Urteil des AG Bernau vom 15.03.2017

AG Bernau: garantie der menschenwürde, abstammung, eltern, öffentliche gewalt, lebenslängliche freiheitsstrafe, duldung, geschwister, sanktion, körperverletzung, diskriminierungsverbot

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Gericht:
AG Bernau
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 Ls 212 Js 18621/06
(21/07)
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 104a Abs 3 S 1 AufenthG, Art
1 Abs 1 GG, Art 3 Abs 3 S 1 GG,
Art 97 GG, § 17 Abs 2 JGG
Jugendstrafrecht: Bildung einer Einheitsjugendstrafe;
Verhängung einer Jugendstrafe gegen einen unter
ausländerrechtlicher Duldung stehenden jugendlichen
Straftäter; Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses des
Bleiberechts bei Straffälligkeit eines in häuslicher Gemeinschaft
lebenden Familienmitglieds
Tenor
Der Angeklagte ist der gefährlichen Körperverletzung schuldig.
Der Angeklagte wird unter Einbeziehung der Verurteilung des Amtsgerichts Bernau -
Jugendschöffengericht - vom 11.10.2006 - 5 Ls 212 Js 12048/06 (30/06) - beauflagt, noch
weitere 60 gemeinnützige Arbeitsstunden nach Weisung der Jugendgerichtshilfe binnen 4
Monaten zu erbringen.
Von der Auferlegung von Kosten und Auslagen wird abgesehen.
Gründe
I.
Der heute 17-jährige Angeklagte ist kurdischer Abstammung und kam mit seinen Eltern,
die der jesidischen Glaubensgemeinschaft angehören, im Alter von 4 Jahren in die
Bundesrepublik Deutschland. Die Eltern des Angeklagten beantragten hier Asyl, da sie
aufgrund ihres Glaubens religiöser Verfolgung ausgesetzt waren. Zeitgleich kamen mit
dem Angeklagten seine heute 12 Jahre alte Schwester, die noch in der Türkei geboren
wurde und sein 15-jähriger Bruder, der gleichfalls 3 Jahre seines Lebens in der Türkei
verbrachte, mit nach Deutschland. In Deutschland wurde ein weiteres Kind geboren.
Nachdem die Familie des Angeklagten zunächst in einem Asylbewerberheim
untergebracht wurde, wohnt sie heute in einer eigenen Wohnung. Die Kinder der Familie
wie auch der Angeklagte besuchten von Anfang an einen Kindergarten. Der Angeklagte
wurde dann altersgerecht eingeschult und musste die 1. Klasse aufgrund von
Sprachschwierigkeiten wiederholen. Danach besuchte er ohne größere Probleme die
Grundschule bis zur 6. Klasse. Er wechselte dann auf die Gesamtschule in Bernau und
befindet sich dort in der 9. Klasse. Während des Verfahrens wurde er, obwohl dies im
Herbst vergangen Jahres nicht absehbar war, nachdem er seine Leistung erfolgreich
steigerte, schließlich in die 10. Klasse versetzt. Er beabsichtigt, eine Kfz-Mechaniker-
Lehre nach Beendigung der Schule aufzunehmen. In seiner Freizeit hielt sich der
Angeklagte insbesondere im Jahre 2006, teils mit gerichtsbekannten Jugendlichen
deutscher wie auch ausländischer Abstammung auf. In seiner Freizeit spielt der
Angeklagte heute zusammen mit deutschen Jugendlichen Fußball. Sein größerer
Freundeskreis ist deutscher Abstammung.
Seit ca. einem ½ Jahr hat der Angeklagte eine gleichaltrige deutsche Freundin, die die 9.
Klasse einer Realschule besucht.
Das Familienleben des Angeklagten ist u.a. davon geprägt, dass der Vater aufgrund
einer nur bestehenden Duldung durch die Ausländerbehörde nach wie vor nicht arbeiten
darf. Die Mutter des Angeklagten, die bereits aufgrund der Verfolgung in der Türkei
psychische Probleme hatte, ist hierdurch sowie wegen der nach wie vor bestehenden
ausländerrechtlichen Problematik psychisch weiter angeschlagen. Ihre psychischen
Probleme haben sich durch die nachfolgend dargelegten Bleiberechtsregelungen weiter
verstärkt. Sie befindet sich in ärztlicher Behandlung. Die Geschwister des Angeklagten
sind integriert. In ihrem Stadtteil sind sie beliebt und haben deutsche Freunde. Die
Mutter des Angeklagten ist Hausfrau und der Vater, gelernter Schneider, eben aufgrund
des Umstandes, dass er einer geregelten Arbeit nicht nachgehen darf, ohne
Beschäftigung. Die Familie lebt mithin seit Beginn ihres Aufenthalts in der
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Beschäftigung. Die Familie lebt mithin seit Beginn ihres Aufenthalts in der
Bundesrepublik Deutschland von Sozialleistungen. Die Eltern des Angeklagten kümmern
sich genügend um diesen. Beide Elternteile nahmen regelmäßig an den Verhandlungen
im Verfahren teil.
Ausweislich der Auskunft aus dem Erziehungsregister ist der Angeklagte bisher viermal
strafrechtlich in Erscheinung getreten. Nachdem die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder)
am 27.7.2005 wegen einer am 19.4.2005 begangenen räuberischen Erpressung von der
Verfolgung abgesehen hatte, sah sie sodann am 20.4.2006 wegen Erschleichen von
Leistungen nochmals von der Verfolgung ab. Ein weiteres Verfahren wegen Verstoß
gegen das Waffengesetz - Tatzeit: 4.2.2006 - wurde sodann am 13.6.2006 durch die
Staatsanwaltschaft gemäß § 45 Abs. 2 JGG beendet.
Erstmals hatte sich der Angeklagte am 11.10.2006 vor dem Jugendschöffengericht des
Amtsgerichts Bernau unter dem Geschäftszeichen 5 Ls 212 Js 12048/06 (30/06) zu
verantworten. Der Angeklagte wurde hier der räuberischen Erpressung in 3 Fällen und
der Körperverletzung schuldig gesprochen. Zur Sache traf das Gericht aufgrund der
damals bereits von Reue getragenen geständigen Einlassung des Angeklagten sowie der
Bekundungen der gehörten Geschädigten folgende Feststellungen:
"1.
Am 26.02.2006 gegen 18:00 Uhr traf der Angeklagte im S-Bahnzug - der zu diesem
Zeitpunkt am Bahnsteig des Bahnhofs in Bernau hielt - auf die Zeugen P. und W. Der
Angeklagte war in Begleitung eines weiteren Jugendlichen, der allerdings auf seinem
Platz verblieb. Der Angeklagte hatte die Kapuze seines Kapuzenshirts übergezogen und
mit einem beigen Schal das Gesicht vermummt. Infolge fragte er zunächst den Zeugen
P. und dann den Zeugen W. nach einer Zigarette. Als der Zeuge W. seine
Zigarettenschachtel mit Zigaretten der Marke "Marlboro 100" hervor holte, erklärte der
Angeklagte "Gib mir die ganze Schachtel". Auf die Weigerung des Zeugen W. hob der
Angeklagte seine Faust und drohte "Sonst kriegst du eine drauf". Aus Furcht vor
Schlägen hielt der Zeuge W. dem Angeklagten die Zigarettenschachtel hin, die der
Angeklagte ihm aus der Hand riß und in die Außentasche seiner Jacke steckte. Sodann
fragte der Angeklagte die ihm körperlich unterlegenen Zeugen, ob sie Funktelefone
dabei hätten. Als die Zeugen dies verneinten, sagte der Angeklagte zu dem Zeugen P.:
"Guck mal noch mal ganz genau". Dann forderte er die Zeugen in barschem Ton auf,
ihre Handys vorzuzeigen, indem er kommandierte: "Zeigen!" Der Zeuge P. hielt ihm
darauf hin sein Handy hin. Der Angeklagte forderte: "Her damit!" Der Zeuge P. erklärte
zunächst, dass er ihm sein Handy vom Typ Sagem nicht geben würde. Daraufhin drohte
der vermummte Angeklagte dem Zeugen P.: "Gib her, sonst kriegste eine!" Aus Angst
vor dem vermummten Angeklagten holte der P. sein Handy aus der Innentasche seiner
Kleidung hervor. Der Angeklagte nahm dem Zeugen das Funktelefon aus der Hand,
steckte es in seine Kleidung und erklärte: "Jetzt ist es meins!"
