Urteil des AG Duisburg vom 23.07.2008

AG Duisburg: freier mitarbeiter, berufliche tätigkeit, im bewusstsein, grobes verschulden, grobe fahrlässigkeit, zustand, steuerberater, selbstanzeige, sorgfalt, erstellung

Amtsgericht Duisburg, 62 IN 155/06
Datum:
23.07.2008
Gericht:
Amtsgericht Duisburg
Spruchkörper:
Insolvenzgericht
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
62 IN 155/06
Normen:
InsO § 290 Abs. 1 Nr. 2, § 201; BGB § 827; AO § 150, § 370, § 371
Leitsätze:
1. Versagungsgründe, die ein Verschulden des Schuldners
voraussetzen, liegen nicht vor, wenn der Täter bei Begehung der Tat
schuldunfähig war. Die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit und die
Verteilung der materiellen Beweislast (Feststellungslast) bestimmen sich
nach § 827 BGB.
2. § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO erfordert ein finales Handeln nur hinsichtlich
der bloßen Erklärung des Schuldners. Sie muss als solche, unabhängig
von ihrem Wahrheitsgehalt oder ihrer Vollständigkeit, zweckgerichtet
und im Bewusstsein ihrer Zweckbestimmung abgegeben worden sein.
3. Angaben in Steuererklärungen dienen immer dem Zweck, höhere als
die wirklich geschuldeten Steuerzahlungen zu vermeiden.
4. Die rechtliche Wirkung einer Selbstanzeige nach § 371 AO
beschränkt sich auf die strafrechtlichen Folgen einer
Steuerhinterziehung nach § 370 AO. Eine entsprechende Anwendung
auf die Rechtsfolgen, die mit der Versagung der Restschuldbefreiung
verbunden sind (§ 201 InsO), ist nicht gerechtfertigt.
Amtsgericht Duisburg, Beschluss vom 23. 7. 2008 – 62 IN 155/06
Tenor:
1. Dem Schuldner wird die Restschuldbefreiung versagt.
2. Die Kosten des Verfahrens über den Antrag auf Restschuldbefreiung
trägt der Schuldner.
3. Gegenstandswert (§ 28 Abs. 3, § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG): 36.574,50
EUR.
G r ü n d e
1
I.
2
1. Der 1956 geborene Schuldner praktizierte von 1980 bis 1986 als Steuerbe-
vollmächtigter und war sodann als Steuerberater bis 1994 Mitgesellschafter und
Geschäftsführer der K & L GmbH Steuerberatungsgesellschaft. Anschließend übte er
den Beruf des Steuerberaters wieder freiberuflich aus, und zwar bis 2004 hauptsächlich
als freier Mitarbeiter des Wirtschaftprüfers L. Zur Ein-kommenssteuer wurde der
Schuldner von dem für seinen Wohnsitz zuständi-gen Finanzamt A, zur Umsatzsteuer
am Ort seiner beruflichen Niederlassung vom Finanzamt B veranlagt.
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Infolge gescheiterter Immobiliengeschäfte bedrängten den Schuldner seit 1993 mehrere
Gläubiger, u.a. die G-Bank, der er aus einer Bürgschaft über 180.000 DM haftete. Im
Jahr 1994 setzte die Finanzverwaltung gegen den Schuldner eine
Einkommensteuernachzahlung in Höhe von 250.000 DM fest und betrieb gegen den
Schuldner die Vollstreckung. Zu deren Abwendung zahlte der Wirt-schaftsprüfer L in
den folgenden Jahren erhebliche Teile der dem Schuldner zustehenden Vergütung
unmittelbar an dessen Gläubiger.
4
Diese Direktzahlungen nahm der Schuldner zumindest für die Jahre 1998 bis 2002
weder als Einkünfte in seine einkommenssteuerlichen Einnahmen-Überschuss-
Rechnungen noch als Umsätze in seine schriftlichen Umsatz-steuererklärungen auf.
Nach den eigenen Angaben des Schuldners in einer Selbstanzeige an das Finanzamt B
vom 13. 7. 2005 hatte er folgende Beträge nicht als Einnahmen deklariert:
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für 1998: 61.000 EUR inkl. Umsatzsteuer,
6
für 1999: 40.500 EUR inkl. Umsatzsteuer,
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für 2000: 19.500 EUR inkl. Umsatzsteuer,
8
für 2001: 40.750 EUR inkl. Umsatzsteuer,
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für 2002: 48.750 EUR inkl. Umsatzsteuer.
