt so verspätet durchgeführt
wird, dass der Reisende seinen bei derselben Gesellschaft gebuchten
Anschlussflug verpasst und erst Stunden später auf einem anderen Flug befördert
wird (vgl. LG Berlin, a.a.O., m.w.N.; AG Bremen, Urt. v. 8.5.2007, 4 C 7/07). Dies
entspricht der Systematik der Entschädigungsleistungen nach der EG-VO.
Während der Verordnungsgeber im Fall der Verspätung die
Unterstützungsleistungen nach den Artt. 8 und 9 EG-VO als Ausgleich für die
hinzunehmenden Nachteile des Reisenden offenbar für ausreichend hält, weist er
dem Fluggast für die Falle der Nichtbeförderung oder Annullierung des Fluges
zusätzlich den Ausgleichsanspruch nach Art. 7 EG-VO zu, woraus ersichtlich ist,
dass der Verordnungsgeber davon ausging, dass die Annullierung und die
Nichtbeförderung mit größeren Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten für den
Fluggast verbunden sind als die Verspätung (vgl. LG Berlin, a.a.O.). Da der
Fluggast, dem die Wahrnehmung des gebuchten Fluges verwehrt ist, weil der erste
Flugabschnitt so verspätet durchgeführt wird, dass er seinen Anschlussflug
verpasst, und er deshalb zur Umbuchung gezwungen ist, wie im Falle einer
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verpasst, und er deshalb zur Umbuchung gezwungen ist, wie im Falle einer
Annullierung keine Wahlfreiheit hat, sind diese beiden Fälle gleichzustellen (so auch
LG Berlin, a.a.O.).
Es liegen auch die weiteren Voraussetzungen einer Nichtbeförderung i.S.d. Art. 2
lit j der EG-VO vor. So lässt sich kein von der Zedentin zu vertretender Grund für
die Nichtbeförderung erkennen. Die Gründe, die von der Beklagten für die
Verspätung des Zubringerfluges genannt wurden, liegen sämtlich nicht im
Verantwortungsbereich der Zedentin. Die Buchung des Fluges lässt ein
Verschulden der Zedentin hinsichtlich einer zu knapp bemessenen Umsteigezeit
nicht erkennen. Der Kläger hat vielmehr unwidersprochen vorgetragen, dass die
Beklagte auf ihrer Website selbst Flugverbindungen mit einer Umsteigezeit von 35
Minuten für den Flughafen München anbietet. Die Beklagte hat nicht substantiiert
dargelegt, dass die geplante Umsteigezeit zu kurz gewählt sei. Dazu hätte es
entweder der Darlegung bedurft, dass die sog. Minimum connecting time für
München nicht eingehalten sei, oder aber einer detaillierten Schilderung, welche
Umsteigezeit für München benötigt wird. Auch bei einer Auslegung der lit j, die auf
das Vertretenmüssen des Luftfahrtunternehmens abstellt, wären die
Voraussetzungen erfüllt. Denn wie sich aus dem 14. Erwägungsgrund der EG-VO
ergibt, soll die Haftung des Luftfahrtunternehmens nur dann ausgeschlossen sein,
wenn solche Umstände vorliegen, die sich auch unter Anwendung sämtlicher
zumutbarer Maßnahmen nicht hätten vermeiden lassen. Hierzu zahlt der 14.
Erwägungsgrund der EG-VO z.B. betriebsbeeinträchtigende Streiks beim
ausführenden Luftfahrtunternehmen. Solche außergewöhnlichen Umstände sind
hier nicht vorgetragen. Das Enteisen der Flugzeuge bei Minusgraden stellt
vielmehr eine – wie allgemein bekannt – durchaus übliche Maßnahme dar, die im
Verlauf der Winterperiode mit höherer Wahrscheinlichkeit eintreten kann, und auf
die je nach Wettervorhersage eine Vorbereitung möglich ist. Die Verspätung bzw.
das Nichterscheinen eines eingecheckten Passagiers stellt ebenfalls kein Ereignis
dar, das außergewöhnlich wäre. Es ist nicht ersichtlich, dass es der Beklagten nicht
möglich gewesen wäre, die Vorbereitungen für das aus Sicherheitsgründen
notwendige Ausladen der Gepäckstücke des nicht erschienenen Passagiers bereits
frühzeitig, d.h. in der Zeit zwischen dem Schluss des Boarding und der geplanten
Abflugzeit, zu treffen.
Die Ausgleichsleistung beträgt nach Art. 7 Abs. 1 lit c 600,00 Euro.
Der Kläger hat aus abgetretenem Recht auch Anspruch auf Zahlung von 10,00
Euro Verpflegungskosten gegen die Beklagte. Der Anspruch ergibt sich aus Art. 4
Abs. 3 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 lit a EG-VO. Zwar spricht der Artikel lediglich davon, dass
den Fluggästen Mahlzeiten und Erfrischungen anzubieten seien, d.h. dem Wortlaut
nach handelt es sich um eine Verpflichtung zur Erbringung von Naturalleistungen;
die Beklagte selbst hat jedoch davon Abstand genommen und stattdessen
Gutscheine ausgegeben. Die Beklagte hat die Tatsache, dass die Zedentin den
Essensgutschein im Hotel nicht einlösen konnte, nicht substantiiert bestritten.
Dass bei Nichterbringung der Unterstützungsleistungen nach Art. 9 EG-VO der auf
Naturalleistung gerichtete Anspruch sich in einen solchen auf Geldausgleich
wandelt, entspricht dem Sinn und Zweck der Vorschrift, da der Reisende die
Unterstützungsleistungen zunächst aus seinem eigenen Vermögen erbringen
muss, und so das Luftfahrtunternehmen entlastet. Die Höhe des Anspruchs wird
gemäß § 287 ZPO auf 10,00 Euro geschätzt; diese Kosten hält das Gericht für
angemessen, aber auch notwendig, um in einem deutschen Hotel eine kleine
Mahlzeit und ein Getränk zu sich nehmen zu können.
Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286 Abs. 2 Nr. 3, 288 Abs. 1 BGB. Der
Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten war zurückzuweisen,
da die Klägerseite trotz des Bestreitens durch die Beklagte mit Nichtwissen eine
ordnungsgemäße Rechnung über die Gebühren nicht vorgelegt hat; diese ist aber
Voraussetzung dafür, dass der Anspruch des Rechtsanwalts auf die Gebühren fällig
und der Freistellungsanspruch begründet ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, diejenige über
die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.
die obersten Bundesgerichte erfolgt.