Anschließend wandte sich der Angeklagte nunmehr an den gleichfalls verängstigten
Zeugen W. und fragte diesen: "Du, hast du ein Handy dabei?" Der Zeuge W. hielt dem
Angeklagten unter dem Eindruck der Drohungen darauf hin sein Handy vom Typ Nokia
hin, welches der Angeklagte an sich nahm und einsteckte. Danach forderte er von den
Zeugen W. und P. noch Geld. Diese erklärten ihm gegenüber jedoch, über kein
Bargeld zu verfügen. Anschließend begab er sich in den vordersten S-Bahnwagen und
setzte sich zu seinem Freund, dem Zeugen B., und versteckte die Handys unter dem
Sitz der S-Bahn. Aufgrund sofortigen Eingriffs der zwischenzeitlich alarmierten Polizei
wurde er vorläufig festgenommen.
2.
Trotz Warnung von Sozialarbeitern und Polizei beging der Angeklagte sodann am
19.05.2006 eine erneute erhebliche Straftat. Der Angeklagte war zuvor des öfteren auf
dem Hof der Gesamtschule in Bernau durch freches und rücksichtsloses Verhalten
gegenüber anderen Schülern aufgefallen. Am 19.05.2006 gegen 13:30 Uhr versetzte der
Angeklagte dem Zeugen K., einem Mitschüler, sodann ohne den geringsten Grund
hierfür zu haben, einen Faustschlag auf den Hinterkopf. Als der Zeuge K. sich darauf hin
zu dem Angeklagten umdrehte, trat der Angeklagte mit seinen beschuhten Füßen nach
dem Zeugen und stieß ihm mit dem Knie in den Bauch. Dann zog der Angeklagte einen
Gürtel aus seiner Hose und schlug damit in Richtung des Zeugen K.. Als andere
Personen versuchten, den Zeugen K von dem Angeklagten wegzuziehen, packte der
Angeklagte den Zeugen am Hals und würgte ihn noch. Der Zeuge K. erlitt eine
Quetschung und Abschürfung am Hals, eine Schwellung im Bereich der Nase sowie eine
Kontusion des linken Daumens.
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Kontusion des linken Daumens.
Kurz vor der Hauptverhandlung entschuldigte sich der Angeklagte bei den Zeugen P.
und W. schriftlich. Er versuchte auch ein Täter-Opfer-Ausgleich durchzuführen und
beabsichtigte zur Wiedergutmachung Arbeitsstunden zu leisten."
Das Gericht verurteilte den Angeklagten seinerzeit zu einer Jugendstrafe in Höhe von 8
Monaten. Das Gericht sah seinerzeit unter Berücksichtigung, dass noch ein weiteres
Verfahren wegen räuberischer Erpressung anhängig war, was zwischenzeitlich gemäß §
47 Abs. 1 Nr. 2 JGG eingestellt wurde, schädliche Neigungen bei dem Angeklagten im
Sinne des § 17 JGG für gegeben an. Da der Angeklagte sich erstmals vor einem
Jugendgericht zu verantworten hatte und die Taten ehrlich bereute, setzte das
Jugendschöffengericht die Vollstreckung der verhängten Jugendstrafe zur Bewährung
aus.
Der Angeklagte fiel sodann nach dieser Verurteilung in strafrechtlicher Hinsicht nicht
mehr auf. Er hielt regelmäßig Kontakt zur Bewährungshilfe, erfüllte die ihm auferlegten
Arbeitsauflagen, ging regelmäßig zur Schule und entwickelte sich außerordentlich positiv.
Er hielt weiter Kontakt zur Sozialarbeitern des Stadtteilzentrums und ließ sich nicht mehr
hinreißen, an Straftaten teilzunehmen. In einem Fall trotz des Umstandes, dass während
einer von einem Freund und ehemaligen Mittäter begangenen Sachbeschädigung dieser
ihn de fakto ermunterte, an dieser teilzunehmen. Er erkannte, dass sein strafliches
Verhalten ein Ende haben muss.
Des weiteren musste das Gericht feststellen, dass aufgrund der Verurteilung durch das
Jugendschöffengericht vom 11.10.2006 nicht nur bei dem Angeklagten die vom
damaligen Gericht erhoffte Kehrtwendung eingetreten ist, sondern zeitgleich für die
gesamte Familie des Angeklagten eine vom damaligen Gericht nicht gekannte und
damit auch in seiner Entscheidung nicht berücksichtigte Rechtsfolge eintrat.
So teilte die Ausländerbehörde des Landkreises Barnim der Familie des Angeklagten, die
Antrag auf Aufenthalt und Arbeitsmöglichkeit nach der Bleiberechtsregelung gestellt
hatte, mit, dass sie nicht unter die von der durch die Innenminister der Bundesrepublik
Deutschland am 17.11.2006 - mithin nach der hiesigen Verurteilung und nach den
begangenen Taten beschlossene Bleiberechtsregelung - fallen wird. Dies deshalb, weil
die im Land Brandenburg mittels Verwaltungsvorschrift umgesetzte
Bleiberechtsregelung auf Familien nicht angewendet wird, in der ein Familienmitglied,
wie vorliegend der Angeklagte, zu einer Jugendstrafe verurteilt worden ist. Die
Ausländerbehörde verwies insoweit auf Punkt 3.4 des Erlasses des Ministeriums des
Innern des Landes Brandenburg vom Dezember 2006, in dem es heißt:
"von dieser Regelung ausgeschlossen sind Personen, die wegen einer im
Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurden; Geldstrafen von bis
zu 50 Tagessätzen (kumulativ) bleiben grundsätzlich außer Betracht. Nicht zum
Ausschluss führen Geldstrafen bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem
Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz oder nur von Ausländern begangen
werden können."
Sodann verwies die Ausländerbehörde auf Punkt 3.6 des Erlasses, wo es heißt:
"Bei Ausschluss eines Familienmitglieds wegen Straftaten erfolgt grundsätzlich der
Ausschluss der gesamten Familie. Die Trennung der Kinder von den Eltern ist in
Ausnahmefällen möglich, wobei der Rechtsgedanke des § 37 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz
entsprechend herangezogen werden kann und die Betreuung der Kinder im
Bundesgebiet gewährleistet sein muss."
Eine durch das Gericht im Vorfeld der Hauptverhandlung erfolgte behördliche Anfrage
beim Ministerium des Innern des Landes Brandenburg ergab, dass die durch Urteil des
Jugendschöffengerichts verhängte Jugendstrafe eindeutig unter die von den
Innenministern aufgestellte Grundsatzregelung fällt. Eine Trennung der Eltern oder
Mitgeschwister von dem Angeklagten käme nicht in Frage. Hiernach könne die Familie
des Angeklagten aufgrund der Verurteilung nicht die Vorteile der Bleiberechtsregelung in
Anspruch nehmen.