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Nach dem Betriebsprüfungsbericht der Finanzverwaltung vom 19. 9. 2005 sollen es
teilweise höhere Beträge gewesen sein.
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Die unvollständigen Umsatzsteuererklärungen wurden vom Schuldner für das Jahr 2001
am 30. 6. 2003 und für das Jahr 2002 am 21. 7. 2004 beim Finanzamt B eingereicht.
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Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Duisburg vom 29. 11. 2007, rechtskräftig seit dem
26. 3. 2008, ist der Schuldner u.a. wegen der Abgabe der unrichtigen
Umsatzsteuererklärungen für 2001 und 2002 wegen Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1
Nr. 1 AO) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr unter Straf-aussetzung zur
Bewährung verurteilt worden; die Einzelstrafen für die beiden Taten wurden auf jeweils
einen Monat festgesetzt.
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2. Am 24. 3. 2006 beantragte das Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch das
Finanzamt B, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des
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Schuldners. Im August 2006 stellte auch der Schuldner einen Eröffnungs-antrag und
beantragte zugleich Restschuldbefreiung. Das Insolvenzverfahren wurde aufgrund
beider Anträge am 23. 11. 2006 eröffnet. Die zur Tabelle fest-gestellten Forderungen
des Landes Nordrhein-Westfalen betragen insgesamt 365.745,06 EUR.
Im Schlusstermin vom 24. 10. 2007 hat das Land Nordrhein-Westfalen beant-ragt, dem
Schuldner die Restschuldbefreiung zu versagen, weil er durch die
Umsatzsteuererklärungen vom 30. 6. 2003 und vom 21. 7. 2004 vorsätzlich oder grob
fahrlässig schriftlich unrichtige oder unvollständige Angaben über seine wirtschaftlichen
Verhältnisse gemacht habe, um Leistungen an öffentliche Kassen zu vermeiden (§ 290
Abs. 1 Nr. 2 InsO).
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Der Schuldner ist dem entgegengetreten. Er behauptet im wesentlichen, er habe in den
Umsatzsteuererklärungen vom 30. 6. 2003 und vom 21. 7. 2004 sämtliche auf seinem
Konto verbuchten Einnahmen angegeben. Die Direkt-zahlungen des Wirtschaftsprüfers
L an seine Gläubiger seien ihm damals nicht bekannt gewesen. L habe ihn über diese
Zahlungen erst im Jahre 2005 anlässlich einer steuerlichen Betriebsprüfung informiert.
Er, der Schuldner, habe sich seit 1989 infolge einer schweren Erkrankung seiner
damaligen Ehefrau zum Alkoholiker entwickelt. Diese Abhängigkeit vom Alkohol habe
durch die finanziellen Probleme in der Zeit zwischen 1993 und 2005 noch
zugenommen. In den Jahren 2003 und 2004 sei er in so hohem Maße alkoholabhängig
gewesen, dass er monatelang keine berufliche Tätigkeit als Steuerberater habe
ausüben können. Zwei wichtige Mandanten des Wirt-schaftsprüfers L hätten 2003 und
2004 das Mandat u.a. wegen seiner alkohol-bedingt mangelhaften
Steuerberaterleistungen gekündigt, so dass er von L "nur noch sporadisch" Zahlungen
erhalten habe.
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3. Der Wirtschaftsprüfer L hat auf Anforderung des Gerichts eine schriftliche
Zeugenauskunft erteilt. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
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II.
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Der Antrag auf Versagung der Restschuldbefreiung hat Erfolg.
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A. Das Land Nordrhein-Westfalen ist als Insolvenzgläubiger antragsberechtigt (§ 290
Abs. 1 InsO). Sein Antrag ist auch im übrigen in zulässiger Weise, insbesondere
rechtzeitig und mit ausreichender Glaubhaftmachung des behaupteten
Versagungsgrundes (§ 290 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 InsO), im Schlusstermin gestellt worden.
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B. Der Versagungsantrag ist nach § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO begründet. Der Schuldner hat
in den letzten drei Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder
nach diesem Antrag, d.h. in der Zeit seit dem 24. 3. 2003, zumindest grob fahrlässig
schriftlich unrichtige oder unvollständige Angaben über seine wirtschaftlichen
Verhältnisse gemacht, um Leistungen an öffentliche Kassen zu vermeiden.
