Urteil des AG Essen vom 24.08.2010

AG Essen (haftung des fahrzeughalters, höhe, höhere gewalt, gesetzlicher vertreter, kind, betriebsgefahr, gefährdungshaftung, haftung, essen, verschulden)

Amtsgericht Essen, 11 C 98/10
Datum:
24.08.2010
Gericht:
Amtsgericht Essen
Spruchkörper:
Abt. 11 C
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 C 98/10
Tenor:
Die Beklagte werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin
625,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszins-
satz seit dem 09.02.10 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflich-
tet sind, der Klägerin 25 % ihres materiellen und immateriellen
Zukunftsschadens, der ihr noch aus dem Unfallereignis vom 04.10.09
entsteht, zu ersetzen, soweit dieser nicht auf den Sozialversicherungs-
träger oder sonstige Dritte übergegangen ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuld-
nern zu 63 % und der Klägerin zu 37 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn
nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe
von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
1
Die Klägerin nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfall vom 04.01.2009 in
Anspruch, der sich gegen 16:37 Uhr auf der S Straße, Höhe Haus-Nr. ## in Essen
ereignete. Der Unfall ereignete sich, indem die zum Unfallzeitpunkt 10 Jahre alte Kläger
als Fußgängerin auf die S Straße lief, die vom Beklagten zu 1. als Halter seines Pkws
mit dem amtlichen Kennzeichen E-####, welcher bei der Beklagten zu 2.
haftpflichtversichert ist, befahren wurde.
2
Es handelte sich bei dem Unfalltag um einen verkaufsoffenen Sonntag, so dass auf der
S Straße reger Betrieb herrschte und auch viele Fußgänger unterwegs waren. Der Vater
der Klägerin hatte seinen Pkw in einer Parkbucht, aus Fahrtrichtung des
Beklagtenfahrzeugs gesehen links, abgestellt. Von diesem Auto aus lief die Klägerin
quer über die Straße, da sich ihr Vater auf der gegenüber liegenden Straßenseite aus
Beklagtensicht rechts – befand. Der Beklagte zu 1. befuhr die S Straße mit seinem Pkw
aus Fahrtrichtung S-St. kommenden Stadt Mitte. Die Klägerin prallte auf den linken
vorderen Kotflügel des Beklagtenfahrzeugs, wobei sie sich eine Unterschenkelfraktur,
eine Mittelfußfraktur, Quetschungen, Schürfungen und eine Schädelprellung zuzog. Sie
befand sich auf Grund dessen vom 04. – 16.10.2009 in stationärer sowie vom 27.10. bis
02.11.2009 in ambulanter Behandlung.
3
Die Klägerin behauptet, sie habe das Beklagtenfahrzeug herannahen sehen, es sei
nach ihrer Einschätzung jedoch so weit entfernt gewesen, dass sie gemeint habe, die
Straße gefahrlos überqueren zu können. Sie habe die Annäherung des
Beklagtenfahrzeugs und auch dessen Geschwindigkeit unterschätzt. Sie ist der Ansicht,
da der Beklagte nicht nachweisen könne, dass der Unfall für ihn unabwendbar war und
da die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs nicht vollständig zurücktrete, hafte er
wenigstens zu 25 %. Bei einer 100 %-igen Haft des Beklagten hält sie ein
Schmerzensgeld in Höhe von 4000,00 Euro für angemessen.
4
Die Klägerin beantragt,
5
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein in das Ermessen des
Gerichts gestelltes angemessenes Schmerzensgeld sowie einen Betrag in Höhe
von 6,25 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 09.20.2010.
6
7
2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr 25 %
ihres materiellen und immateriellen Zukunftsschadens, der ihr noch aus dem
Unfallereignis vom 04.10.2009 entsteht, zu ersetzen, soweit dieser nicht auf den
Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen ist.
8
9
Die Beklagten beantragen,
10
die Klage abzuweisen.
11
Sie behaupten, der Unfall sei für den Beklagten zu 1. unabwendbar gewesen. Er habe
sich vollumfänglich verkehrsgerecht verhalten. Auch unter dem Gesichtspunkt der
Gefährdungshaftung bestehe keine, eine Ersatzpflicht der Beklagten, da insoweit die
Betriebsgefahr des Pkw des Beklagten zu 1. hinter das überwiegende Mitverschulden
12
der Klägerin zurücktrete.
Das Gericht hat Beweis erhoben, durch uneidliche Vernehmung der Zeugen Eheleute L
und Eheleute T. Wegen des Ergebnisses, wird auf das Protokoll der mündlichen
Verhandlung vom 24.08.2010 Bezug genommen.