Zwischenzeitlich ist die mit Erlass des Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg
vom Dezember 2006 geregelte Bleiberechtsregelung auch durch den Bundestag mit
Zustimmung des Bundesrates in dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und
asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union hinsichtlich der hier zur Kenntnis zu
nehmenden relevanten Teile wie folgt beschlossen worden.
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Hier heißt es zu Artikel 1 - Änderung des Aufenthaltsgesetzes zu Nummer 82:
"§ 104 a
Altfallregelung
(1) Einem geduldeten Ausländer soll abweichend vom § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 1. Juli 2007 seit mindestens 8
Jahren oder, falls er zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen
Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit mindestens 6 Jahren ununterbrochen
geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen
im Bundesgebiet aufgehalten hat und er
1. über ausreichenden Wohnraum verfügt,
3. über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse im Sinne der Stufe A 2 des
gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen verfügt,
3. bei Kindern im schulpflichtigem Alter den tatsächlichen Schulbesuch nachweist,
4. die Ausländerbehörde nicht vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante
Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht
vorsätzlich hinaus gezögert oder verhindert hat,
5. keine Bezüge zu extremistischen oder terroristischen Organisationen hat und
diese auch nicht unterstützt und
6. nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt
wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90
Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem
Asylverfahrensgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich
außer Betracht bleiben."
In § 104 a Abs. 3 heißt es dann:
"(3) Hat ein in häuslicher Gemeinschaft lebendes Familienmitglied Straftaten im
Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 6 begangen, führt dies zur Versagung der
Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift für andere Familienmitglieder. Satz 1 gilt
nicht für den Ehegatten eines Ausländers, der Straftaten im Sinne des Absatzes 1 Satz
1 Nr. 6 begangen hat, wenn der Ehegatte die Voraussetzung des Absatzes 1 im übrigen
erfüllt und es zur Vermeindung einer besonderen Härte erforderlich ist, ihm den weiteren
Aufenthalt zu ermöglichen. Sofern im Ausnahmefall Kinder von ihren Eltern getrennt
werden, muss ihre Betreuung in Deutschland sicher gestellt sein."
Im Rahmen einer während der hiesigen Hauptverhandlung erfolgten behördlichen
Anfrage gem. § 256 StPO an das Bundesministerium des Inneren der Bundesrepublik
Deutschland erklärte dieses lediglich, dass bis zum Zeitpunkt der Urteilverkündung in
vorliegender Sache die oben beschriebene Altfallregelung noch keine Gesetzeskraft
erlangt habe, da das Gesetz noch nicht durch den Bundespräsidenten unterzeichnet und
mithin auch noch nicht im Bundesgesetzblatt verkündet worden sei.
Aufgrund des Umstandes, dass der Angeklagte eben der Familie die Möglichkeit nahm,
unter die Bleiberechtsregelung zu fallen, hielt er sich in der Vergangenheit für ganz
besonders schuldig und erklärte sogar, dass er doch auch alleine zurück in die Türkei
gehen wolle. Psychisch stellte das eine enorme Belastung dar. Dennoch beging der
Angeklagte keine weiteren Straftaten.
Das Urteil des Amtsgerichts Bernau vom 11.10.2006, auf das der Vater des Angeklagten
seinerzeit drängte, wurde nicht mit einer Berufung angefochten. Dies obwohl eine
Berufung nach Auffassung des Gerichts auch Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Der Vater
des Angeklagten wollte allerdings gerade, dass sein Junge, der ihm vorüber gehend "aus
den Händen geschlittert war", unter die Aufsicht der deutschen Behörden, mithin des
Gerichts und der Bewährungshilfe gestellt würde. Er arbeitete insoweit an einer
vernünftigen integrativen Erziehung seines Sohnes mit.
II.
Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme, der geständigen und von Reue
getragenen Einlassung des Angeklagten sowie seiner ehemals mit angeklagten Mittäter
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getragenen Einlassung des Angeklagten sowie seiner ehemals mit angeklagten Mittäter
T. und H., gegen die das Verfahren vorläufig eingestellt wurde, sowie auch aufgrund der
Bekundung des Geschädigten D. konnte das Gericht folgenden Sachverhalt feststellen:
Am 25.9.2006 gegen 13.00 Uhr verabredeten der gesondert Verfolgten T. und der
Zeuge D. eine Schlägerei. Die beiden trafen sich am Gymnasium in Bernau und gingen
dann gemeinsam mit weiteren Schülern des Gymnasiums über die Straße in den
Stadtpark. Beiden war klar, dass sie sich nunmehr prügeln wollten, was sie auch taten.
Sie schlugen sich sodann wechselseitig. Die anderen Personen griffen zunächst nicht ein.
Nachdem die Schlägerei fast zu Ende war, kamen der Angeklagte Y. und der ehemals
Mitangeklagte H. zum Ort des Geschehens. Y. und H. waren Freunde des Angeklagten T..
Sie nahmen das Geschehen zur Kenntnis und erklärten nunmehr dem Angeklagten T.,
dass er sich doch weiter prügeln solle. Hieraufhin nahmen der Angeklagte T. und der
Geschädigte D. ihre Schlägerei wieder auf und schlugen nun auch unter den Augen der
Angeklagten Y. und H. weiter aufeinander ein. Als die Angeklagten Y. und H. merkten,
dass ihr Freund, der Angeklagte T., langsam aber sicher unterliegen würde, kamen sie
überein, ihm nunmehr zu helfen. Infolgedessen sprangen die beiden - jeder von einer
Seite - mit Anlauf auf den Zeugen D. zu und kickten ihn mit ihren beschuhten Fuß gegen
den Körper, wodurch der Zeuge D. zu Boden stürzte. Ohne dass der Angeklagte Y. dies
wollte, versetzte der Angeklagte T. den Zeugen D. sodann einen äußerst heftigen
Fußtritt gegen den Kopf. Der Angeklagte Y. reagierte sofort, half dem Geschädigten hoch
und setzte ihn auf die Bank. Zeitgleich forderte er andere Jugendliche auf, Wasser zu
holen, um dem Geschädigten weiter zu helfen.
Infolge des Fußtrittes musste der Geschädigte D. für einige Tage stationär im
Krankenhaus aufgenommen werden. Er erlitt ein Schädelhirntrauma und eine Fraktur
des Kiefergelenkes links. Der Angeklagte Y. entschuldigte sich noch im Krankenhaus für
sein wie auch der Mittäter an den Tag gelegtes Verhalten.
Im Vorfeld der Hauptverhandlung absolvierte der Angeklagte Y. zur Wiedergutmachung
freiwillig weitere Sozialstunden. Er entschuldigte sich nochmals bei dem Geschädigten
und dessen Vater.
III.
Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte gemeinsam mit den
ehemals Mitangeklagten T. und H. einer gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 223
Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4, 25 II StGB strafbar gemacht. Der durch den gesondert
Verfolgten T. erfolgte Fußtritt war dem Angeklagten nicht zuzurechnen. Insoweit handelte
es sich um eine von dem Angeklagten nicht zu vertretenden Exzesshandlung des
gesondert verfolgten T..
IV.
1.