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1. In den Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2001 und 2002, die der Schuldner am
30. 6. 2003 und am 21. 7. 2004 beim Finanzamt B einreichte, waren nach seinen
eigenen Angaben die Umsätze aus der Tätigkeit als Steuerberater für das Jahr 2001 um
40.750,00 EUR und für das Jahr 2002 um 48.750,00 EUR zu niedrig angegeben. Damit
verstieß der Schuldner gegen die Pflicht, Angaben in einer Steuererklärung
wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen (§ 150 Abs. 2 Satz 1
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AO).
Weitere Verfehlungen des Schuldners sind nicht Gegenstand des Versagungs-
verfahrens. Soweit der rechtskräftige Strafbefehl vom 29. 11. 2007, den der Antragsteller
im Mai 2008, sieben Monate nach dem Schlusstermin, vorgelegt hat, zusätzliche
Sachverhalte feststellt, kann die Entscheidung des Insol-venzgerichts hierauf nicht
gestützt werden. Für die Beurteilung eines Versagungsantrags nach § 290 InsO können
nur Gründe maßgebend sein, die der Antragsteller im Schlusstermin vorgetragen und
glaubhaft gemacht hat (§ 289 Abs. 2 InsO; BGHZ 156, 139, 142 f. = NJW 2003, 3558 =
ZVI 2003, 538; BGH ZVI 2006, 596, 597; BGH NZI 2006, 538; BGH NZI 2008, 48 f. =
ZVI 2007, 574 f.).
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2. Die Selbstanzeige des Schuldners vom 13. 7. 2005, mit der er gegenüber dem
Finanzamt B u.a. die unvollständigen Angaben seiner Umsatzsteuer-erklärungen für
2001 und 2002 berichtigt oder ergänzt hat, ist im vorliegenden Zusammenhang ohne
Bedeutung. Die rechtliche Wirkung einer Selbstanzeige nach § 371 AO beschränkt sich
auf die strafrechtlichen Folgen einer Steuer-hinterziehung nach § 370 AO. Eine
entsprechende Anwendung auf die Rechts-folgen, die mit der Versagung der
Restschuldbefreiung verbunden sind (§ 201 InsO), ist nicht gerechtfertigt. Die
Selbstanzeige lässt auch den Tatbestand des § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO nicht entfallen.
Zwar kann ein Schuldner die Verletzung seiner insolvenzrechtlichen Auskunfts- und
Mitwirkungspflichten (§ 290 Abs. 1 Nr. 5, 6 InsO) grundsätzlich wiedergutmachen, indem
er noch innerhalb des Insolvenzverfahrens seinen Pflichten rechtzeitig, freiwillig und
ordnungsgemäß nachkommt (vgl. BGH NZI 2005, 461 = ZVI 2005, 641; BGH ZInsO
2007, 96, 97). Eine solche Heilungsmöglichkeit ist jedoch für die in § 290 Abs. 1 Nr. 2
InsO angesprochenen Pflichtverletzungen außerhalb des Insolvenzverfahrens nicht
anzuerkennen. Der Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO knüpft nämlich allein
an die zu einem bestimmten Zweck gemachten unrichtigen oder unvollständigen
Angaben an. Er verlangt nicht, dass der Schuldner mit seiner Täuschungshandlung
Erfolg hat und den Zweck, dem seine Angaben dienen, tatsächlich für eine gewisse
Dauer erreicht (vgl. BGH NZI 2008, 195 f. = ZVI 2008, 83 f.).
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3. Die subjektiven Voraussetzungen des § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO liegen ebenfalls vor.
Der Schuldner hat die Angaben in den Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2001 und
2002 vorsätzlich gemacht, um Leistungen an öffentliche Kassen zu vermeiden. Dass er
die Unvollständigkeit seiner Angaben nicht erkannte, beruhte zumindest auf grober
Fahrlässigkeit.
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a) Der Schuldner ist für die Unrichtigkeit der am 30. 6. 2003 und 21. 7. 2004
abgegebenen Umsatzsteuererklärungen rechtlich verantwortlich. Sein Vorbringen, er sei
in den Jahren 2003 und 2004 so stark alkoholabhängig gewesen, dass er nicht mehr zu
der Überlegung fähig gewesen sei, er müsse bei seinen Umsatzsteuererklärungen auch
die Direktzahlungen des Auftrag-gebers L an seine Gläubiger berücksichtigen, hat
keinen Erfolg.