13
Entscheidungsgründe:
14
Die Klage ist zulässig. Das Feststellungsinteresse bezüglich des Antrags zu 2 gemäß §
256 ZPO folgt daraus, dass nach dem gegenwärtigen Stand des Heilungsverlaufs noch
nicht zuverlässig beurteilt werden kann, ob Dauerschäden vorliegen.
15
Die Klage ist ganz überwiegend begründet.
16
Die Klägerin hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Anspruch auf
Zahlung des tenorierten Betrags gemäß § 7, 11 StVG, 115 VVG.
17
Die Klägerin hat sich die streitgegenständlichen Verletzungen beim Betrieb des
Beklagtenfahrzeuges zugezogen. Die Haftung des Halters dieses Fahrzeugs ist nicht
gemäß § 7 Abs. 2 StVG durch höhere Gewalt ausgeschlossen, da sich der Unfall aus
dem Verkehr heraus und nicht durch ein plötzliches, betriebsfremdes, von außen durch
elementare Naturkräfte oder durch Handlung dritter Personen herbeigeführtes Ereignis,
dass nach menschlicher Einsicht unvorhersehbar ist, ereignet hat.
18
Die aus dieser Betriebsgefahr resultierende Haftung des Fahrzeughalters tritt vorliegend
nicht gemäß § 9 StVG, 254 BGB nicht vollständig hinter das weiterüberwiegende
Verschulden der Klägerin zurück.
19
Bei der Beurteilung der Haftungsanteile bei Verkehrsunfällen zwischen Kindern als
Fußgängern und KFZs ist die gesetzgeberisch gewollte Privilegierung von jüngeren
Kindern im Straßenverkehr zu beachten. Zwar war die Klägerin zum Unfallzeitpunkt
bereits 10 Jahre alt, so dass sie sich nicht auf die Privilegierung gem. § 828 Abs. 2 BGB
berufen kann. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass sie diese Grenze der Vollendung
des zehnten Lebensjahres noch nicht lange überschritten hatte. Aus den
gesetzgeberischen Wertungen der §§ 828, Abs. 2 BGB, § 3 Abs. 2 A StVO folgt, dass
bei einer Schadensteilung zwischen Fußgänger und Kraftfahrzeughalter grundsätzlich
eine im Vergleich zu Erwachsenen höhere Quote zu Lasten des KFZs zu bilden ist. Eine
Alleinhaftung des deliktfähigen Kindes ist dennoch nicht unmöglich (BGH Beschluss
vom 30.05.2006, 6 ZR 184/05). Die völlige Freistellung des Halters von der
Gefährdungshaftung stellt jedoch einen Ausnahmefall dar, der nur anzunehmen ist,
wenn das Verschulden auf Seiten des Kindes subjektiv besonders vorwerfbar ist. Es
muss sich objektiv und subjektiv um ein erhebliches Verschulden handeln, welches die
Betriebsgefahr des KFZ als völlig untergeordnet erscheinen lässt. Dabei ist zu
berücksichtigen, inwieweit es sich um altersgemäße Lern- und
Eingewöhnungsprozesse in die Gefahren des Straßenverkehrs handelt, mit dessen
Schadenslast nach dem Zweck der Gefährdungshaftung der StVG der
Kraftfahrzeugbetrieb mitbelastet sein soll (BGH Urteil vom 13.02.1990 6 ZR 128/89,
BGH Urteil vom 18.11.2003 6 ZR 31/02). Soweit sich im Unfallbeitrag des Kindes
altersgemäße Defizite in Integrierung in den Straßenverkehr und seine Gefahren
auswirken, stellt dieser Beitrag auch dann nicht von Haftung nach § 7 StVG frei, wenn er
objektiv als grob verkehrswidrig erscheint und deshalb, wäre ein Erwachsener
20
geschädigt worden, die Haftung für den Halter entfallen lassen würde. Das objektive
Gewicht des Unfallbeitrags gewinnt in der Abwägung mit der Betriebsgefahr immer mehr
an Bedeutung, je stärker das Kind vom Alter her in den Straßenverkehr integriert sein
muss. Je jünger das Kind ist, desto eher ist sein verkehrswidriges Verhalten dem
Gefahrenkreis zuzurechnen, dessen Schadenslasten die Gefährdungshaftung dem
Halter des Kraftfahrzeugs zuweist. (BGH aaO).