Das Gericht hatte auf den zum Tatzeitpunkt 16 ½-jährigen Angeklagten gemäß §§ 1, 3
JGG Jugendstrafrecht in Anwendung zu bringen und mit der Verurteilung des
Jugendschöffengerichts vom 11.10.2006 gemäß § 31 Abs. 2 JGG einheitlich auf eine
Maßnahme oder Jugendstrafe zu erkennen. Eine separate Entscheidung gemäß § 31
Abs. 3 JGG kam aufgrund der vorliegenden Sachlage und insbesondere der für den
Angeklagten aufgrund des Urteils vom 11.10.2006 entstandenen Folgen, nämlich der
Folgen aus der Bleiberechtsregelung, aus erzieherischen Gründen nicht in Betracht.
Mithin hatte das Gericht unter Berücksichtigung des am 11.10.2006 erfolgten
Schuldspruches nunmehr mit einer neu zu bestimmenden erzieherischen Sanktion auf
das Verhalten des Angeklagten zu reagieren.
Hiernach war zum Zeitpunkt der Verurteilung und zwar losgelöst von der
Rechtsfolgenentscheidung im einbezogenen Urteil vom 11.10.2006 unter Neubewertung
des Gesamtverhaltens des Angeklagten einerseits sowie der von ihm begangenen
Straftaten andererseits eine einheitliche Rechtsfolge im Sinne des § 31 Abs. 2 JGG zu
bestimmen, (BGH-Beschluss vom 20.08.1998 - 4 STR 387/98 BGH, St. 37, 34, BGH StV
1996, 273 ff., vgl. Ostendorf, NSTZ 1991, 184 ff., LG Gera, GVJJ-Journal 3/1998, 280).
Hierbei hat das erkennende Gericht, so die herrschende Meinung in Rechtssprechung
und Literatur, die erzieherisch notwendige Sanktion zu bestimmen und zunächst die
Voraussetzung für die Verhängung von Jugendstrafe im Sinne des § 17 JGG regelmäßig
neu und unter Berücksichtigung aller im Verfahren erlangten Erkenntnisse zu prüfen,
(vgl. Ostendorf Kommentar zum JGG, 7. Aufl. Zu § 31 Rdn. 20, 21 ff. m.w.N.). So kann es
unter Berücksichtigung des im Jugendstrafrecht über alles stehenden
Erziehungsgedanken auch dazu kommen, dass im Verhältnis zu dem einbezogenen
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Erziehungsgedanken auch dazu kommen, dass im Verhältnis zu dem einbezogenen
Urteil sogar mildere Sanktionen verhängt werden können, (BGH StV 1990, 505, 1992,
432; vgl. auch Eisenberg, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz 2007, 12. Aufl. Zu § 31
Rdn. 42). Dies insbesondere dann, wenn zum Zeitpunkt des Urteils die Voraussetzungen
der schädlichen Neigungen im Sinne des § 17 JGG nicht mehr vorliegen (vgl. LG Gera,
DVJJ-Journal 3/1998, 280, Böhm NSTZ-RK 1999, 290 unter Bezugnahme auf die
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs). So darf das Jugendgericht dann keine
Jugendstrafe verhängen, wenn die Voraussetzung zur Bildung einer Einheitsjugendstrafe
mit einer früheren Verurteilung zur Jugendstrafe zwar im Grunde genommen vorliegen,
aber zum Zeitpunkt der Entscheidung schädliche Neigungen im Sinne des § 17 JGG nicht
mehr festzustellen sind (vgl. Böhm, NSTZ 1992, 528, BGH, Beschluss vom 23.10.1991 -
2 StR 457/91). Hierbei ist weiter ständige Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs,
dass auf Grundlage aktueller Erkenntnisse neu und einheitlich gemäß § 31 Abs. 2 JGG die
jugendrichterliche Sanktion, die zum Zeitpunkt der letzten Entscheidung nach den
Voraussetzungen der jeweiligen im Jugendgerichtsgesetz verankerten
Entscheidungsmöglichkeiten geboten ist, auch auszuurteilen ist (vgl. insoweit BGH ST 37
ff., Brunner/Dölling zu § 31, Rn. 14 m.w.N.).
Heute führt nur noch eine Mindermeinung in der Literatur gegen die zuvor beschriebene
Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes aus, dass die neue Sanktion eben nicht
milder ausfallen dürfe, als die Rechtsfolge der früheren Verurteilung. Eine Einbeziehung
diene nämlich nicht einer Korrektur des einbezogenen Urteils, weswegen § 31 Abs. 2 JGG
letztlich ein Verbesserungsverbot enthalte. Hiernach begrenze die bereits verhängte
Jugendstrafe des einzubeziehenden Urteils die Höhe der nunmehr festzusetzenden
Jugendstrafe. Sie stelle die Untergrenze der neu und einheitlich auszuurteilenden
Jugendstrafe dar (vgl. Seiser in NSTZ 97, 374/375, Dallinger - Lackner zu § 31 JGG Rd. 26
m. N.). Diese nur noch wenig vertretene Ansicht verkennt jedoch, dass eben mit der
Einbeziehung der früheren Entscheidung diese im gesamten Rechtsfolgenausspruch ihre
Wirkung verliert und nunmehr eine einheitliche Sanktion selbständig und losgelöst mit
den neusten Erkenntnissen zu bestimmen ist (vgl. Ostendorf Kommentar zum JGG zu §
31 Rd. 20/21). Auch trägt diese Minderansicht dem Erziehungsgedanken im
Jugendstrafrecht nicht genügend Rechnung. Vielmehr fehlinterpretiert sie Zweck und
Funktion des das gesamte Jugendstrafrecht (vgl.: Schoreit in Diem/Schoreit/Sonnen
Kommentar zum JGG, 3. Auflage, 1999 zu § 31 JGG Rd. 14). So bedeutet Erziehung
regelmäßig nicht nur zu sanktionieren, sondern ggf. mittels Reduzierung und Milderung
der erfolgten Sanktion auch zu belohnen. Dies ergibt sich nicht nur aus dem über alle
Normen stehenden Erziehungsgedanken, sondern selbst direkt aus mehreren im
Jugendgerichtsgesetz durch den Gesetzgeber verankerten Rechtsbestimmungen.
So kann beispielsweise etwa bei einem positiven Bewährungsverlauf gemäß § 22 Abs. 2,
§ 28 Abs. 2 Satz 2 JGG die ursprünglich regelmäßig auf 2 Jahre bestimmte
Bewährungszeit nachträglich bis auf 1 Jahre verkürzt werden. Auch kann im Rahmen der
Verhängung von Zuchtmitteln aus erzieherischen Gründen auf die Vollstreckung
verzichtet werden. Unter Berücksichtigung der zuletzt genannten im
Jugendgerichtsgesetz verankerten Möglichkeiten, sowie darüber hinaus des Wortlautes
des § 31 Abs. 2 JGG, wo es eben heißt: "einheitlich auf Maßnahmen oder Jugendstrafe"
folgt das Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Bernau der herrschenden Lehre sowie
der ständigen Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs, dass bei Einbeziehung einer
verhängten Jugendstrafe eine völlige Neubewertung vorzunehmen ist. Insoweit bedarf es
zunächst regelmäßig der Prüfung, ob zum Zeitpunkt der nunmehr zu treffenden
Entscheidung noch schädliche Neigungen bei dem Angeklagten vorliegen.
Dies hat das Gericht aufgrund der zuvor ausgeführten Rechtsauffassung und der im
Verhältnis zu dem Verfahren vom 11.10.2006 wesentlich umfangreicheren
Beweisaufnahme erneut geprüft. Hierbei hat das Gericht nochmals die von dem
Angeklagten insgesamt begangenen Straftaten gewichtet. Es hat zunächst gesehen,
dass die von dem Angeklagten begangenen Straftaten in mehreren Fällen
Verbrechenstatbestände nach dem allgemeinen Strafgesetzbuches darstellen.