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(1) Ob ein Schuldner für die Verwirklichung eines Versagungstatbestands nach § 290
Abs. 1 InsO, der ein Verschulden voraussetzt, keine Verantwortung zu tragen hat, wenn
er bei Begehung der Tat nicht oder nur vermindert schuldfähig ist, regelt die
Insolvenzordnung nicht. Hierzu liegt bisher, soweit ersichtlich, auch noch keine
veröffentlichte Rechtsprechung vor.
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Nach Ansicht des Gerichts sind in diesen Fällen nicht die §§ 20, 21 StGB, sondern die
Regelungen des § 827 BGB entsprechend anzuwenden. Bei der Versagung der
Restschuldbefreiung wegen eines schuldhaften unredlichen Verhaltens geht es
nämlich, anders als bei einer strafrechtlichen Sanktion, nicht um einen persönlichen
Schuldvorwurf, sondern um die Aufrechterhaltung einer vermögensrechtlichen Haftung
(§ 201 InsO). Für die Begründung dieser Haftung gilt § 827 BGB anerkanntermaßen
auch außerhalb des Rechts der unerlaubten Handlung und der Verweisung in § 276
Abs. 1 Satz 2 BGB. Der allgemeine Rechtsgedanke des § 827 BGB trifft auf alle Fälle
zu, in denen vermögensrechtliche Folgen aus der schuldhaften Verletzung rechtlich
begründeter Pflichten oder Obliegenheiten abgeleitet werden (vgl. BGH NJW 1968,
1132 f.; BGHZ 102, 227, 230 = NJW 1988, 822 f.; Palandt/Sprau, BGB, 67. Aufl. 2008,
§ 827 RdNr. 1). Er ist deshalb auch auf Tatbestände anzuwenden, bei denen es für die
Fortdauer einer einmal begründeten vermögensrechtlichen Haftung auf ein schuldhaftes
Verhalten des Verpflichteten ankommt. Hinzu kommt, dass sich dem § 290 InsO ebenso
wie den §§ 296 bis 298 InsO nicht entnehmen lässt, welche weniger einschnei-dende
Rechtsfolge in Analogie zu § 21 StGB bei verminderter Schuldfähigkeit eintreten könnte;
die Restschuldbefreiung kann nur vollständig oder gar nicht versagt werden.
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Die Versagung der Restschuldbefreiung wegen eines schuldhaften Verhaltens ist
demnach in entsprechender Anwendung des § 827 BGB ausgeschlossen, wenn der
Schuldner die Tat im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie
Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit
begangen hat. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel zumindest grob
fahrlässig in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er für sein
Verhalten in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm grobe Fahrlässigkeit zur Last
fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne grobes Verschulden in den
Zustand geraten ist.
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(2) Nach § 827 BGB trifft den Täter die Beweislast dafür, dass er bei Begehung der Tat
in einem Zustand war, der seine Schuldfähigkeit ausschloss (BGHZ 98, 135 =
NJW 1987, 121; Palandt/Sprau, BGB, 67. Aufl. 2008, § 827 RdNr. 3). Diese
Beweislastregel ist nach allgemeiner Ansicht nicht auf den Bereich der unerlaubten
Handlungen beschränkt, sondern hat auch alle Fälle einer zivilrechtlichen
Verschuldenshaftung im Auge, in denen § 827 BGB entsprechend angewandt wird (vgl.
BGHZ 102, 227 = NJW 1988, 822, 823; BGH NJW-RR 2004, 173, 174).