Vorliegend ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Klägerin zum Unfallzeitpunkt 10
Jahre alt war, und somit noch sehr nah an der Grenze der Nichtverantwortlichkeit gem. §
828 Abs. 2 BGB. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht es vorliegend zur
Überzeugung des Gerichtes fest, dass die Klägerin auf die Straße lief, ohne auf
etwaigen herannahenden Verkehr zu achten. Dieses Verhalten für sich genommen
dürfte auch bei einem 10-jährigen Kind subjektiv besonders vorwerfbar sein. Vorliegend
besteht jedoch die Besonderheit, dass sich zumindest der Vater der Klägerin auf der
gegenüberliegenden Straßenseite befand und offenbar in ein lebhaftes Gespräch mit
dieser verwickelt war. Im Über-die-Straße-laufen zur Bezugsperson verwirklicht sich
damit ein kindlicher Drang, wobei davon auszugehen ist, dass die Gefahren des
Straßenverkehrs von dem Kind auf Grund der stattfindenden Unterhaltung mit der
Bezugsperson in dem Moment nicht wahrgenommen wurden. Die Unterhaltung mit der
Bezugsperson führt dazu, dass das Kind sich in Moment sicher fühlt und weniger
eigenständig auf etwaige Gefahren achtet. In dem grob verkehrswidrigen Überqueren
der Straße spiegelt sich somit ein altergemäßes Defizit in der Integrierung in den
Straßenverkehr wieder, da das 10-jährige Kind hier offenbar nicht in der Lage war,
zwischen der Gesprächssituation und der Verkehrssituation zu unterscheiden und
beiden genügend Aufmerksamkeit zu widmen. Vor diesem Hintergrund vermag das
Gericht keine besondere subjektive Vorwerfbarkeit, wie sie nach der ständigen
Rechtsprechung des BGH für eine völlige Freistellung von Gefährdungshaftung verlangt
wird, zu erkennen.
21
Auch die Anrechnung eines möglichen Mitverschuldens des Vaters der Klägerin als
deren gesetzlicher Vertreter kommt vorliegend nicht in Betracht, da sich der Geschädigte
im Bereich der haftungsbegründenden Umstelle ein Mitverschulden der gesetzlichen
Vertreter grundsätzlich nicht zurechnen lassen muss (vergl. Palland-Heinrichs § 254 Rd.
50).
22
Kann die Betriebsgefahr demnach nicht vollständig zurücktreten, so ergibt sich daraus
vorliegend eine Haftungsquote von 25 %.
23
Für ein Verschulden des Beklagten zu 1. in seiner Eigenschaft als Fahrer des
beteiligten Fahrzeugs gibt es keine Anhaltspunkte. Das Gericht ist nach dem Ergebnis
der Beweisaufnahme vielmehr davon überzeugt, dass das Geschehen für ihn als Fahrer
unvermeidbar war. Der klägerseits angebotene Gegenbeweis durch
Sachverständigengutachten ist vorliegend nicht zu erheben, da eine größere Mithaftung
als 25 % nicht geltend gemacht wird.
24
Der Höhe nach hält das Gericht für die vorliegenden Verletzungen ein Schmerzensgeld
von 625,00 Euro für angemessen, basierend auf einem Schmerzensgeldbetrag von
2500,00 Euro bei 100-iger Haftung (vergl. Landgericht Itzehoe Urteil vom 29.06.1983 – 7
O 238/81).
25
Ein weiterer Betrag in Höhe von 6,25 Euro als Unkostenpauschale ist der Klägerin hier
26
nicht zuzusprechen. Zwar ist eine allgemeine Unkostenpauschale bei Verkehrsunfällen
durchaus üblich, sie beruht jedoch auf den Gedanken, dass, wenn ein Kraftfahrzeug
beschädigt wird, üblicherweise besondere Organisationsaufwand anfällt, der durch dies
Pauschale abgegolten werden soll. Im Falle der Körperverletzung ist wie bei sonstigen
Verletzungen kein Mehraufwand dadurch entstanden, dass die Verletzung durch ein
KFZ verursacht wurde.
Der Zinsanspruch folgt aus §§ 266, 288 BGB.
27
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Bei einem unbezifferten
Schmerzensgeldantrag darf die angegebene Größenordnung ohne kostenpflichtige
Klageabweisung um höchstens 20 % unterschritten werden. (OLG Düsseldorf,
Beschluss vom 22.06.1994 – 22 W 28/94).
28
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat seine Rechtsgrundlage in dem §§
708 Nr. 11, 711 ZPO.
29