Andererseits zielte der Angeklagte regelmäßig auf geringe Beute. Auch war zu sehen,
dass die von dem Angeklagten begangenen Straftaten in einem überschaubaren
Zeitraum lagen und damit als episodenhaft einzuschätzen sind. Berücksichtigt werden
musste insoweit, dass die gegen den Angeklagten sodann durchgeführten
Strafverfahren sich hinzogen und dieser erstmals am 11.10.2006 durch die Autorität
eines Jugendstrafgerichtes in seinen Bahnen gewiesen wurde. Zuvor wurden alle
Verfahren gemäß § 45 JGG von der Staatsanwaltschaft beendet. Hinsichtlich der hier neu
zu beurteilenden Tat musste weiter gewertet werden, dass der Angeklagte zwar an einer
gefährlichen Körperverletzung teilnahm, diese jedoch spontan und aus einer besonderen
Situation heraus erfolgte. In Anbetracht dessen, dass der Angeklagte dann als einziger
vor Ort sofort dem Geschädigten half und sich bei diesem noch im Krankenhaus
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vor Ort sofort dem Geschädigten half und sich bei diesem noch im Krankenhaus
entschuldigte, reduzierte er die im Rahmen der von ihm zu vertretenden
Körperverletzung verwirkte Schuld, die bereits am unteren Ende der
Körperverletzungshandlungen liegt, noch weiter. Bereits vor der Hauptverhandlung vom
11.10.2006 versuchte er darüber hinaus Täter-Opfer-Ausgleiche durchzuführen. Sofern
das Jugendschöffengericht am 11.10.2006 schädliche Neigungen bejahte, dürfte dies
bereits an der Grenze der hierfür notwendigen Voraussetzung gewesen sein. Denn das
Jugendschöffengericht hat seinerzeit nicht gewertet, in welch schwierigen Umständen der
Angeklagte aufgewachsen ist. Es dürfte seinerzeit zu sehr pauschalisiert worden sein.
Wenn man nun aber noch das Verhalten des Angeklagten nach der am 11.10.2006
verhängten Jugendstrafe betrachtet, so zeigte sich der Angeklagte eben mustergültig. Er
trat nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung und hielt regelmäßig Kontakt zur
Bewährungshelferin und weiteren Stadteilsozialarbeitern. Er hat erkannt, welche Schuld
er bezüglich seiner Straftaten wie auch hinsichtlich der durch die Bleiberechtsregelung
entstandenen Probleme für seine Familie auf sich geladen hat. Er leistete weiter freiwillig
gemeinnützige Arbeitsstunden.
Das Gericht hat im hiesigen Verfahren feststellen müssen, dass der Angeklagte aus
einer sozial außerordentlich geschwächten Familie stammte und er durch Begehung der
Straftaten am "normalem" jugendlichen Konsum hatte teilhaben wollen. Deshalb beging
er die räuberische Erpressung zur Erlangung von Handys. Abschließend hat das Gericht
positiv gewichtet, dass seine letzte Tat 10 Monate und seine schwerste Tat sogar 17
Monate zurück liegt.
Unter nochmaliger Würdigung aller Umstände sowie der nunmehr in diesem Verfahren
ganz genau betrachteten Persönlichkeit des Angeklagten und seines Nachtatverhaltens
konnte das Gericht schädliche Neigungen im Sinne des § 17 JGG nicht mehr feststellen.
Das Gericht hat weiter geprüft, ob aufgrund der nunmehr festgestellten Tat bei einer
Gesamtbetrachtung des von dem Angeklagten insgesamt an den Tag gelegten
strafbewährten Verhaltens aus dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld gem. § 17
JGG Jugendstrafe zu verhängen wäre. Hierbei hat das Gericht nochmals alle für und
gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen. Zu
Lasten musste gewertet werden, dass der Angeklagte bereits vor der Verurteilung vom
11.10.2006 mehrfach in Erscheinung getreten ist. Des weiteren musste das Gericht
sehen, dass der Angeklagte Verbrechenstatbestände erfüllte und selbst nach
polizeilicher Vernehmung erneut Straftaten beging. Dagegen musste das Gericht aber
ins Gewicht setzen, dass der Angeklagte in beiden gegen ihn geführten Verfahren
vollumfänglich geständig war. Es musste sehen, dass hinsichtlich der
Verbrechenstatbestände es das Ziel des Angeklagten war, letztlich geringe Beute zu
erlangen. Des weiteren war zu beachten, dass die von dem Angeklagten letztlich zu
vertretenen Körperverletzungshandlungen keine besonderen Folgen für die
Geschädigten hatten. Außer Acht zu lassen war insoweit auch nicht, dass der Angeklagte
Täter-Opfer-Ausgleiche durchgeführt und darüber hinaus sich bei den Verletzten auch
persönlich und zwar im letzten Fall bereits direkt nach der Tat entschuldigt hatte. Es war
weiter zu sehen, dass der Angeklagte der hier festgestellten Tat sofort darum bemüht
war, Hilfe herbei zu holen. Schließlich hat das Gericht gesehen, dass der Angeklagte im
Vorfeld der hiesigen Hauptverhandlung noch freiwillig soziale Arbeitsstunden leistete.
Hiernach reduzierte er die von ihm zu vertretene Schuld, die allerdings nicht im Sinne
des § 17 JGG aus den zuvor ausgeführten Gründen als schwere Schuld zu sehen ist,
noch weiter, so dass es auch aus dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld nicht
geboten war Jugendstrafe gegen den Angeklagten zu verhängen.
Letztlich war gemäß § 31 Abs. 2 JGG unter Einbeziehung der Verurteilung vom
11.10.2006 auf eine einheitliche Maßnahme oder auf Jugendstrafe zu erkennen. Da die
Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe nicht vorliegen, war mithin mit einer
anderen Maßnahme im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes erzieherisch zu reagieren.
Insoweit war die Verhängung eines Zuchtmittels in Form einer Arbeitsauflage zum
gegenwärtigen Zeitpunkt ausreichend.
2.
Soweit die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihres Verurteilungsantrages die Verhängung
einer Einheitsjugendstrafe in Höhe von 10 Monaten, ausgesetzt zur
Bewährung, beantragt hat, war davon abgesehen, dass das Gericht schädliche
Neigungen nicht mehr feststellen konnte, aber auch aus weiteren hilfsweise
darzulegenden Gründen nicht zu entsprechen.
So hätte sich das Gericht vorliegend nicht in die Lage versetzt gesehen, gegen den
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So hätte sich das Gericht vorliegend nicht in die Lage versetzt gesehen, gegen den
Angeklagten eine Einheitsjugendstrafe gemäß § 31 Abs. 2 JGG zu verhängen. Nach dem
Willen des Gesetzgebers darf eine Jugendstrafe grundsätzlich dann nicht verhängt
werden, wenn sie zu schweren Schäden in der Entwicklung des jungen Menschen führen
würde. Dies zeigen bereits die Richtlinien zu § 17 JGG auf. Hier heißt es: "Jugendstrafe
darf nur verhängt werden, wenn andere Rechtsfolgungen des Jugendgerichtsgesetzes
nicht ausreichen. Sie soll in erster Linie der Erziehung dienen und darf deshalb mit der
Freiheitsstrafe nicht gleich gesetzt werden. Wenn aber die Verhängung einer
Jugendstrafe erzieherisch begründet werden muss, dann spielt es immer eine Rolle,
welche Wirkung die Verhängung derselben für den jeweiligen Angeklagten haben wird.