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Gleiches hat sinngemäß im Zusammenhang mit § 290 InsO zu gelten. Im Verfahren um
die Versagung der Restschuldbefreiung trägt zwar im Grundsatz der antragstellende
Gläubiger die materielle Beweislast (Feststellungslast). Sein Versagungsantrag ist nur
begründet, wenn das Insolvenzgericht die volle Überzeugung gewinnt, dass der
behauptete Versagungstatbestand vorliegt (vgl. BGHZ 156, 139, 144 = NJW 2003, 3558,
3560 = NZI 2003, 663, 664; BGH NZI 2005, 687 f. = ZVI 2005, 503 f.; BGH NZI 2006,
249 f. = ZVI 2006, 162 f.). Dies gilt aber nicht uneingeschränkt. Der im
Insolvenzverfahren maßgebende Amtsermittlungsgrundsatz (§ 5 Abs. 1 InsO) bedeutet
nicht, dass dem Schuldner jede von ihm aufgestellte und erhebliche Behauptung vom
Insolvenzgericht widerlegt werden muss. Die Frage, wer die Folgen der
Unaufklärbarkeit eines bestimmten Sachverhalts zu tragen hat, ist vielmehr in
gerichtlichen Verfahren, in denen die Pflicht zur Amtsermittlung gilt, ebenfalls nach dem
einschlägigen materiellen Recht zu beantworten (vgl. etwa zu § 86 VwGO: BVerwG
NVwZ 1998, 400; zu § 12 FGG: BayObLG FamRZ 1995, 1024; BayObLG NJW-
RR 2002, 1453; BayObLG FGPrax 2005, 56 f.; OLG Düsseldorf NJW-RR 2007, 947,
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948). Auch die Insolvenzordnung geht hiervon aus und enthält an einigen Stellen
Beweislastregeln für das Verfahren vor dem Insolvenzgericht. Beispielhaft sei
hingewiesen auf § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO (Ansatz von Fortführungswerten bei der
Überschuldung, vgl. BGH NZI 2007, 44 = ZIP 2006, 2171) und § 296 Abs. 1 Satz 1, 2.
Teilsatz InsO (Verschulden des Schuldners bei einer Obliegenheitsverletzung nach
§ 295 InsO, vgl. BGH NZI 2007, 534, 535). Ebenso hat die Rechtsprechung für die
Abgrenzung der Zahlungsunfähigkeit von der Zahlungsstockung gewisse materielle
Beweislastregeln entwickelt, die vom Insolvenzgericht anzuwenden sind (§§ 16, 17
InsO), wenn nur eine relativ geringe Liquiditätsunterdeckung festzustellen ist (vgl.
BGHZ 163, 134 zu II 4 b = NJW 2005, 3062, 365 f. = NZI 2005, 547, 550 = ZIP 2005,
1426 ff.).
Im Verfahren zur Restschuldbefreiung sind deshalb zusammen mit den
materiellrechtlichen Bestimmungen des § 827 BGB auch die darin enthaltenen
Beweislastregeln anzuwenden.
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(3) Die Beweisaufnahme hat nicht ergeben, dass der Schuldner sich bei der Erstellung
und Abgabe der unrichtigen Umsatzsteuererklärungen im Juni 2003 und im Juli 2004
infolge einer starken Alkoholabhängigkeit in einem der in § 827 Satz 1 BGB
bezeichneten Zustände der Schuldunfähigkeit befand.
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Der Zeuge L, für dessen Steuerberater- und Wirtschaftsprüferpraxis der Schuldner in
jener Zeit als freier Mitarbeiter tätig war, hat in seiner schriftlichen Zeugenauskunft
bekundet, anders als in den Jahren 1995 bis 1999 habe es in den Jahren 2003 und
2004 nach seinen Wahrnehmungen eigentlich keine Situationen gegeben, die auf eine
Alkoholabhängigkeit des Schuldners hingedeutet hätten. Er habe beim Schuldner
weder eine deutliche, ersichtlich alkoholbedingte Bewusstseinstrübung noch eine
deutliche Herabsetzung des abstrakten Denkvermögens, ein reduziertes
Kurzzeitgedächtnis, eine deutliche örtliche, zeitliche oder situationsbezogene
Desorientierung, optische Halluzinationen oder Wahnvorstellungen bemerkt. Allenfalls
sei gelegentlich ein Wechsel zwischen Euphorie und Depression aufgetreten. Auch
seien ihm keine Besonderheiten der Arbeitsweise des Schuldners, insbesondere keine
fachlichen Schlechtleistungen, in Erinnerung, die aus seiner Sicht mit Sicherheit auf
Alkoholismus zurückzuführen seien. Es sei allerdings möglich, dass der Schuldner in
Phasen des starken Alkoholkonsums bewusst die Praxis nicht aufgesucht habe. Die
vom Schuldner abgerechneten Arbeitsstunden seien in den Jahren 2003 und 2004
drastisch zurückgegangen. Ob dies mit Alkoholproblemen des Schuldners
zusammenhinge, könne er letztlich nur vermuten. Gleiches gelte für die Frage, ob
Mandatsverluste seiner Praxis hierauf zurückzuführen seien. Er, der Zeuge, könne sich
"höchstens an ein, zwei Telefonate spät abends erinnern", bei denen er in dieser Zeit
den Eindruck gehabt habe, dass der Schuldner übermäßig Alkohol konsumiert habe.