Hierbei hätte das Gericht berücksichtigen müssen, dass der Angeklagte bereits durch
die gegen ihn im Oktober 2006 verhängte Jugendstrafe eine im Verhältnis zu
vergleichbaren Sanktionen bei nicht unter ausländerrechtlichen Duldung stehenden
jugendlichen Straftätern außerordentliche und nach Auffassung des Gerichts
verfassungswidrige Härte erlitten hat. Nach dem Erziehungsgedanken des
Jugendgerichtsgesetzes muss eine jugendrichterliche Sanktion erzieherisch gestaltet
werden. Die Verhängung einer Jugendstrafe, die damit verbunden ist, dass einer
gesamten Familie die Möglichkeit unter die Bleiberechtsregelung zu fallen, genommen
wird, kann nicht mehr als erzieherisch positiv wirksam für den Jugendlichen angesehen
werden. Obwohl sie bei dem Angeklagten nicht direkt kontraproduktiv wirkte, hätte sie
zur Überzeugung des Gerichts auch negative Wirkung entfalten können. Ein Jugendlicher,
der damit leben muss, dass sein Verhalten seiner gesamten Familie die Möglichkeit auf
Aufenthalt, Zukunftsorientierung und Arbeit für den Vater nehmen kann, ist psychisch
enorm belastet. Er könnte gerade aufgrund dieser enormen psychischen Drucksituation
erneut Straftaten begehen. Abgesehen hiervon wäre er nicht nur vorüber gehend
psychisch belastet, sondern ein Leben lang. Die Folgen, nämlich der Umstand, dass
seine gesamte Familie nicht mehr unter die Bleiberechtsregelung fällt ist so erheblich,
dass eine Jugendstrafe gegen geduldete jugendliche Familienmitglieder nur noch in
absoluten Ausnahmefällen mithin bei schwersten Verbrechen verhängt werden kann. Die
Bleiberechtsregelung - soweit sie jugendrichterliche Verfahren berührt - hätte damit
kontraproduktive Wirkung.
Die in der so genannten Altfallregelung unter § 104 a Abs. 3 durch den Gesetzgeber
eingeführte und bereits in der Verwaltungspraxis praktizierte Mithaftung weiterer
Familienmitglieder bei Verurteilung zu Jugendstrafe, hat jedes Gericht zu beachten.
Ebenso den sich aus dem Strafgesetzbuch ergebenden Grundsatz, dass bei jeder
Strafzumessung die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters zu
erwarten sind, Berücksichtigung finden müssen (§ 46 Abs. 1 StGB). Es entspricht
allgemeiner Strafzumessungslehre, dass auch immer die Folgen einer Strafe für das
Umfeld des Angeklagten mit zu berücksichtigen sind. Jugendgerichte, die diese
Grundsätze ernst zu nehmen haben, dürften tatsächlich in Zukunft nur noch bei
schwersten strafrechtlichen Verhalten von unter Duldung stehenden Jugendlichen das
schärfste Mittel des Jugendgerichtsgesetzes, nämlich die Jugendstrafe, verhängen.
Der Gesetzgeber hätte mithin durch die Einführung der Haftung der Familie und der
Absicht junge Menschen, die unter Duldung stehen, letztlich strenger zu sanktionieren,
eine kontraproduktive Regelung herbeigeführt. Der bisweilen frühzeitige Schutz der
Bevölkerung eben auch durch Verhängung von Jugendstrafen gegen jugendliche
Ausländer könnte hierdurch in sein Gegenteil verkehrt werden. Dem
Jugendschöffengericht Bernau erscheint es insoweit denkbar, dass der Gesetzgeber die
hier aufgeworfene Frage jedenfalls im Zusammenhang mit der Arbeit der Jugendgerichte
nicht gesehen hat.
3.
Sofern das Gericht die Auffassung der Staatsanwaltschaft geteilt hätte, dass eine
Einheitsjugendstrafe zu verhängen gewesen wäre, hätte das Gericht vorliegend gemäß
Artikel 100 Grundgesetz das Verfahren aussetzen und dem Bundesverfassungsgericht
zur Entscheidung vorlegen müssen. Dies jedenfalls soweit zum Zeitpunkt einer
Entscheidung die Altfallregelung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und damit Gesetz
geworden wäre. Denn insoweit wäre die Frage, ob die Altfallregelung - hinsichtlich der
Einführung der "Sippenhaft" - verfassungswidrig oder verfassungsgemäß ist, auch für
eine hiesige Entscheidung im Sinne des Artikel 100 entscheidungserheblich gewesen. So
reicht es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für eine so genannte
Normenkontrollklage aus, dass die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines zur Überprüfung
gestellten Gesetzes nur ein Element für die Urteilsfindung des Gerichtes darstellt; das
Gesetz braucht nicht der alleinige Inhalt der Klage zu sein (vgl. BverfGE 6, 222, 231;
BverfGE 13, 97, 104). Dies wäre vorliegend der Fall.
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Denn das Gericht hätte sich außerstande gesehen gegen den Angeklagten selbst bei
Vorliegen der Voraussetzungen eine Jugendstrafe zu verhängen. Von einem
Jugendgericht zu erwarten, dass es letztlich eine Vorentscheidung zur Abschiebung einer
gesamten Familie trifft, die nicht einmal vor Gericht steht, die letztlich keinerlei Schuld
auf sich geladen hat, dürfte gegen elementare Grundsätze der Verfassung verstoßen.
Das Gericht hält die Altfallregelung hinsichtlich der mit ihr gewollten Auswirkungen auf
sämtliche weiteren Mitglieder der Familie für verfassungswidrig und hätte nur dann eine
Jugendstrafe verhängen können, sofern das Bundesverfassungsgericht diese Regelung
nach einer Vorlage gleichfalls für verfassungswidrig oder verfassungsgemäß erklärt
hätte. Dann nämlich hätte sich das Gericht nicht mehr an den nach hiesiger Auffassung
dargestellten verfassungswidrigen Folgen für den Angeklagten und seiner Familie
orientieren müssen.
Das Amtsgericht Bernau - Jugendschöffengericht - ist überzeugt von der
Verfassungswidrigkeit der so genannten Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 soweit bei
Verhängung von Jugendstrafe hierdurch ein Ausschlusstatbestand für sämtliche weitere
Familienmitglieder des Angeklagten herbei geführt werden soll. Diese Regelung verstößt
zur sicheren Überzeugung des Gerichts gegen das Grundrecht auf Menschenwürde
gemäß Artikel 1 GG, das Differenzierungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 GG und
stellt darüber hinaus einen Verstoß gegen Artikel 97 Grundgesetz dar.
a) Verstoß gegen Artikel 1 GG (Menschenwürde)
Nach Artikel 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt. Durch die Garantie der
Menschenwürde als unantastbarer, vor aller staatlicher Gewalt zu schützender Wert,
trafen die Grundgesetzgeber in Artikel 1 Abs. 1 GG eine elementare Grundentscheidung.
Im Rahmen der Verfassungsgebung waren die Inhalte, die sich mit dem Begriff der
Menschenwürde verbanden, in erster Linie durch die kurz zuvor erlebten
Unmenschlichkeiten der nationalsozialistischen Zeit geprägt. In dieser verloren die
Menschen ihren Achtungsanspruch und Millionen von Menschen wurden zu bloßen
Objekten herabgewürdigt. Unter anderem durch Diffamierung, Diskriminierung und auch
durch Sippenhaft. Infolge wurde die Garantie der Menschenwürde an die Spitze der
gesamten Verfassungsordnung gestellt. Sie stellt das Fundament der
Verfassungsordnung dar (vgl. Zipelius/Würtenberger 31. Aufl., 2005 zu § 21). Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Menschenwürde dann betroffen,
wenn der konkrete Mensch und damit auch der Mensch ausländischer Herkunft zum
Objekt, zu einem bloßen Mittel, zu einer vertretbaren Größe herabgewürdigt wird. Eben
dann, wenn die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes
vermissen lässt, der jeden Mensch um seiner selbst Willen zukommt (vgl. BVerfGE 87,
209, 228). So widerspricht es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
dem Grundgesetz, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen. Im Rahmen
der Strafrechtspflege hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich
gemacht, dass es zu unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen
Ordnung gehöre, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam,
unmenschlich oder erniedrigend sein darf (vgl. BVerfGE 72, 105, 115 ff.; 75, 1, 16 ff.). Im
Rahmen der Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage, auf
welche Art und Weise Menschen bestraft werden dürfen, insbesondere der Frage, ob
lebenslängliche Freiheitsstrafe auch bis zum Tode vollstreckt werden darf, hat das
Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich gemacht, dass die unverletzbare
Würde des Menschen als Person gerade darin besteht, dass er als selbstverantwortliche
Persönlichkeit anerkannt bleibt. So muss jede Strafe in einem gerechten Verhältnis zur
Schwere der Straftat und zum Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 109, 133,
170 ff.). Im Rahmen des mit Verfassungsrang ausgestatteten Schuldprinzips sind Täter
ausschließlich wegen ihrer persönlichen Schuld zu bestrafen und nicht darüber hinaus
mittelbar ihre Familienmitglieder.
Das Amtsgericht Bernau - Jugendschöffengericht - ist davon überzeugt, dass die hier in
Frage stehende Altfallregelung zunächst den Angeklagten bereits zum bloßen Objekt
degradiert und damit seine Menschenwürde, die selbstverständlich auch ein unter
Duldung stehender Jugendlicher hat, verletzt. Denn sofern das Gericht gegen den
Angeklagten eine Jugendstrafe verhängt hätte, hätte dies für den Angeklagten die
Wirkung zeitigen können, dass seine Familie nicht der Altfallregelung unterfällt und damit
aus der Bundesrepublik Deutschland ggf. hätte abgeschoben werden können. Er wäre
damit als zum Tatzeitpunkt 16-jähriger dafür verantwortlich gemacht worden, dass
seinen jüngeren Geschwistern wie auch seinen Eltern Rechte in der Bundesrepublik
Deutschland genommen worden wären. Seinen hier integrierten Geschwistern hätte er
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Deutschland genommen worden wären. Seinen hier integrierten Geschwistern hätte er
darüber hinaus bei Verhängung einer Jugendstrafe die Möglichkeit auf eine Zukunft in
der Bundesrepublik Deutschland genommen. Nach Auffassung des Gerichts hat dies
nichts mehr mit einer schuldangemessenen Strafe im Sinne eines Schuldstrafrechtes zu
tun. Vielmehr sieht das Gericht die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten
Grundsätze, dass eine verhängte Strafe nicht unmenschlich oder erniedrigend sein darf,
vorliegend im Falle der Verhängung einer Jugendstrafe für verletzt an. Denn die
Verhängung der Jugendstrafe gegen den hier Angeklagten kann immer nur im
Zusammenhang mit der sich hieraus resultierenden Folge, nämlich des
Ausschlussgrundes im Rahmen der Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 gesehen werden.
Einem 16-jährigen aufzuerlegen, diese Verantwortung für das Schicksal seiner Eltern und
Geschwister zu tragen, verstößt gegen Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz, da es zur
Auffassung des Gerichts unmenschlich und auch erniedrigend ist. Soweit darüber hinaus
durch die Verhängung einer Jugendstrafe mittelbar eben nicht nur der Angeklagte - wie
zuvor beschrieben - sondern eben auch seine Eltern und Geschwister betroffen sind,
würde die Verhängung einer Jugendstrafe auch gegen deren Recht auf Menschenwürde
verstoßen. Denn das Gericht würde mittelbar über das Wohl und Wehe von Menschen
urteilen, die nicht vor Gericht gestanden, keine Schuld auf sich geladen und darüber
hinaus hinsichtlich der Geschwister noch nicht einmal das elementare Recht gehabt
hätten, angehört zu werden.
Würde das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Jugendstrafe gegen den
Angeklagten verhängen, würde es, da es von der Verfassungswidrigkeit der
Altfallregelung überzeugt ist, gleichfalls gegen Artikel 1 Nr. 1 GG verstoßen. Denn die
Menschenwürde zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt,
mithin auch Verpflichtung des Jugendschöffengerichts Bernau.
b) Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 3 (Diskriminierungsverbot)
Artikel 3 Abs. 3 GG verbietet dem Gesetzgeber, Gesichtspunkte wie Geschlecht,
Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische
Anschauung als Differenzierungskriterien zu verwenden. Hierbei bezieht sich der Begriff
der Abstammung einfach auf die biologische Beziehung zu den Vorfahren. Mithin
zeichnet der Begriff der Abstammung letztlich Verwandtschaftsverhältnisse zwischen
Menschen. So bedeutet das Diskriminierungsverbot im Hinblick auf die Abstammung,
dass Kinder von Protestanten, Katholiken, Sinti und Roma, Juden, politischen Gegnern,
Nationalsozialisten, Kommunisten oder von Straftätern, wie auch von Flüchtlingen eben
wegen dieser Abstammung bzw. wegen dieses Verwandtschaftsverhältnisses keine
Benachteiligungen erdulden dürfen (vgl. v. Mangold-Klein-Stark, Kommentar zum
Grundgesetz Band 1, 5. Aufl. 2005, zu Artikel 3 Abs. 3 Rd. 385). Im Umkehrschluss
dürfen auch umgekehrt Eltern oder Geschwister lediglich aufgrund ihres
Verwandtschaftsverhältnisses keine Nachteile erdulden. In den Kommentaren zum
Grundgesetz wie zum Beispiel bei Maunz-Dürig zu Artikel 3 wird eine Differenzierung im
Hinblick auf die Abstammung regelmäßig als so genannte "Sippenhaft" bezeichnet (vgl.
u.a. Maunz-Dürig Kommentar zum Grundgesetz, 2007 zu Artikel 3 Abs. 3 GG Rd. 46).
Soweit der Gesetzgeber mithin lediglich aufgrund der Abstammung ungleiche Folgen
herbeiführt, so verstößt dies nach Auffassung des Gerichts gegen das
Diskriminierungsverbot des Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz. So wird zunächst der
Angeklagte im Falle einer Verhängung einer Jugendstrafe gegen ihn aufgrund der
mittelbaren Folge durch die dargestellte Altfallregelung ungleich härter sanktioniert als
vergleichbare Täter aus deutschen Familien oder mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis
versehener ausländischer Familien. Eine Jugendstrafe bedeutet für ihn - wie oben
dargelegt - seine engsten Familienmitglieder enorm in Mitleidenschaft zu ziehen. Es
bedeutet weiter, einem 16-jährigen die Verantwortung für das Schicksal seiner
gesamten Familie aufzuerlegen. Dies alleine aufgrund des Umstandes, dass er in eine
Familie hinein geboren wurde, die seit über 12 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland
lediglich geduldet wird. Weswegen der Gesetzgeber vorliegend zwischen unter Duldung
stehenden jugendlichen Delinquenten und deutschen jugendlichen Delinquenten
unterscheidet, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Da diese Ungleichbehandlung
einzig und allein auf der Abstammung beruht, ist sie damit als verfassungswidrig im
Hinblick auf das Diskriminierungsverbot zu werten.