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Die Bekundungen des Zeugen L rechtfertigen nicht die Feststellung, dass der Schuldner
in den Jahren 2003 und 2004 so stark alkoholabhängig war, dass er nicht mehr zu der
Einsicht fähig gewesen wäre, zu seinen Umsätzen gehörten auch Direktzahlungen
seines Auftraggebers L an seine Gläubiger. Ebenso wenig stützen sie die Annahme, der
Schuldner habe nicht mehr nach dieser Einsicht handeln können. Der Zeuge hat
insbesondere nicht bestätigt, dass sich ein möglicher Alkoholgenuss in deutlich
bemerkbarer Weise auf die berufliche Tätigkeit des Schuldners, etwa auf die Sorgfalt
seiner Arbeitsweise und die Qualität seiner Arbeitsergebnisse, ausgewirkt habe. Er hat
im Gegenteil mitgeteilt, dass der Schuldner in den Jahren 2003 und 2004 im Dienste
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des Zeugen einen festen Mandantenstamm steuerlich und betriebswirtschaftlich beraten
und insbesondere die Jahresabschlüsse und Steuererklärungen dieser Mandanten
weitgehend selbständig erstellt habe. Beschwerden wegen des Alkoholismus des
Schuldners hätten die Mandanten ihm (dem Zeugen) gegenüber nicht geäußert. Dies
widerspricht der Annahme einer durchgängigen alkoholbedingten Unfähigkeit des
Schuldners, bei der Erfüllung der eigenen steuerrechtlichen Pflichten sein Verhalten
bewusst zu steuern.
Bei dieser Beweislage ist die Schuldunfähigkeit des Schuldners bei der Erstellung und
Abgabe seiner unvollständigen Umsatzsteuererklärungen vom 30. 6. 2003 und vom
21. 7. 2004 nicht erwiesen. Weitere Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären, sind
weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch für das Gericht ersichtlich.
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b) Der Schuldner hat auch in den gesetzlich erforderlichen Schuldformen gehandelt.
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(1) Zur inneren Tatseite verlangt § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO zunächst, wie der Wortlaut "um
… zu" eher andeutet als verdeutlicht, "ein finales Handeln zur Verwirklichung der
Zielsetzung" (BGH NZI 2008, 195 f. = ZVI 2008, 83 f.). Die Bestimmung soll damit
ersichtlich nur auf Erklärungen anzuwenden sein, die, unabhängig von ihrem
Wahrheitsgehalt oder ihrer Vollständigkeit, als solche zweckgerichtet und im
Bewusstsein dieser Zweckbestimmung abgegeben worden sind. Dies ist hier
geschehen. Der Schuldner hat die Angaben in den Umsatzsteuererklärungen gemacht,
um Leistungen an öffentliche Kassen zu vermeiden. Angaben in Steuererklärungen
dienen nach dem Gesetz dem Zweck, der Finanzbehörde die für die Besteuerung
erheblichen Tatsachen aus dem Bereich des Steuerpflichtigen vollständig und
wahrheitsgemäß offen zu legen (§ 90 Abs. 1, § 150 Abs. 2 Satz 1 AO). Sie sollen eine
gesetzmäßige, nicht überhöhte Besteuerung ermöglichen und sind damit zumindest
zunächst Grundlage der Steuerfestsetzung. Wer bewusst eine Steuererklärung abgibt,
verfolgt deshalb immer (auch) den Zweck, durch die Mitteilung realistischer
Besteuerungsgrundlagen die sonst drohende Schätzung (§ 162 AO) entbehrlich zu
machen und so der Gefahr zu entgehen, dass höhere als die wirklich geschuldeten
Steuern festgesetzt werden. Insoweit hat hier auch der Schuldner zweifelsfrei bewusst
und zweckgerichtet gehandelt.
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(2) Hinsichtlich der Unvollständigkeit der Angaben hat der Schuldner zumindest grob
fahrlässig gehandelt. Dies reicht nach dem eindeutigen Wortlaut des § 290 Abs. 1 Nr. 2
InsO aus (vgl. BGH NZI 2008, 195 f. = ZVI 2008, 83 f.).
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Unter grober Fahrlässigkeit ist ein subjektiv schlechthin unentschuldbares Verhalten zu
verstehen, bei dem die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße
verletzt worden ist, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt oder beiseite
geschoben worden sind und dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen
Fall sich jedem aufgedrängt hätte (vgl. BGH NZI 2006, 299 = ZVI 2006, 258, 259; BGH
NZI 2007, 733 f.). Dabei ist die Sorgfalt eines redlichen Schuldners zugrunde zu legen
(AG Duisburg ZVI 2007, 481 f. mwN). Nur ein solcher Schuldner soll nach § 1 Satz 2
InsO Restschuldbefreiung erlangen können. Redlichkeit bedeutet nicht allein
Ehrlichkeit, sondern auch Pflichtbewusstsein und Gewissenhaftigkeit.
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Hieran gemessen, hat der Schuldner zumindest grob fahrlässig gehandelt. Wer eine
Steuererklärung abfasst, weiß, dass er seine Angaben wahrheitsgemäß und nach
bestem Wissen und Gewissen zu machen hat (vgl. § 150 Abs. 2 Satz 1 AO). Es muss
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sich ihm deshalb die Überlegung aufdrängen, dass er sich bei der Vorbereitung der
Erklärung nicht allein auf sein Erinnerungsvermögen verlassen darf, sondern dass er
auch sämtliche verfügbaren schriftlichen Unterlagen heranzuziehen hat, soweit sie zur
Ermittlung der maßgebenden Tatsachen in Betracht kommen.
Das Vorbringen des Schuldners, die Direktzahlungen, die sein Auftraggeber L in den
Jahren 2001 und 2002 unter Anrechnung auf seine Vergütungs-ansprüche an seine
Gläubiger geleistet habe, seien ihm nicht bekannt gewesen, ist unglaubhaft. Wie der
Schuldner als Steuerberater weiß, gehört es im Geschäftsleben zu den elementaren
Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung, dass Aufzeichnungen über die erhaltenen
Aufträge und ihre Ausführung anzufertigen sind und im Rahmen der
Debitorenbuchhaltung in angemessenen Abständen zu kontrollieren ist, ob die den
Auftraggebern in Rechnung gestellten Vergütungen tatsächlich gezahlt worden sind. Ein
umsatzsteuerpflichtiger Unternehmer hat zudem, auch wenn er nicht als Kaufmann an
§ 238 Abs. 2 HGB gebunden ist, ein Doppel jeder von ihm ausgestellten Rechnung
zehn Jahre aufzubewahren (§ 14b Abs. 1 UStG). Es musste sich deshalb dem
Schuldner bei der Erstellung der Umsatzsteuererklärungen die Überlegung geradezu
aufdrängen, dass er bei der Ermittlung seiner Umsätze nicht nur die Zahlungseingänge
auf seinem Bankkonto berücksichtigen durfte, sondern dass er zumindest anhand der
ausgestellten Rechnungen überprüfen musste, ob damit sämtliche Umsätze erfasst
waren. Dabei hätte ihm in beiden Jahren auffallen müssen, dass ein nicht unerheblicher
Teil seiner Vergütungsforderungen gegen den Wirtschaftsprüfer L nicht durch
Zahlungen auf sein Bankkonto ausgeglichen worden war.
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Dies alles galt auch, wenn die Aufmerksamkeit und das Konzentrations-vermögen des
Schuldners bei Erstellung der Steuererklärungen durch familiäre oder sonstige
persönliche Probleme beeinträchtigt gewesen sein sollte. Nach den Bekundungen des
Zeugen L erstellte der Schuldner in den Jahren 2003 und 2004 für dessen Mandanten
Jahresabschlüsse und Steuererklärungen. Die vom Schuldner angedeuteten
Beeinträchtigungen können deshalb nicht so schwerwiegend gewesen sein, dass der
Schuldner sie nicht bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt und Arbeitsdisziplin hätte
ausgleichen können.
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C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, § 4 InsO. Bei der Festsetzung des
Gegenstandswerts für etwaige Anwaltsgebühren (§ 28 Abs. 3, § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG)
ist der tatsächliche wirtschaftliche Wert der Forderung des Versagungsantragstellers auf
10% des Nennwerts von 365.745,06 EUR geschätzt worden (vgl. BGH 23. 1. 2003 – IX
ZB 227/02, bei Fischer NZI 2004, 281, 299 = ZVI 2003, 91f.).
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Duisburg, 23. 7. 2008
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Amtsgericht
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