Soweit das Gericht schließlich unabhängig von der Folgenbetrachtung für den
Angeklagten Jugendstrafe verhängt hätte, würde es mittelbar dafür verantwortlich
zeichnen, dass eine mit dem Diskriminierungsverbot aus Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 GG
verfassungswidrige Folge herbeigeführt würde. So hätte das Gericht mittelbar auch über
völlig unschuldige Geschwister des Angeklagten und seine Eltern und deren Zukunft zu
entscheiden. Dies alleine aufgrund der Abstammung bzw. des
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entscheiden. Dies alleine aufgrund der Abstammung bzw. des
Verwandtschaftsverhältnisses der zuvor genannten Personen. Es würde die Eltern und
Geschwister des Angeklagten faktisch mittelbar diskriminieren.
c) Verstoß gegen Artikel 97 Grundgesetz (richterliche Unabhängigkeit)
Die vorstehend angeführten Teile der Bleiberechtsregelung verletzen das Gericht in
seiner durch Artikel 97 Abs. 1 GG garantierten sachlichen Unabhängigkeit.
Das Grundgesetz garantiert der Rechtsprechung als sog. dritte Staatsgewalt sowohl
gegenüber der Legislative als auch der Exekutive, dass die Richter und damit auch die
kollegial verfassten einzelnen Spruchkörper ihre Tätigkeit im konkreten Fall ohne Einfluss
von außen, insbesondere der beiden anderen Staatsgewalten, ausüben können. So ist
es den anderen beiden Staatsgewalten untersagt, direkt oder nur mittelbar die
richterliche Entscheidung im konkreten Fall zu beeinflussen (vgl. Meyer in v. Münch
Kommentar zum Grundgesetz 3. Aufl. zu Art. 97 Rd. 7) Dies gilt nicht nur, aber wegen
der besonderen Auswirkung strafgerichtlicher Rechtsprechung insbesondere im Hinblick
auf die Strafgerichte. Diese sollen auf Grundlage der abzuurteilenden Tatbegehung nach
vom Gesetzgeber abstrakt bestimmten Strafvorschriften im einzelnen Fall und nur auf
der Basis des dem konkreten Tatvorwurf zugrunde liegenden Sachverhalts Strafbarkeit
und Schuld nach dem Schuldprinzip feststellen und die der Tat angemessene
Rechtsfolge bestimmen. Dabei sind sowohl der Schuldspruch als auch die im Strafurteil
ausgesprochene Rechtsfolge gleichrangige Teile der strafgerichtlichen Rechtsprechung.
Jeder Richter und damit auch jedes Kollegialgericht muss eigenverantwortlich und in
innerer Unabhängigkeit entscheiden, was nach seiner Einschätzung im Einzelfall "Recht
darstellt" (vgl. Clasen, Bonner Grundgesetz zu Artikel 97 Rd.8). Der Richter ist insoweit
nicht nur dem Gesetz sondern regelmäßig auch seinem Gewissen verantwortlich und hat
über die von ihm verhängte Rechtsfolge auch deren Folgen zu beachten.
Die grundgesetzlich garantierte Freiheit des Gerichts, von Einflüssen außerhalb der
Umstände des abzuurteilenden Sachverhalts freigestellt zu werden, wird jedoch dann
verletzt, wenn Exekutive und Legislative Regelungen treffen, die geeignet sind, rechts-
und verfassungswidrige Wirkungen zu erzielen, die das Gericht darin beschränken oder
daran hindern, eine dem einzelnen Sachverhalt angemessene Rechtsfolge zu setzen.
Solche Wirkungen liegen regelmäßig dann vor, wenn gesetzgeberisches oder
verwaltungsrechtliches Handeln dazu führt, dass Schuldspruch und Strafe quasi
automatisch nicht nur bezogen auf den konkreten Angeklagten, sondern darüber hinaus
bei an der abzuurteilenden Tat unbeteiligten Dritten zusätzliche, rechts- und
verfassungswidrige Rechtsfolgen, die in keiner Beziehung zum Angeklagten und seiner
Tat stehen, hervor rufen. Das Gericht ist dann nicht mehr frei, eine allein auf die Tat
bezogene angemessene Entscheidung zu treffen. Jedoch wird das Gericht nicht umhin
kommen und ist darüber hinaus dazu verpflichtet, dabei stets auch die weiteren
Rechtsfolgen außerhalb des abzuurteilenden Sachverhalts zu beachten. Es kann keine
tat- und schuldangemessene Entscheidung mehr getroffen werden, um eine rechts- und
verfassungswidrige Rechtsfolge zu vermeiden. Dies ist im Falle der vorstehend in dieses
Verfahren hinein wirkenden angeführten Altfallregelung gegeben. Selbst wenn - wie von
der Staatsanwaltschaft vorliegend beantragt; die Verhängung von Jugendstrafe
angemessen erscheinen würde, so könnte das Gericht diese nicht aussprechen, ohne
dass damit die übrigen Familienmitglieder gleichzeitig mit bestraft würden. Diese mit
den Prinzipien des Diskriminierungsverbotes und der Menschenwürde nicht in Einklang
zu bringende mittelbare Rechtsfolge einer Entscheidung führt zur Auffassung des
Jugendschöffengerichts Bernau dazu, dass das Gericht, selbst wenn es wollte und
müsste, an einer unabhängigen Rechtsprechung, die von Tat- und Schuldunrecht
geprägt ist, gehindert würde.
Obwohl das Gericht, wie oben ausgeführt, die auch in dieses Verfahren hinein wirkende
Altfallregelung im dargestellten Teil für verfassungswidrig erachtet, hat es sich allerdings
vorliegend nicht für befugt angesehen, das Verfahren zuvor gemäß Artikel 100 GG dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Denn vorliegend kam es
zunächst jedenfalls in diesem Verfahren nicht auf die Frage der Verfassungswidrigkeit
an, da das Gericht die Voraussetzungen für Verhängung von Jugendstrafe nicht
feststellen konnte und bereits deshalb die Verhängung derselben nicht erforderlich war.
Abgesehen hiervon lag zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung mangels Ausfertigung
durch den Bundespräsidenten und Verkündung im Bundesgesetzblatt noch kein Gesetz
i. S. d. Art. 100 GG vor, das zur Überprüfung dem Bundesverfassungsgericht hätte
vorgelegt werden können.
Unter Berücksichtigung all dessen, was der Angeklagte zwischenzeitlich erreicht hat
sowie der gesamten erzieherischen Einwirkung durch seine Familie, des Jugendgerichts
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sowie der gesamten erzieherischen Einwirkung durch seine Familie, des Jugendgerichts
und Sozialarbeiter, erachtete das Gericht es im Ergebnis für ausreichend, dem
Angeklagten lediglich eine Arbeitsauflage in Höhe von 60 gemeinnützigen
Arbeitsstunden auszusprechen. Weitere erzieherische Maßnahmen sind nicht mehr
angezeigt.
Es bleibt noch anzumerken, dass mit dieser Entscheidung das nunmehr einbezogene
Urteil des Jugendschöffengerichts Bernau vom 11.10.2006 nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes im Rechtsfolgenausspruch seine Wirkung verliert (vgl. BGH St 37,
34 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 74 JGG.
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